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Flüchtige Kunst nach strengen Regeln

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Ballett, definiert der Autor am Anfang des dritten Teiles (mit dem man am zweckmäßigsten die Lektüre dieses Büchleins beginnt), ist mehr als Tanz allein; es ist eine Summierungskunst, deren charakterisierender Bestandteil neben Musik, Dramaturgie, Bildnerei, Kostümkunst und Mimik der Tanz ist. Die Geschichte und Aesthetik diese Kunst ist genau so reich und verzweigt, wie etwa die der Literatur, nur schwerer fixierbar. Denn der Schauspieler hat immerhin einen bestimmten Text vor sich, an dem es letzten Endes nicht .Viel zu interpretieren, sondern lediglich „auszudrücken" gibt. Der Tänzer hat die Partitur und die „Choreographie", deren Verwirklichung eine Fülle von Varianten zuläßt. Auf alle diese Bestandteile und die vielen Imponderabilien war ein halbes Leben lang die ununterbrochene Aufmerksamkeit von O. F. Regner gerichtet, der als führender deutscher Ballettkritiker nicht nur die Theorie, sondern, aus unzähligen Aufführungen, auch die Praxis des Balletts kennt. Das bereits erwähnte dritte Kapitel vermittelt dem Leser die Elemente und Grundbegriffe des „klassischen" Balletts, zu dessen Schönheitsideal sich der Autor weniger durch programmatische Erklärungen als durch die Auswahl des Stoffes und die Setzung der Akzente bekennt. Er befindet sich damit in der besten Gesellschaft, und die überraschende Renaissance des klassischen Balletts, die wir etwa seit 1945 erleben, gibt ihm recht. Dessen letzte große Epoche begann 1909 mit Diaghilews erstem Gastspiel in Paris. Seither sind Russen und Franzosen in dieser Kunst führend. Der zweite Teil des Büchleins erzählt mit vielen unbekannten und pikanten Details, die Heroen- und Leidensgeschichte dieser Ensembles. In neuerer Zeit sind England und Amerika mit bedeutenden Beiträgen an die Seite der beiden klassischen Ballettländer getreten; für alle übrigen Länder genügte dem Autor eine Uebersicht von 30 Seiten, was den realen Verhältnissen entspricht. Von der Hierarchie des Corps de ballet und seinem Training sowie den kulturhistorischen Hintergründen der wichtigsten choreographischen Schöpfungen bis zu den Personalia der großen Tänzer weiß der Autor anscheinend — alles. Man wünscht daher seinem interessanten Werk — so hübsch das vorliegende Büchlein auch sein mag :— eine erweiterte Ausgabe in größerem Format mit vielen Bildern, wenigstens hundert. (Die -16 ganzseitigen Tafeln sind gut ausgewählt, wirken aber wie ein Aperitif.)

Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. Dritte Folge. Erster Band. Bergland-Verlag, Wien. 179 Seiten.

Erstmals erschien das Jahrbuch für 1890 mit Datum des folgenden Jahres — am 21. Jänner 1889 war die Grillparzer-Gesellschaft gegründet worden. Im Vorstande bekannte Namen: Freiherr von Berger, Sauer, Wilbrandt, von Dumba, Lewinsky und Reich; im Schiedsgericht saßen Frankl und Speidel, das erste Ehrenmitglied hieß Bauernfeld; zehn Jahre später steht ein Prolog von Saar in den Mitteilungen. Sie haben nach großen Leistungen (man begann 1890 mit Briefen von und an Grillparzer) dann der zweiten Folge des Jahrbuches Platz gemacht, die im Kriege unterging. Nun, da die Gesellschaft wiedererstand, gehört das Jahrbuch dazu. Die vorliegende Folge besitzt in der Studie über Grillparzers „Friedrich der Streitbare" von Ida Castle, einer sorgfältigen, philologisch profunden Arbeit, ihren Hauptwert. Zur Bibliographie, welche Vancsas Verzeichnis von 1937 bis Ende 1952 fortführt (von O. Paul Slrau- binger, University of California), wäre — da die Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze während des Krieges so ausführlich gegeben werden — eine ebensolche Führung auch nach 1945 angezeigt gewesen. Bei Holzer (Seite 87) ist bei den Personal- und Werkdaten allerhand ausgeblieben: daß er für „Iustitia", 1941 entstanden, den Grillparzer- Preis, für. „Gute Mutter" den Bauernfeld-Preis erhielt; es fehlen auch sonst fast alle Entstehungszeiten: „Frühling" (1901), „Kohlhase" (1905), „Stille Musik" (1914) — von der eine Probe abgedruckt ist.

Die Zeit Konstantins des Großen. Von Jacob Burckhardt. Bibliothek der Weltgeschichte. Verlag G. B. Fischer. 432 Seiten. 9.80 DM.

Ein Werk wie dieses mag in vielen Einzelheiten überholt sein, ja, man wird vielleicht die Gestalt der dargestellten Persönlichkeiten heute in einem anderen Lichte sehen wie der Autor. Trotzdem wird es seinen Wert behalten. Man liest in unseren Tagen diese erste größere Arbeit des jungen Jacob Burckhardt um seiner Kunst willen — als Zeitgemälde — und begrüßt es, daß sie (in unveränderter Ausgabe) neu vorgelegt wird. Die beigegebenen Illustrationen sind mit großer Sorgfalt ausgewählt. Carl Peez sich in ihrer September-Oktober-Nummer, das hohe moralische Kapital des tschechoslowakischen Staatsgründers von 1918, Thomas G. Masaryk, in den Dienst der Kampagne gegen eine theoretische Einigung der tschechoslowakischen Emigration mit den Sudetendeutschen in Deutschland zu stellen, wenn sie schreibt:

„In Masaryks ,Weitrevolution’ stehen an der Spitze des Kapitels 112 diese Worte: ,Bei der Beurteilung und Bewertung politischer Geschehnisse und einzelner historischer Aktionen und Taten geht es letzten Endes um die Tendenz, um den Plan, um Ueberzeugung und Triebkräfte von Individuen, Parteien und Nationen, die’ Geschichte machen. Es genügt nicht, nur die äußeren Tatsachen und Details zu registrieren und sich mit dem Resultat zu begnügen.’ Die Schmerzlichen Folgert einer politischen Tat zu kennen und dennoch zu handeln, erfordert großen sittlichen Mut. Aus verschiedenen Möglichkeiten, die eine zu wählen, die das geringste Uebel ist, bedeutet ein moralisches Urteil auszusprechen, dessen Richtigkeit riur auf der Waage der vergangenen und der künftigen Geschichte gewogen werden kann. Die tiefgehende Veränderung in der nationalen Zusammensetzung der Tschechoslowakischen Republik, Zu der es nach dem zweiten Weltkrieg gekommen ist, gehört zu jener Kategorie von politischen Taten; die das Gericht der Geschichte nicht zu fürchten haben . . . Die Geschichte wird, bei korrigierbaren Unrichtigkeiten in den Details, der Tendenz, dem Plan und der Ueberzeugung recht geben, wenn die Tschechoslowaken -selbst sie nicht verlassen. In ultimis war diese Tat keine Rache, keine Strafe für irgend jemanden, sondern der einzige Weg, um nach allen Erfahrungen das Leben und die Freiheit der Tscherchoslowaken im eigenen Staate und den Frieden in Mitteleuropa zu sichern. Die Gewichtigkeit dieses Glaubens ist auch trotz der zeitweiligen sowjetischen Herrschaft gültig. Es liegt an uns, diesen Glauben zu erfüllen: wir werden ihn aber nicht erfüllen, wenn wir ungläubig, schwankend und schwach oder gar feig und verräterisch sind." ‘

In der gleichen Nummer der „Tribuna“ führt Vlastislav C h a 1 ü p a, der leitende Kopf der Redaktion, in einem Artikel „Der Nationalitätenstaat“ aus:

„Das Volk ist ein Faktor, der im Widerspruch zum Mechanismus der Demokratie steht, weil .dieSe auf der Voraussetzung gleichberechtigter Bürger beruht. Eine natipnale Gruppe, die sich im Staate zahlenmäßig in der Minderheit befindet, hat keine Hoffnung, ihre politischen nationalen Ideale durchzusetzen, und darum begnügen sich ihre Mitglieder nicht mit der bürgerlichen Gleichberechtigung gegenüber den Bürgern der nationalen Mehrheit, sondern verlangen Gleichberechtigung für ihr Volk als ganzes. Si&;. wollen, daß ihr Volk als Einheit an der Bestimmung des Inhaltes der Staatspolitik den gleichen Anteil habe wie das Mehrheitsvolk. Dies aber ist, konsequent durchgeführt, eine flagrante Verletzung der Demokratie: wenn eine nationale Minderheit von drei Millionen das gleiche Recht wie ein Zwölfmillionenvolk hat, dann ist der Anteil eines ihrer Mitglieder am Werden des staatlichen Willens viermal so groß wie der eines Bürgers des Zwölfmilliönen- volkes. Die Geschichte der Tschechoslowakei ist voll von Beweisen dieses Widerspruchs zwi-’ sehen der Gleichberechtigung der Individuen und der Gleichberechtigung der Nationen Der Staat wurde nach den tschechischen und slowakischen politischen Idealen geführt; und von den (Sudeten-) Deutschen bekamen nur jene einen Anteil am Werden des Staatswillens, deren Ideale mit dem tschechoslowakischen Ideal im Prinzip .übereinstimmten Wo die politische Philosophie und Moral der Völker einander diametral entgegengesetzt sind oder wo, wie in Mitteleuropa, die historische Entwicklung zu einer Situation geführt hat, in der es für eine Volksgruppe unannehmbar war, andere, bisher unterdrückte .minderwertige’ Völker als gleichberechtigt anzusehen, dort ist das Zusammenleben verschiedener Volksgruppen in einem gemeinsamen Staat unmöglich."

Diese Ausführungen Chalupas zur Rechtfertigung der Aussiedlung der Sudetendeutschen können schwerlich als Beitrag für Europa angesehen werden. Daß er axio- matisch „tschechische und slowakische politische Ideale“ voraussetzt, ohne die sehr unterschiedlichen politischen Ideale beider Völker als solcher und ihrer vielen politischen Parteien zu berücksichtigen, ist wohl der Grundfehler der „Tribuna“-Tendenz, die in einem absoluten völkischen Rassismus wurzelt. Dieser Rassismus produziert ein apodiktisches „Unmöglich", das unabänderlich sei; das Beispiel des Zusammenlebens der Sprachgruppen in der Schweiz, wo heute die deutschsprachigen Berner ihre französischsprachigen früheren Untertanen aus der Waadt als gleichberechtigt ansehen, existiert für die „Tribuna“ nicht — ebensowenig wie die für die ÖSR Anno 1938 in München tragische Wirklichkeit gewordene Ueber- legung, daß beim — wie sie meint — notwendigen Auseinandergehen solch verschiedener Volksgruppen ohne demokratischen Willen zu Toleranz und gegenseitiger Verständigung auch das entsprechende Territorium mitgehen könnte. Eine föderalistische Lösung wie die der Schweiz — nach deren Beispiel T. G. Masaryk einst die Entwicklung der Tschechoslowakei erhofft hat —, enthält genau jene bevorzugte Behandlung der kleineren Sprachgruppen, über die sich Chalupa als „flagrante Verletzung der Demokratie“ mokiert: der gleiche Masaryk, der sich als junger Abgeordneter im Ritualmordprozeß gegen den jüdischen Hausierer Hilsner wider die große Mehrheit seines Volkes gestellt hat, um das Unrecht an einem Individuum zu verhüten, würde gegen die Meinung der „Tribuna"-Leute protestieren, die Aussiedlung von Millionen deutschsprechender Bürger sei als „geringstes Uebel“ zur Sicherung von Leben und Freiheit der Tschechoslo- waken im eigenen Staat eine moralische Angelegenheit.

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