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Endstation für Ahasver

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DAS FLUGZEUG WIEN-TEL AVIV der israelischen Fluglinie El-Al ist startbereit. Seit Wochen ist jeder Platz belegt. Aber nur wenige Flugplätze gingen an Vergnügungs- und Geschäftsreisende. Das Flugzeug ist voll von außergewöhnlichen Fluggästen: Männer, Frauen und sehr viele Kinder, deren Kleider, deren Züge und Bewegungen das Merkmal von Flucht und Emigration tragen: Juden aus allen Ostblockstaaten, die über mögliche und fast unmögliche Wege das Asyl des neutralen Oesterreich erreichen konnten. Von hier starten sie zur letzten Etappe einer Reise, die nun schon 2000 Jahre währt.

„Wir führen einen Zweifrontenkrieg", sagt. Weißbrod, Direktor der El-Al in Wien. „Die Front gegen die Araber ist verhältnismäßig leicht zu halten. Die zweite Front, im Innern des Landes, ist schwieriger. Der Kampf an dieser Front ist vielleicht der härteste, den jemals ein Land zu führen hatte: Es geht um die Unterbringung aller Juden, aus allen Ländern der Erde, die in Israel Einlaß suchen; vor allem natürlich der Verfolgten. Gegen die Araber brauchen wir Waffen. Für die Unterbringung der Millionen, die noch kommen werden, müssen wir alles einsetzen; jeden Platz in unseren Flugzeugen, auf unseren Schiffen — unsere Kraft und unsere Seelen “

In Israel selbst, auf israelischem Boden, fühlt man es in jeder Sekunde: Hier wird ein Haus gebaut — und es kann gar kein sehr geräumiges werden —, in dem einige Familien bereits wohnen, aber für Hunderte noch Platz geschaffen Wird, die kommen werden und die kommen müssen. Täglich ziehen neue in den unfertigen Bau ein. Sie stecken ihre Fläche ab und legen Hand an, um für die nächsten Platz und Lebensraum zu schaffen. „Israel hat keine Existenzberechtigung mehr und Israel muß ersticken, wenn einmal die Tore geschlossen werden müssen und es steht noch ein einziger Jude draußen, der Einlaß begehrt.“ Das sind die Worte eines führenden israelischen Politikers, des Abgeordneten Dr. Junitschmann.

100.000 „Olim", das heißt „ins heilige Land AüfgeStifgehe"! Werden Ift 'diesem Jahr' nach Israel kommen. In fünf Jahren sollen Os drei Millionen sein und in zehn Jahren sieben Millionen Menschen, die zu den zwei Millionen dazukommen, die 1956 auf diesen 35.000 Quadratkilometer israelischem Boden lebten.

„600.000 Menschen werden im südlichen Negev wohnen“, sagt Ben Gurion, „der heute die Wüste Araba ist. Aus dem Boden der Wüste werden sie alle Erze fördern, die der Nahe Osten und der Mittlere Osten brauchen." Heute leben kaum 5000 in dieser Wüste Araba und in der Hafenstadt Eilath. die das Tor Israels nach Asien und Afrika werden soll.

Aus allen Richtungen kommen sie; Einsame, die nach den großen Liquidationen in Europa übriggeblieben sind, und Familien biblischer Größe aus Nordafrika. Sie tragen die Trachten vieler Völker; sie sprechen fast alle Sprachen dieser Erde; sie sind tiefgläubig oder kämpferische Atheisten; von den Verfolgungen Gebrochene oder im Selbstbehauptungskampf Gestählte; mit unendlich vielen, unendlich verschiedenen Vorsätzen, Zielen und Träumen kommen sie; an jedem der 365 Tage des Jahres Alle Gegensätze der Erde bringen sie auf die 3 5.000 Quadratkilometer, die heute Israel sind. — Das Land der Gegensätze, das einen Teil seiner Kraft und seines Auftrages aus diesen Gegensätzen und aus ihrer Verschmelzung schöpft.

„AUF ADLERSFLÜGELN ...“ sangen tausende Juden, die 1951 auf einem Wüstenflugplatz warteten, als die großen Vögel sich senkten, um sie aufzunehmen. Mehr als 2000 Jahre hatten sie im Jemen gelebt; isoliert von allen Zweigen des Judentums, beten, singen und tanzen sie wie zur Zeit des Alten Testaments.

Von den Arabern im Jemen in feudale Leibeigenschaft und Dienstbarkeit gepreßt, war dieser verlorene Stamm der Juden 1951 durch ein zwischenstaatliches Abkommen zwischen Israel und dem Jemen befreit worden. Aus den Elendsgassen der jemenitischen Wüstenstädte, aus den Stadtvierteln generationenalter Knechtschaft, aus den Kellergewölben arabischer Manufakturen waren sie auf die Wüstenpiste getrieben worden. Die meisten hatten nie vorher ein Flugzeug gesehen. Doch sie erkannten den Stern Davids auf den großen Vögeln aus Metall, und sie hatten keine Furcht. Als sie israelischen Boden betraten, begannen einige von ihnen den Psalm zu singen, der für die Ankunft des Messias bestimmt ist.

Die Hostess hilft eines der vielen Kinder umpacken. Dann setzt das Flugzeug in Ludd bei Tel-Aviv zur Landung an. Ein alter Jude, der nach 18 Jahren Sibirien über Polen und Wien nach Israel reist, sagt „Endstation“. Er sagt es ohne große Begeisterung wie einer, der nach einer langen Reise an einem Ort ankommt, von dem er nur eines weiß: Hier ist endgültig Schluß, von hier geht es nicht weiter. Gut oder schlecht, es muß zur Heimat;werden.

DAS DACH DER „NEGBAH" ist schwarz von Flüchtlingen aus Marokko. Sie sind sehr ruhig, seit der Hafen von Haifa, sich am Horizont abzeichnet. Sie stehen an der Reeling, Patriarchen, Frauen, unzählige Kinder, und sie halten den Atem an

Die „Negbah" ist ein altes Schiff, und sie braucht lange, bis die Anlegemanöver ausgeführt sind. 3000 neue Einwanderer, Juden aus den entlegensten Dörfern Marokkos, aus den Bazaren und Gettos Nordafrikas sind angekommen und drängen an Land. Aber der alte Rabbi Zarun aus Kebili. der unter den Juden Tunesiens, Algeriens und Marokkos im „Geruch steht, ein Wunderrabbi zu sein, läßt sich Zeit. Er wartet lange und muß vom Schiffspersonal dazu gedrängt werden, ehe er seine Bündel aufnimmt und an der Spitze seiner 13köpfigen Familie den Laufsteg in den Hafen hinabsteigt.

Auf einem Lastauto wird er mit seiner Familie und vielen anderen in die Siedlung gebracht, in der. sie zu Hause sein werden. Graue Asbesthütten auf graslosem Grund, zwischen unendlichen Getreidefeldern und der Steinwüste. Jedem wird sein Haus zugewiesen; zwei Räume und eine Küche für eine große Familie von 7 bis 13 Menschen. In der Küche liegen zwei Hühner, gerupft und vorbereitet für die Bratpfanne, einige Flaschen Milch, Gemüse, Obst und Kartoffeln. Genug für den ersten Tag. Während der Rabbi und die Kinder aus dem Siedlungslager die Möbel holen — einige Bettgestelle, Decken und, einen T:sch —, bereitet die ..Rcbezin das erste MaH vor. Es ist gar nicht sehr lustig, dieses erste Mahl in der grauen Baracke, die auf dem graslosen Steingrund steht. Aber nach dem Essen geht der Rabbi, um eine leerstehende Baracke zu finden, die das Bethaus werden soll; und der älteste Sohn wird von einem früher Eingewanderten abgeholt, um den Traktor führen zu lernen. Die Jüngste wird in den Kindergarten geholt und kommt abends mit einer Puppe heim. Traktoren und Puppen hatte es nicht gegeben, wo die Familie des Rabbi bisher lebte.

Auf Lastautos werden die Ankommenden zu ihren Zielen gebracht. Die Siedlungen liegen in der Berglandschaft des Gallil, im Getreidemeer des nördlichen Negev, in der steinernen Mondlandschaft der Wüste zwischen Beer Sheba und Eilath. Es kann sich keiner aussuchen, wo sein Haus stehen soll. Wo eine neue Siedlung gebaut wurde, wird es sein, wo Häuser fertig sind, wo Menschen gebraucht werden. Man kann nicht vom „Schicksal der Olim“ sprechen, genau so wenig, wie man von der „Vergangenheit der Olim“ sprechen kann. Es sind zu viele, die täglich einwandern. Sie kommen aus zu verschiedenen Vergangenheiten und treten in Israel in völlig verschiedenartiges Leben. Ganz anders sieht die Zukunft des Emigranten aus Oesterreich aus, der am See Genezareth zum Fischer wird, als das Leben des marokkanischen Juden im sonnendurchglühten Negev.

DIE FISCHER AM SEE GENEZARETH fahren an jedem Tag um 7 Uhr abends aus und kommen erst morgens in den Fischereikibbuz zurück. Es sind zwei kleine Boote mit zusammen neun Mann Besatzung. Sechs davon sind aus Oesterreich, zwei aus Polen. Der Führer der Nächtschichtgruppe im Fischereikibbuz ist Rochanan Welisch, 'Schneider aus Gra£.' ‘; s:'

Sie fischen über den warmen Quellen, wo Petrus seinen Fischzug tat. Hüben ist Israel, drüben Syrien. Aber beide Ufer des großen Sees sind unsichtbar, denn es ist sehr dunkel in den Nächten auf dem See.

„Der Nachtfang ist reich, am reichsten über den warmen Quellen. Es ist eine älte Weisheit, an die wir angeknüpft haben", sagt Rochanan Welisch. „Ich kam vor neun Jahren aus Oesterreich, mitten im Krieg mit den Arabern. Die syrischen Soldaten lagerten am rechten Ufer dieses Sees und unsere Truppen am linken. Sie beschossen einander, aber wenn nur einige Stunden Ruhe war, liefen wir aus, um zu fischen. Ich war der erste aus Oesterreich an diesem See. Die anderen sind später gekommen. Ein Handelsakademiker, ein USIA-Kaufmanh, ein Anwalt und Berufslose. Jetzt — wer von ihnen ist etwas anderes als ein israelischer Fischer am See Genezareth?“

Um 12 Uhr nachts kommt ein kleines Fischerboot als Verstärkung. Ein Jude aus der Türkei steuert es, zwei Juden aus Aegypten und einer aus Südamerika sind die Besatzung. Es ist sehr still auf dem See, denn die Fische sind heute so schwer zu fangen wie zu Petrus’ Zeiten. Aus der Kapelle, die am Ufer steht, dringt der Schein des ewigen Lichts. In den Fischerbooten der Juden schimmern die Leiber der Fische und die Läufe der Gewehre und Maschinenpistolen. Um sechs Uhr morgens fahren sie zum Kibbuz zurück. Sie essen in der großen Gemeinschaftshalle auf hölzernen Bänken und von hölzernen Tischen das Frühstück und gehen dann schlafen. „Es fassen wenige hier Wurzel. Die meisten weht der Wind wieder in die Städte. Aber die hier Wurzel fassen, wissen, daß es endgültig ist und für die kommenden Generationen", sagt Rochanan Welisch.

Aber da sind noch andere in Israel. Großhändler aus Rumänien, die den Boulevards von Tel-Aviv ihren Stempel aufdrücken. Deutsche Juden aus Kleinstädten, die sich in ihren Wohnungen die Illusion eines deutschen Bürgertums aus der Weimarer Zeit aufgebaut haben. Sie sind die Kehrseite. Sie sind nach Israel gedrängt worden und leben dort in ewiger Emigration, in dem Land, das ihren Kindern bereits Heimat ist. Sie sind sehr einsam, denn sie verstehen das Land nicht und wollen cs auch nicht verstehen. Ihre Kinder aber sind im Land aufgegangen. Im Getriebe der Hochschulen, in der Gemeinschaft der Armee, der Siedlung und des Kibbuz.

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