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Zwischenspiel abendländischer Verwirrung

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London, 15. April 1948 Unaufhaltsam wie die Sandkörner eines Stundenglases verrinnen die Wochen, Tage und Stunden, die uns noch von jenem Datum des Kalenders internationaler Sorgen, dem 15. Mai 1948, trennen, da der Bürgerkrieg im Heiligen Land sich nach seinem eigenen Gesetz von Blut und Rache wird ungehemmt entfalten können.

Noch,wird die Ruhe in Jerusalem nur von Einzelaktionen unterbrochen, gelegentlich machen sich auch die Scharfschützen von Mekor Haim und dem oberen Kato- man bemerkbar, oder das Aufbellen eir.es Maschinengewehres am Stadtrand zeigt an, daß bereits um die Zugänge zur See, ohne welche die jüdische Gemeinde der Stadt ebenso verdorren müßte wie das Warschauer Ghetto, gekämpft wird.

Bald aber kann all das zu dem großen Orkan der Zerstörung werden; dann wird er auch über die Sicherheitszonen des König-David-Hotels, des Postamtes und

Bahnhofs hinfegen, in denen sich bisher noch freundliches Leben und argloses Beisammensein erhalten hatte, kostbarem Glaswerk gleich, das eine zerbrechliche Vitrine inmitten zerstörter Behausung noch umhegen kannte.

Allein noch mehr: Auch über die heiligen Stätten dreier Glaubensbekenntnisse wird dann der Kampf hinwegfluten. Die Klagemauer wird vielleicht vorrückenden Stoßtrupps Deckung gewähren, die große Moschee von Harem esh Shariff, nach jüdischer Überlieferung an dem Platz des alten Tempels erbaut, ein oder das andere Mal ihren Besitzer wechseln, und es wird die Grabeskirche ins Kampfgebiet einbezogen werden. Oder glaubt man, daß jene verzweifelte Menschheit, die entweder selbst den Ghettos und Lagern Europas entronnen ist oder solch Schicksal in martervoll-naher Deutlichkeit nachgelitten hat und sich nun an dieses Stück palästinensischer Erde mit der verzweifelten Kraft eines Versinkenden anklammert, irgendwo das Maß finden wird, wenn es zu dem Zu- sammenstoß mit dem Fanatismus der Wüste kommt? Einem Fanatismus, hinter dem man, gleichsam aus der Staubwolke der zu Omdurman anreitenden Derwische aufsteigend, das gnadenlose Bild des Mufti erblickt, in dessen Zügen weder Lächeln noch Verzeihen wohnt.

Bäumt sich angesichts solcher Möglichkeit der abendländische Ordnungswille auf? So tief ist der Fall unserer Welt, so leergebrannt nach dem Abtreten der falschen Propheten die Herzen, daß selbst jene, denen die Geschehnisse in Palästina etwas bedeuten, von diesem Zerrbild eigener Verwirrung und Zerrissenheit, zur gleichen Zeit beschämt und angewidert, nicht die Kraft finden, Einspruch zu erheben. Doch in den mittelländischen Häfen herrscht lebhaftes Treiben, Kolonnen militärischer Fahrzeuge bewegen sich auf den Küstenstraßen, Truppentransporte passieren die JEnge von Gibraltar! All dies gilt jedoch nur den freundlichen jungen Männern aus den schottischen Tälern, den Industriebezirken der Midlands oder den Walliser Hügeln, die auf Befehl der englischen Regierung, das Land bis zum 15. Mai werden verlassen haben; dort, wo einmal der Streit um den Vorrang an der Sturmleiter ging, wird heute nur mehr ob des Datums der Heimkehr gewürfelt

Und das ist das zutiefst Bedrückende der Situation, das den Glauben, letzten Endes könnte es zu all dem ja doch nicht kommen, ernstlich erschüttert: der Abzug der britischen Truppen ist nun tatsächlich im Gang, die Streitkräfte werden schwächer und schwächer, um im letzten Stadium gerade noch imstande zu sein, die eigenen Verbindungslinien, Baracken und Depots zu sichern. Selbst wenn die dänischen und norwegischen Kontingente, mit denen die „Jewish Agency", in einem Moment plötzlicher Nüchternheit, die englischen Soldaten zu ersetzen vorgeschlagen hat, zur Einschiffung bereitstünden, könnte ein Moment gefährlicher Schwäche für die Ordnungskräfte kaum mehr vermieden werden. Indes hat man sich über ähnliche Maßnahmen bisher nicht einigen können und sich nur darüber verständigt, daß es nun wieder einmal am Platze wäre, an die Mächte einen Appell za richten; was denn auch der amerikanische Präsident wie der britische Hochkommissar getan haben.

Der Wunsch Englands, diesen Außenposten militärischer Verpflichtungen zu liquidieren, ist mehr als verständlich. Zu dem Verlust an Menschenleben, den Presseangriffen und der offenen und schädigenden Feindseligkeit des Judentums gesellt sich die peinliche Erinnerung an jene Kette sich einander widersprechender Zusicherungen,

die mit dem Schreiben des Generalresidenten in Kairo an den Scherif von Mekka begann, mit dem berühmten Brief Balfours seine Fortsetzung fand, Lawrence von Arabiens Leben verbitterte und nicht sympathischer wurde, seitdem Washington in das Spiel eintrat.

Die Geschichte scheint darauf aus zu sein, an Palästina immer von neuem ihre Lektionen zu demonstrieren: den Bankrott seiner Macht- und Opportunitätspolitik.

Jetzt bleibt für Europa nichts als warten. Banges Warten: djmn werden gleichgültige Namen an unser Ohr klingen, Namen von Brücken, Straßen, Dörfer und Toten, Namen, die uns nichts bedeuten können. Und vielleicht wird plötzlich- etwas Erschütterndes, Aufrüttelndes geschehen, das die allgemeine Apathie durchbricht, in den Herzen der Menschheit die Geneigtheit erzeugt, aus dem engen Kreis materieller Sorgen in größere Weite vorzu- stoßen und in der abendländischen Krise nicht nur das Defizit an Kohle, Strom, Wolle und Nahrungsmittel zu erkennen, sondern die Degeneration geistiger Werte, die ihren Anfang genommen.

Kann es nicht etwa geschehen, daß eine der kämpfenden Parteien eines Tages mit- teilen wird, die Linie entlang von Jericho hätte zwar gehalten werden können, Bethlehem aber sei verlorengegangen?.,.

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