6548177-1947_27_02.jpg
Digital In Arbeit

Der umgekehrte 144

Werbung
Werbung
Werbung

Der Gegenwart haftet eine bedauerliche Humorlosigkeit an. In diese Bresche springt ein im Selbstverlag des Verfassers erschienenes Heftdien von 32 Seiten, „ 144 StG. oder Kampf der Vermehrung?“ Als Verfasser zeidinet ein Wiener Rechtsanwalt. Der überwiegende Teil des Büchleins ist mathematisdier Humor. Allerdings ein unfreiwilliger. Zunächst sozusagen, nur akademisch, wird er starker Tabak in der Schlußfolgerung: „Die größte Gefahr für die Menschheit bildet nicht Mord noch Totschlag, sondern Vermehr u n g.“ „Sollen daher künftige Kriege wirksam verhindert werden, so muß die Frage der Vermehrung für die ganze Welt einvernehmlich geregelt werden.“ — Der Verfasser denkt sich das folgendermaßen:

„Das kommende österreichische Strafrecht und in der Folge das kommende Strafredit der gesamten Welt aber wird, wenn es den friedlichen Fortbcstand der Menschheit sichern soll, das Verbot der Fruchtabtreibung aufheben und Bestimmungen an seine Stelle setzen müssen, die etwa für Österreich zu lauten hätten:

1. Jedem Menschen wird das (natürliche und angeborene) Recht auf Fortpflanzung als Ausdruck seines Rechtes zu dauernder Selbsterhaltung verfassungsmäßig gewährleistet.

2. Da ein Großteil der Menschen von diesem Recht nicht Gebrauch madien kann oder will, wird zwecks dauernder Selbsterhaltung des gesamten Volkes jeder Frau (bis zu einer anderweitigen gesetzlichen Regelung) das Recht zuerkannt, vier Kinder zur Welt zu bringen.

3. Über diese Zahl hinaus bedarf jede Frau einer behördlichen Bewilligung, die unter Bcdacht-nahme auf Vorleben und Gesundheit der Antr-agstellerin, ihres Mannes und ihrer Kinder erteilt werden kann, sofern die Bevölkerung acht Millionen nicht überschritten hat.

4. Eine Frau, die-bereits Mutter von vier im Leben befindlichen Kindern ist und ohne die hiezu erforderliche Berechtigung ein weiteres Kind gebärt, ist df! Vergehens der Vermehrung schul-d i g. Der Schuldspruch vertritt den Ausspruch über die Strafe.

5. Im Wiederholungsfall ist auf zwangsweise Unfruchtbarmachung zu erkennen.“

Dann erst — so schließt der Verfasser — könnte die „gute, alte Zeit“ wiederkehren, von der uns „Eltern und Großeltern wehmütig erzählen“: „die Zeit um etwa 1850, da auf Erden nicht etwa 2,1 Milliarden, sondern nur 1,1 Milliarden Mensdien gelebt haben“. „Diese Zeit aber... würde in Verbindung mit den sozialen und technischen Errungenschaften unseres Jahrhunderts eine bessere neue Zeit, ja, das goldene Zeitalter selbst darstellen!“

Auf den ersten Blick könnte man glauben, es sei da ein aus den-Fugen geratener, bisher unbekannter neuer Malthus aus dem 18. Jahrhundert wieder zum Leben erwacht, Aber die Broschüre ist neueste Marke 1947 und der Verfasser bezeichnet sich als Rechtsanwalt. Und dieser schreibt also, wie angeführt, in einem Zeitalter des erschreckenden Tiefstandes der Geburtsrate, das die Bevölkerungspolitiker der meisten Länder sorgenvoll auf Mittel gegen das Verdorren der Volkskraft, gegen den „Weißer Tod“ ausschauen läßt. Einem Völkerdrama“ gegenüber schrieb der Mann eine Burleske. Was es doch alles in unserer Wienerstadt im 20. Jahrhundert gibt!

Mai 1940. Im Bombenhagel der deutschen Stukas, unter dem furchtbaren Druck von Hitlers Panzerdivisionen weicht dl-; belgische Armee, tapfer fechtend, gegen die Kanalküste zurück. Rundum ist die Lage verzweifelt, die britischen und französischen Heere in größter Bedrängnis. König Leopold, Oberbefehlshaber der belgischen Armee und Oberhaupt seines Volkes, noch ganz anders verantwortlich für Blutopfer, die nutzlos wären, verständigt den britischen Verbindungsoffizier, Admiral K. f e s, von der Hoffnungslosigkeit weiteren Widerstandes und dieser erwidert die schicksalhafte Nachricht mit dem Ausdrucke vollen Verstehens und ritterlicher Bewunderung über die tapfere Haltung der belgischen Truppen. König Leopold und sein Heer strecken die Waffen und werden in deutsche Gefangenschaft gebracht. Indessen trifft beim britischen Ministerpräsidenten ein Telegramm des französischen Propagandaministers ein: „Verhindern Sie umjedenPreis dieVerteidigung König Leopolds durch Admiral K e y e s.“ In der Nacht vom 27. zum 28. Mai 1940 läßt Reynaud den belgischen Ministerpräsidenten Pierlot aus dem Schlaf wecken und teilt ihm mit, er könne angesichts der Kapitulation der belgischen Armee nur dann die in Frankreich lebenden Belgier vor der Volkswut retten, wenn Pierlot eine den König verurteilende Erklärung verlautbare. In dieser Zwangslage, in einer Weltuntergangsstimmung, mangelhaft informiert, verlieren die belgischen Politiker die Nerven und gehorchen. Nur Außenminister Spaak tritt mannhaft für den zu Unrecht Verfemten ein. Der unfaire Propagandatrick hat den bereits schwer angeschlagenen französischen Heeren keinen neuen Kampfgeist einflößen, das Schicksal nicht mehr wenden können. Aber dieses vorgebliche Urteil, von scheinbar kompetenten eigenen und alliierten Stellen gefällt, heftete sich an König Leopolds Fersen. Vergeblich, daß der unglückliche Herrscher alle Pressionen Hitlers ablehnt, einen Sonderfrieden zu schließen. Als Belgien befreit war und alle anderen belgischen Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurückkehrten, wurde dies König Leopold verwehrt und unter dem Bruder des Königs, Prinz Charles, ein Regentschaftsrat eingesetzt.

König Letpold erbittet, ja fordert eine Untersuchung seines Verhaltens durch eine von beiden Teilen paritätisch ernannte Kommission hervorragender Juristen. Die Frage gerät in die Mühle der Parteipolitik, die christlichen Demokraten, vor allem die Flamen, stehen zum König, die Sozialisten verurteilen ihn. Ein langes Tauziehen hebt ah. Endlich, da die belgische Regierung es ablehnt, ernennt der König ein? aus den bedeutendsten belgischen Wissenschaftlern, luristen - und Würdenträgern zusammengesetzte Kommission, der er sämtliche in seinem Besitze befindlichen Dokumente und Briefe zur Prüfung übergibt. Dieses, nach seinem Vorsitzenden Servaes Kommission genannte Forum gab nun in einem 543 Seiten umfassenden Weißbuch einen Bericht heraus, der König Leopold vor seinem Volke und der Geschichte vollständig freispricht. Dieses Weißbuch würde vor einigen Tagen allen maßgebenden belgischen Staatsmännern vorgelegt.

Es ist noch nicht ausgemacht, daß deswegen dem König volle Genugtuung zuteil wird. , Seine bisherigen strengen Gegner von der radikalen Linken haben noch nicht die Frage beantwprtet, wie ihre Anklage etwa gelautet hätte, wenn der König trotz der völligen Aussichtslosigkeit der Lage an jenem schrecklichen Maientage die belgische Armee der drohenden Vernichtung überliefert hätte. Kein Zweifel: er wäre dann erst recht angeklagt worden. Man sieht, Könige haben es nicht leicht. Zuweilen haben sie unbedingt unrecht, so oder so.

Ein Verlust von drei Millionen Menschen, der für die Tschechoslowakei durch die Räumung ihrer Randgebiete von ihrer deutschen Bevölkerung entstand, kann nicht so leicht ersetzt werden. Wohl führte der Glaube an mühelos zu erwerbende Reichtümer, der nach dem Umsturz im Jahre 1945 durch Monate hindurch weite Teile des tschechischen Volkes ergriffen hatte, Tausende von Menschen in diese Bereiche. Aber diese ,.Goldgräber“, wie sie im tschechischen Volk genannt wurden, sahen sich bald enttäuscht. Die neue Arbeit, in rauher Gegend, auf kargem Boden behagte den meisten nicht In kurzer Zeit wanderten Tauseiide ' wieder in das Innere des

Landes zurück, verschwanden oft, ohne ein Wort zu sagen, von ihren Posten.. Langsam entstand im Südetenland ein Vakuum: die Deutschen zogen aus dem Land, die Tschechen ins Innere des Landes. Die tschechoslowakische Regierung machte Anstrengungen, neue Siedler zu finden. Die Propaganda unter den Auslandstschechen, namentlich in Wien, versagte. Dann tauchte der Plan auf, Volkssplitter aus der Slowakei anzusiedeln. Aber auch dieser Plan brachte nur geringe Erfolge. Die Städte im Sudetenland wurden immer leerer — eine Stadt wie Saaz, die einst 18.000 Einwohner zählte, sank auf 600 herab. Da entschloß sich die tschechoslowakische Regierung zu einem radikalen Schritt: Um die Besiedlung einiger Teile des Sudetenlandes zu sichern, schuf sie sogenannte Sperrzonen, in denen niemand sich mehr niederlassen darf, damit andere Gebiete besser besiedelt werden können. Die Zeitung „Cesko-slovensky SveV' veröffentlicht in Nummer 9/10 die erste Liste dieser Orte, die künftig für neue Einwanderung „tabu“ sind. Im ganzen handelt es sich um 225 — zweihundertfünfundzwanzig — Gemeinden, und zwar:

Bei diesen 225 Gemeinden handelt es sich vorwiegend um Landstriche, in denen das Leben besonders hart für die Bewohner war. In ihrer Mitte war vielfach die Glas-, Porzellanindustrie, die Spielzeugheimarbeit, die Musikinstrumentenerzeugung und die Spitzenklöppelei zu Hause, Industrien, die den Reichtum und den Stolz Böhmens bildeten. Aus 225 Gemeinden sind alle Bewohner fort und neue dürfen keine mehr kommen. Die Häuser werden verfallen, die Äcker verschwinden, über die Wege wird Gras wachsen. Nur in dem majestätischen Rauschen der Wälder wird es noch hie und da sein, als ob ein fernes, vom Winde verwehtes Lied erklinge von den Menschen, die einst dort lebten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung