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Jom Kippur-Krieg 1973: Der Psycho-Sieg

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Über Ursachen und Folgen des Oktoberkriegs des Jahres 1973. Ein Text aus dem FURCHE-Navigator.

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Über Ursachen und Folgen des Oktoberkriegs des Jahres 1973. Ein Text aus dem FURCHE-Navigator.

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Die inzwischen geschichtlich genügend erhärtete Lehrformel, daß der Ausgang mancher Schlacht bereits den Keim für den nächsten Waffengang birgt, findet im vierten Nahostkrieg ihre Bestätigung. Das Diktat von Versailles konnte einen neuen Krieg in Europa nicht verhindern, wie auch die Genfer Vietnam-Vereinbarungen nur vermochten, dem zähen Ringen in Indochina eine kurze Atempause zu gewähren. Selbst wenn die Schmach einer Niederlage noch nicht endgültig am Verhandlungstisch besiegelt ist, sitzt sie tief im Körper, gleich einer schwärenden Wunde. Der Stachel der totalen Niederlage des Jahres 1967 war der beißende Eiter im arabischen Fleisch; und solche Wunden verhalten sich selten nach den Regeln der Medizin.

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Für viele kam der neuerliche Waffengang überraschend; möglicherweise selbst für das Kabinett in Jerusalem. Die Araber schlugen zu einem Zeitpunkt los, da sich vielerorts der Wind zu ihren Gunsten zu drehen begann. Warum gingen die Araber dennoch jetzt zur Offensive über?

Äußerer Zwang war kaum im Spiel. Weder Moskau noch Washington konnten eine neue Auseinandersetzung wünschen. Aber vielleicht liegt gerade darin ein Schlüssel zum Geheimnis des arabischen Angriffs. Eine andere Frage bleibt, warum man in Israel, trotz nachträglich bestätigter nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, über ein arabisches Eingreifen nicht die geringsten Vorkehrungen traf. Exakt wird dies sicher erst später aufzuklären sein. Bislang sprechen bloß Indizien dafür, daß die Regierung Meir nicht nur unter dem Zwang der bevorstehenden Parlamentswahlen und einer sich in letzter Zeit für die israelische Sache verschlechternden Weltoptik stand.

Unbeweisbare Pressionen könnten die Amerikaner ausgeübt haben. Dem zunehmenden Druck der arabischen Ölscheichs ausgesetzt, war die Politik Henry Kissingers vermehrt von dem Gedanken getragen, Israel von allen Schritten abzuhalten, die eine Entspannung im Nahen Osten gefährden könnten. Bestimmend für diese Haltung Washingtons mag aber eine ähnliche Fehleinschätzung der arabischen Kampfkraft gewesen sein, wie sie auch zweifellos von den israelischen Militärs angestellt wurde. Die Kritik in diesem Punkt trifft wohl in erster Linie Mosche Dayan. Seine Haltung, mit der gesamten Regierung gegen eine frühzeitige Mobilmachung zu stimmen — obwohl Generalstabschef Elazar rechtzeitig dem Kabinett die Kunde brachte, daß die Familien russischer Berater in Syrien evakuiert würden —, war zweifelsohne von einer falschen Beurteilung der arabischen Stärke getragen.

Daß Dayan einen neuen Waffengang für unabdingbar hielt, ist genügend bekannt. So mochte ihm daran gelegen sein, daß die Araber losschlugen. Die politische Entscheidung, auf die traditionelle Vorwärtsstrategie zu verzichten, wird möglicherweise in den Endabrechnungen fehlen. Vom Überraschungseffekt und vom Angriffsschwung profitierten dieses Mal die arabischen Armeen. Sie erwiesen sich dabei als konsequente Schüler ihres gehaßten Vorbildes. War es am 5. Juni 1967 die ungewöhnlich späte Morgenstunde, die Kairos Luftwaffe am Boden versammelt traf, war es am 6. Oktober 1973 die späte Nachmittagsstunde, die Israels Wacht am Suezkanal beim Wäschewaschen überraschte. Und als es am Kanal dunkel wurde, konnten die Ägypter im Schutz der Nacht ihre Brückenköpfe festigen.

Innerhalb dieser wenigen Stunden starb ein Mythos. Was immer im Nahostkrieg noch geschehen mag, sieht man von einer Einnahme der beiden Hauptstädte Kairo und Damaskus ab, der Schrecken der israelischen Überlegenheit gilt im arabischen Lager nicht mehr. Die Beiruter Zeitung „L'Orient“ schildert treffend diese Stimmung: Was immer geschieht, selbst wenn die arabischen Armeen sich zurückziehen müssen, die Aktionen der ersten Oktobertage radieren alte Demütigungen aus.

Neue arabische Situation

Um das arabische „Wunder“ verstehen zu können, ist eine Rückblende auf die Katastrophe im Sechstagekrieg notwendig. Denn soviel steht bereits heute fest, man hat vor allem am Nil aus den Fehlern von 1967 gelernt. Die Hilfestellung der Sowjets zu diesem Vorhaben war nicht unbekannt. In ihren Auswirkungen übertrifft sie dennoch alle Vorstellungen. Viel wichtiger als die materielle Neuaufrüstung der auf Sinai fast völlig aufgeriebenen ägyptischen Streitkräfte ist jene psychologische Entwicklung zu beurteilen, die die arabische Offizierskaste mit ihren Soldaten verschmelzen ließ. Mag sein, daß erst die Sowjetberater den Ägyptern „sozialistische“ Beispiele gaben.

Während im Sechstagekrieg der Prozeß der Desintegrierung und der Demoralisierung unter den ägyptischen Soldaten bereits angesichts der drohenden Vernichtungsschläge des Gegners einsetzte, geben nun sowjetische Luftabwehrraketen trotz erster Rückschläge das nötige innere Korsett. Auch hat die Niederlage in der arabischen Welt fähige jüngere Kräfte an die Spitze gebracht. Syriens politischer Führer, der frühere Luftmarschall Assad, war es, der den Sowjets,, die Armada von MIG-21 abtrotzte.

Ägyptens Kriegslast ruht in erster Linie auf den Schultern der beiden strategischen Planer Ismail und Schasli. Hafes Ismail, der Sicherheiteberater des ägyptischen Präsidenten, war bisher eher durch seine diplomatischen Aktionen bekanntgeworden. Als Mann der Disziplin hat Schasli mit Mißständen aufgeräumt, die für das Versagen des Jahres 1967 verantwortlich waren. Die 1972 durchgeführte Übernahme des sowjetischen Rüstungsgerätes in die direkte ägyptische Kontrolle war der letzte Schritt von Sadats Strategie, deren Gehilfen die beiden Obengenannten sind.

Die Niederlage der Araber 1967 war auch eine Niederlage sowjetischer Waffen.

Konnte man noch 1967 auf Grund des israelischen Erfolges sagen, daß Unterlegenheilt an Quantität durch Qualität des Potentials von Menschen bis zu einem gewissen Grade wettgemacht werden können, so muß man sich nun eingestehen, daß Israel eben jenen Grad erreicht hat, in dem der quantitative Vorsprung nicht mehr wettzumachen ist. Auch wenn die Großmächte distanziert das Spektakel des Ringens zwischen Arabern und Israelis betrachten, der Umstand ist nicht zu leugnen, daß dieser Krieg eine Konfrontation westlichen und östlichen Kriegspotentials ist.

Die Niederlage der Araber 1967 war auch eine Niederlage sowjetischer Waffen. Die ägyptischen Anfangserfolge der Oktobertage sind Erfolge erhöhter Präzision, Vernichtungskraft und geringerer Anfälligkeit der sowjetischen Rüstungsgüter. Was unterhalb von Preßburg zum wiederholten Male auf dem Wasser der Donau geübt wurde und zur Entwicklung modernsten Brückengerätes führte, erlebte am Suezkanal seine Feuertaufe. Die Ägypter erwiesen sich als gelehrige Schüler ihrer Lehrmeister im Pontonbrückenbau.

Sowjetische Tanks, wegen ihrer technischen Anspruchslosigkeit in großen Stückzahlen zu produzieren, schafften jene starken arabischen Panzerheere, die bislang noch nicht mit der überlegenen Feuerschnelligkeit der westlichen Tanks vollends auszuschalten waren. Israels Luftwaffe, wenngleich seit dem Sechstagekrieg durch das Spitzenmodell des amerikanischen Flugzeugbaues, dem doppelsitzigen Phantom-Bomber, aufgerüstet, war bisher weniger im Kampf mit den arabischen ! | MIGs beschäftigt. Die Hauptsorge der jüdischen Piloten gilt in erster Linie der Gefahr, die von den russischen Luftabwehrraketen droht. Moskaus Raketen, bereits um Hanoi ein tödlicher Feind amerikanischer Flieger, sind auch jetzt der eiserne Abwehrgürtel an der Suez-Front. Erst unter ihrem Schutz konnten die Brücken vorangetrieben werden.

Sie waren es auch, die jegliches Unterbinden des ägyptischen Nachschubs durch Israels Luftwaffe verhinderten. Ihre Beweglichkeit — inzwischen wurde eine bisher noch nicht genaue Zahl von Raketenbatterien an das östliche Ufer des Kanals gebracht — zementiert auch voraussichtlich die Patt-Situation am Kanal. Selbst wenn es den Israelis gelingen sollte, Kräfte von der Nordfront abzuziehen, muß ihr Einsatz in der Kanalschlacht noch keine Wendung bedeuten. Erst eine Ausschaltung des feindlichen Raketenwalls kann jene Überlegenheit zur Luft bringen, die 1967 den Sinai-Waffengang entschied.

Nach dem Anfangsschock hat sich heute in Israel sogar eine Art Erleichterung eingestellt. Es ist die Erleichterung darüber, nicht mehr länger die Rolle von Leuten spielen zu müssen, die sich immerwährend Überlegenheit vorgaukeln. Dieser Umstand ermöglicht auch so manches Eingeständnis. Der israelische Geheimdienst war möglicherweise derart mit der Guerilla-Bekämpfung beschäftigt, daß er der arabischen Aufrüstung zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Die neuen Grenzen des Sechstagekrieges befreiten Israel vom System einer ständigen Alarmorganisation, die die Armee innerhalb der alten Grenzen noch aufrechterhalten mußte. Trotz einer für unsere Begriffe enorm kurzen Dauer der Mobilmachung sah sich Israel erstmals vor die Situation gestellt, gegen drei und mehr Tage Vorsprung an Bereitschaft der Araber ankämpfen zu müssen.

Husseins Probleme

Das entscheidende Element des Sieges bei den israelischen Blitzkriegen war die kühne strategische Idee. Der arabische Angriff erlaubt diesmal nur eine Gegenreaktion. Doch läßt die israelische Gegenoffensive auch jene geistige Brillanz vermissen, die auf jüdischer Seite bisher kennzeichnend war. Die Reaktivierung der alten, erfahrenen Kämpfer ist möglicherweise mehr als ein psychologischer Schritt.

Der Kampf an beiden Fronten ist in eine Abnützungsschlacht übergegangen. Dies ist aber genau jene Kampfform, die sich nur die Araber, nicht die Israelis erlauben können. Für Israel mag wohl die erste Gefahr nun gebannt sein. Für den Konflikt selbst steht das Risiko einer Ausweitung noch bevor. Bei aller bisher gezeigten Solidarität 'bleiben zwischen den arabischen Ländern erhebliche Gegensätze. So ist für die innere Sicherheit der Feudalstaaten Saudi-Arabien, Jordanien und Marokko der arabische Nationalismus, der durch diesen Krieg beträchtlichen Auftrieb erhält, gefährlich. Dennoch sind gerade sie es, die ein großes Interesse daran haben müssen, durch einen Erfolg in eigener Sache Präsident Sadat an der Macht zu halten, denn Sadat ist im Grunde ein Konservativer. König Hussein kann aber nicht nur an Sadat, er muß auch an sich denken. Ehe er eine dritte Front gegen Israel aufmacht und damit sein Land für palästinensische Freischärler und die Truppen des revolutionären Baath-Regimes des Irak öffnet, stellt er sich außer Landes an die arabische Seite; denn fremde Truppen haben es möglicherweise mehr auf ihn als auf die Israelis abgesehen.

Vorerst warten die Politiker in den Hauptstädten der Schutzmächte und im Forum der UNO auf das, was die Soldaten für jede Seite als Faustpfand einbringen. Solange es scheint, daß der Konflikt begrenzt gehalten werden kann, liegt der Ehrgeiz in Moskau und Washington bloß darin, den Sieg des eigenen Verbündeten sicherzustellen. Solange man aber die Waffenarsenale immer wieder neu auffüllt, wird auch dieser Krieg nur eine Zwischenrunde bleiben.

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