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Die hohen Zinsen für den Frieden

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Der Abschuß der libyschen Verkehrsmaschine über der Wüste Sinai durch israelische Jäger hat einmal mehr den Nahostkonflikt in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gestellt.Über den Abschuß der libyschen Maschine mag man denken wie man will: gleichgültig, ob die Tat ein leichtfertiger Übergriff der israelischen Militärs war oder begründete Furcht vor Kami-kaze-Taten der Araber —der Nahostkonflikt rriuß wieder auf den Verhandlungstisch der Großmächte und der Beteiligten.Nach dem Vietnam-Waffenstillstand haben der amerikanische Sicherheitsberater wie der US-Außenminister und der sowjetische Ministerpräsident die Dringlichkeit einer Lösung zum Ausdruck gebracht. Etwa deshalb, weil die Arabische Liga in ihrer letzten Sitzung neuerlich die Bildung eines gemeinsamen Oberkommandos angekündigt hat — das Arges befürchten läßt?

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Der Abschuß der libyschen Verkehrsmaschine über der Wüste Sinai durch israelische Jäger hat einmal mehr den Nahostkonflikt in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gestellt.Über den Abschuß der libyschen Maschine mag man denken wie man will: gleichgültig, ob die Tat ein leichtfertiger Übergriff der israelischen Militärs war oder begründete Furcht vor Kami-kaze-Taten der Araber —der Nahostkonflikt rriuß wieder auf den Verhandlungstisch der Großmächte und der Beteiligten.Nach dem Vietnam-Waffenstillstand haben der amerikanische Sicherheitsberater wie der US-Außenminister und der sowjetische Ministerpräsident die Dringlichkeit einer Lösung zum Ausdruck gebracht. Etwa deshalb, weil die Arabische Liga in ihrer letzten Sitzung neuerlich die Bildung eines gemeinsamen Oberkommandos angekündigt hat — das Arges befürchten läßt?

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In Jerusalem nimmt man diese Einheitsfront noch nicht allzu ernst. Sie mag ein diplomatisches Mittel sein, um den erwarteten, und von Ägypten zumindest seit Abzug der 18.000 russischen „Berater“ erbetenen „Druck“ der USA auf Israel zu beschleunigen. Zweck dieses Druckes wäre selbstredend Israels Verpflichtung zur Räumung aller 1967 eroberten Gebiete (mit höchstens „kleinen“ Grenzberichtigungen), als Vorbedingung für jede „Teilregelung“, sei es mit Ägypten, sei es mit Jordanien.

In Israel gibt es eine kleine Minderheit, die dergleichen befürwortet: die moskautreuen Kommunisten (mit drei Abgeordneten im Parlament, davon zwei Araber), und die Neue Linke mit zwei Abgeordneten. Alle anderen Parteien lehnen die Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen ab. Fünf Forderungen scheinen unabdingbar, und werden in verschiedenen Tonarten seit fünf Jahren von allen Regierungssprechern wiederholt: Jerusalem muß ungeteilt, samt seinen 70.000 „Nicht-juden“, Israels Hauptstadt bleiben — Exterritorialisierung der christlichen Heiligtümer und jordanische Hoheitsrechte über den Tempelberg, mit Aksa-Moschee und Felsendom, will Israel zugestehen.

•Die 1250 Quadratkilometer auf den Golanhöhen mit den Jordanquellen müssen bei Israel verbleiben, um die Sicherheit des Jordantales zu gewährleisten. Über Rückgabe des Hauptortes Kuneitra an Syrien ließe sich reden.

•Der Gazastreifen, etwa 300 Quadratkilometer, muß bei Israel verbleiben. In arabischer Hand wäre er eine ständige Bedrohung für den ganzen Süden.

•Die Westküste des Golfes von Akaba, 200 Kilometer lang, mit Israels neuem Kriegshafen Scharmesch-Scheich (jetzt auf Ophir hebräi-siert) wird nicht an Ägypten zurückgegeben. Durch einen nicht näher definierten Streifen (von dem angedeutet wird, daß er am Mittelmeer diesseits von El-Arisch, der Hauptstadt der Sinaihalbinsel, die bei Ägypten bleiben würde, beginnt) soll er mit Israel territorial verbunden

werden. Begründung: Zweimal hat Ägypten, feierliche internationale Verpflichtung brechend, Israels Weg zum Roten Meer bei Scharmesch-Scheich gesperrt, so daß Israel keine bloßen Garantien mehr akzeptieren kann.

• Schließlich verlangt Israel „Sicherheit“ gegen eine Erneuerung des Krieges. An der ägyptischen Front sind dafür zwei Bedingungen gegeben: Erneuerung der internationalen Schiffahrt im Kanal (mit Gleichberechtigung für die israelische Flagge) und Demilitarisierung und (oder) Neutralisierung jenes Teils der Sinaihalbinsel, den Israel räumen würde. An der jordanischen Front käme eine begrenzte Demilitarisierung (Verbot von Panzern und Artillerie westlich des Jordans) und das Verbleiben israelischer Detache-ments am Jordan in Betracht.

Das sind die Mindestforderungen, hinter denen 95 Prozent der Wähler stehen. Unterdessen aber geht in Israel eine erbitterte innerjüdische Diskussion über die eroberten Gebiete vor sich. Gerade weil keine Aussicht auf baldige Verständigung mit den Nachbarstaaten besteht, streiten die jüdischen Politiker untereinander darüber, wie Israel eigentlich seine Zukunft planen soll. Nichts was bei Friedensverhandlungen möglicherweise erreichbar ist, steht im Vordergrund der Debatte, sondern was als Politik auf lange Sicht erwünscht ist. Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Es gibt Minimalisten, den „Tauben“ der USA vergleichbar, die „Eroberungen“ ablehnen und nicht wollen, daß Juden über Araber „herrschen“. Viele Jugendliche der radikalen Linken hegen „Schuldgefühle“ gegenüber der arabischen Minorität und beeinflussen die Mehrheit der „linken“ Koalitionspartei des „Mapam“ (7 von den 63 Abgeordneten des Blocks Arbeits-partei-Mapam), die deshalb auch gegen jeden Vorschlag zur Gründung neuer Siedlungen jenseits der Vorkriegsgrenze stimmen. Das hat allerdings nicht gehindert, daß 50 solcher Wehrdörfer neu entstanden sind und ein halbes Dutzend weiterer bewilligt wurde.

Im schärfsten Gegensatz zum Mapam stehen die große Oppositionspartei „Gachal“ mit 26 Mandaten und zwei kleinere Parteien mit zusammen sechs Mandaten. Aber auch die religiösen Parteien mit 18 Abgeordneten gehen in der Forderung, „keinen Fußbreit Boden“ aufzugeben, mit der Opposition Hand in Hand. Für sie ist die biblische Verheißung zugleich ein religiöses Gesetz: Israel sei zwar nicht verpflichtet, Gebiete zu erobern, aber schon eroberten Boden Kanaans dürfe es nicht wieder räumen. Von den 120 Abgeordneten der Knesset sind somit 50 gegen jeden Rückzug; zehn jüdische und sechs arabische Abgeordnete sind für weitgehenden Rückzug; 50 Arbeitsparteiler und vier Liberale suchen einen Kompromiß, der auch für Washington und Moskau annehmbar wäre.

Unter dem dabei angestrebten „jüdischen Charakter“ des Staates wird vor allem eine ganz überwiegende jüdische Mehrheit verstanden, aber auch die Bewahrung des zionistischen Ideals von der „Normalisierung“ des jüdischen Menschen. Dazu gehört, daß Juden alle, auch die schwersten und schlechtest bezahlten körperlichen Arbeiten verrichten und sie nicht von anderen besorgen lassen. Beides sei in Gefahr, sagt die Mehrheit der Arbeitspartei und die Regierung in Jerusalem, wenn Israel alle eroberten Gebiete behält. „Stellen Sie sich eine Knesset vor, in der ein arabischer Block von 40 Abgeordneten sitzt“, rief einmal Sapir aus. Der Arbeitsminister Almogi warnte: „Schon heute arbeiten 50.000 bis 60.000 Araber der neuen Gebiete in Altisrael; sie sind in den Orangenplantagen, dem Baugewerbe und sogar in vielen Industrien unentbehrlich geworden. Sogar die Kibbuzim, die programmäßig jegliche „Ausnützung“ fremder Arbeitskraft ablehnen, nehmen schon arabische Tag-löhner auf. Wenn das so weiter geht, werden die Juden in Israel wieder, wie früher in der Diaspora, die körperliche Arbeit Fremden überlassen — und das wäre das Ende des zionistischen Traumes!“

Aus diesen Argumenten zieht man verschiedene Schlüsse. Die äußerste Linke: keine Annexionen, auch nicht des Gazastreifens. Die Mehrheit der Arbeitspartei: der Gazastreifen ist aus militärischen Gründen unentbehrlich und eine Minderheit von 23,3 Prozent NichtJuden sei für den „jüdischen Charakter“ noch erträglich. Mehr aber nicht.

Daraus folgt, daß die Gruppe um Sapir, zu der Außenminister Abba Eban gehört, bemüht ist, soviel von Arabern besiedelte Gebiete Joszuwerden als nur möglich. Für dieses Ziel gibt es zwei Pläne: Den Allon -Plan und den Plan Dayans. Beide haben gemeinsam: Die Wüste Juda und die regenarmen Gebirgshänge östlich der Wasserscheide des Gebirges Ephraim samt der Jordansenke, beide menschenleer, mögen in israelischer Hand bleiben und durch Wehrdörfer längs der Grenze gesichert werden. Beide wollen auch im Gazastreifen und auf dem Sinai jüdische Dörfer anlegen.

Der Unterschied zwischen Allons und Dayans Plänen beginnt bei der Frage, was mit den 640.000 Westjordaniern geschehen soll. Allon glaubt an die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens mit König Hussein. Dayan glaubt nicht an Hussein als möglichen und dauerhaften Partner. (Ebenso Golda Medr.) Dayan nimmt an, daß der gegenwärtige Zustand — kein Krieg und kein Frieden — noch viele Jahre dauern wird. Diese Zeit müsse ausgenützt werden, um Israels Stellung in den neuen Gebieten auszubauen. Dazu genügten „Wehrdörfer“ keineswegs, vielmehr müßten große Städte im neuen Gebiet angelegt werden. „Für einen wahren Frieden bin ich bereit, auf sehr viel Gebiet zu verzichten“, sagte Dayan. „Aber ein wahrer Friede ist in abesehbarer Zeit nicht zu erwarten. Daher muß man die Wartezseit ausnützen.“

Es gibt noch eine dritte Richtung in Israel. Sie schlägt vor, den neuen Gebieten Selbstbestimmungsrecht zu gewähren. In der Praxis würde das heißen: Schaffung eines Pufferstaates, der (so hoffen die Vetreter dieses Gedankens) „eine Brücke zu den anderen arabischen Staaten schlagen könnte“. Niemand, in der jetzigen Regierung ist für diesen Plan. Vor allem deshalb, weil die Araber Ostjerusalems oder Galiläas ja auch Selbstbestimmung verlangen und damit den Bestand Israels gefährden könnten.

Wichtig bei all dem ist aber, daß die Demographie Israels von Auswanderung und Einwanderung abhängt. Bei den Arabern der neuen Gebiete gab es eine nennenswerte Abwanderung nach Jordanien; seit der Volkszählung vom September 1967 etwa 88.000 Seelen. Dank dieser Abwanderung sank der Prozentsatz der Araber in „Groß-Israel“ von 36,9 auf 35,5 Prozent im August 1972. Es gibt übrigens eine ganz kleine Partei, die „jüdische Verteidigungsliga'“ des bekannten Rav Kahane, die unter den Arabern Propaganda für die Auswanderung treibt und Emigranten Unterstützung verspricht.

Auch bei den Juden gibt es eine ständige Auswanderung. Vor 1967 betrug sie etwa 10.000 Seelen im Jahr, seither 6000 bis 8000; insgesamt verlor der Staat seit seiner Gründung 170.000 bis 180.000 Juden durch Abwanderung.

Die Hauptsache aber ist die jüdische Einwanderung. (Nebenbei bemerkt: es gibt auch eine nicht geringe nichtjüdische Einwanderung; 1972 aliein wurde 5700 Arabern, hauptsächlich Christen, die Rückkehr gestattet.)

Die jüdische Einwanderung aber ist weitgehend die Resultante der politischen Situation Israels. Seit 1967 wuchs der Zustrom von Jahr zu Jahr: Der Migrationsuberschuß betrug:

19673.2001970 32.500

196812.9001971 34.300

196931.8001972 49.000

1972 kamen 57.000 Einwanderer. Für 1973 erwartet man 60.000 bis 70.000. Ihre Zahl hängt hauptsächlich davon ab, wie viele der bei den Sowjets um Ausreise ansuchenden 180.000 Juden dazu die Erlaubnis erhalten. 1972 waren es ihrer 34.000.

Unter diesen Umständen braucht Israel keine Angst vor dem demographischen Problem zu haben — sagen die Optimisten. 1967 lebten vom Hermon bis zum Suezkanal 3,760.000 Menschen, und die Juden hatten damals eine Mehrheit von 988.000 Seelen. Ende August 1972 hatten sie (unter 4,214.000 Einwohner) schon eine Mehrheit von 1,220.600. So lange die Einwanderung andauert, wird diese Mehrheit ständig wachsen. Aus Angst vor dem demographischen Problem braucht Israel keinen Rückzug aus den okkupierten Gebieten zu planen — sagen die Optimisten, zu denen offenbar auch Dayan gehört.

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