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Der große Skandal

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Kein Geringerer als Papst Pius XI. nannte einst das Nichtbegreifen der sozialen Frage durch die Katholiken des 19. Jahrhunderts den „großen Skandal“. Ein Wort, dessen Richtigkeit durch das Werk des Professors Duroussel von der saarländischen Universität „Les Debüts du Catholicisme social en France (1822—1870)“ (Presse Universitäres de France, 787 pages) erneut, wenn auch hier nur für das Land Frankreich, seine Bestätigung erfahren hat.

Seit ungefähr 1820 besaß Frankreich seine „soziale Frage“. Die immer weiter um sich greifende Industrialisierung des Landes schuf ein ständig wachsendes Proletariat. Ein Proletariat, das unter den erbärmlichsten Bedingungen vegetierte: Kinder, im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren mußten von 6 Uhr früh bis 19 Uhr abend schuften. Vierzehn Stunden die Erwachsenen. Manchmal noch mehr. Oftmals am Sonntag. Im Falle von Krankheit oder Invalidität wurden die Arbeiter rücksichtslos auf die Straße gesetzt. Ebenso, wenn die Fabriken nicht genug zu tun hatten. Kein Amt, keine Stelle vermittelte ihnen eine neue Arbeit. Zum Schluß warf sie noch der Hausherr, wenn die Arbeiter den Zins nicht zahlten, aus den Löchern, die kaum Wohnungen genannt werden konnten. Neben diesem materiellen Elend stand das geistige und sittliche. Kaum eine Arbeiterin, die nicht mit 15 Jahren schon das erste Mal schwanger war.

Weder unter den Bourbonen bis 1830 noch unter dem Bürgerkönig Louis Philippe geschah auch nur das geringste für diese Menschen von Seiten des Staates. 1840 verlangte ein Redner in der Kammer ein Einschreiten des Staates zur Verbesserung der Wohnverhältnisse der Arbeiter. Die ausbrechende Revolution von 1848 machte den ersten Schritt zugunsten der Arbeiter: sie gründete Nationalwerkstätten, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Aber die Werkstätten funktionierten nicht, sie waren zu teuer und gingen ein. Erst Napoleon III. erließ 1852 ein Gesetz, das die Schaffung von freiwilligen gegenseitigen Versicherungsverbänden der Arbeiter ermöglichte.

Sowohl dieses Gesetz Napoleons III. als auch die erste Rede in der Kammer im Jahre 1840 zugunsten der Arbeiter, sind das Werk französischer Katholiken. Von Katholiken, die als eine der wenigen die Dringlichkeit der sozialen Frage begriffen. Die auch begriffen, daß es sich nicht um eine Frage der Caritas handle, sondern um eine Regelung eines neuen sozialen Komplexes.

Die Anzahl der Katholiken, die ihr Interesse der sozialen Frage zuwandte, war gering. Hier beginnt der „große Skandal“, von dem Papst Pius XI. sprach. In den fünf Jahrzehnten, die Duroussel behandelt, hat fast der gesamte Episkopat Frankreichs nie seine Stimme zugunsten der Lösung der sozialen Frage erhoben. Eine erschreckende Tatsache. Und mit dem Episkopat schwiegen auch die berühmten Theologen — mit verschwindenden Ausnahmen, die katholischen Laien, die Politiker, die Journalisten. Die Katholiken Frankreichs gingen an der sozialen Frage vorbei. Und wenn ihnen je das Elend doch zu sehr in die Augen stach, so waren sie der Ueber-zeugung, daß die Mittel der Caritas, also Almosen, genügen würden, um helfend einzugreifen. Womit der Fall für sie erledigt war.

Um so größer ist der Ruhm jener wenigen Katholiken, die die Stunde begriffen und ihr ganzes Augenmerk und ihre ganze Arbeit der sozialen Frage zuwandten. Die Mehrzahl dieser wenigen Katholiken waren Laien, nur wenige Priester finden sich darunter. Duroussel teilt diese sozialen Katholiken in drei Gruppen: die Demokraten, die Liberalen, die Konservativen. In der ersten Gruppe ragt B u c h e z, Arzt und Konvertit, hervor, in der zweiten O z a n a m, Jurist und Universitätsprofessor, der „größte Laienapostel des 19. Jahrhunderts“, und in der dritten Gruppe de M e 1 u n, der von 1838 bis 1870 der überragende Kopf innerhalb der'sozialen Katholiken war. Diese Gruppen selbst bildeten nicht einmal jede für sich eine Einheit, sondern waren in zahlreiche Zirkel und Grüppchen aufgespalten, die sich um eine Persönlichkeit, eine Zeitschrift, einen Priester gebildet hatten. Bis 1848 bestehen alle drei Gruppen nebeneinander, im Revolutionsjahr verteilen sich die Liberalen auf die Demokraten und Konservativen. Ende 1848 und erst recht unter Napoleon werden die Demokraten unterdrückt, und nur die Konservativen bleiben bestehen.

Sosehr diese Gruppen politisch verschiedene Wege gehen, sosehr sind sie auf dem sozialen Gebiet einheitlich. Vor allem sind alle drei nach anfänglich tastenden Versuchen überzeugt, daß die soziale Frage nicht mehr auf karitativem Wege, sondern nur durch eine grundsätzliche Lösung angegangen werden kann. Sie lehnen die Intervention des Staates ab, dafür plädieren sie für die Schaffung der verschiedenartigsten Verbände, in denen die Arbeiter zusammengeschlossen und von denen ihnen weitgehende Hilfe zuteil werden soll. So entsteht auf ihr Betreiben 1828 die „Gesellschaft der Kinder-freunde“, die sich der Kinder jener Mütter annimmt, die tagsüber arbeiten gehen. So entsteht 1833 die größte dieser Vereinigungen, die „Gesellschaft vom hl. Vinzenz von Paul“, gegründet von Ozanam, die nicht nur dazu dienen soll, die Arbeiter zu unterstützen, sondern auch religiös und sonst zu bilden; so entsteht 1840 die Franz-Xaver-Gesellschaft, eine wechselseitige Krankenversicherung der Arbeiter, so entsteht 1844 das „Haus der Arbeiter“, eine Gratisstellenvermittlung für Arbeitslose. So entstehen seit 1852 auf Grund eines Gesetzes von Napoleon III., das er aber von Melun verfassen läßt, in den einzelnen Departements „Assoziationen“, die nichts anderes als eine Versicherung der Arbeiter für den Fall von Krankheit, Invalidität und Tod darstellen.

Hunderttausende und aber Hunderttausende von Arbeitern Frankreichs wurden durch diese „Werke“ vor endgültigem Elend und vor Not geschützt. Gleichzeitig bleiben durch diese „Werke“ Zehntausende von Arbeitern im Kontakt mit der Kirche. Wenn dennoch seit 1848 die große Masse des Proletariats sich immer mehr der Kirche entfremdet, so sieht Duroussel die Gründe vor allem in der völlig unverständigen Haltung sowohl des Episkopats und der meisten Katholiken einerseits, in dem politisch erzwungenen Verschwinden der christlichen Demokraten anderseits, wodurch die konservativen Katholiken, auch wenn sie noch so sozial dachten und handelten, doch zu sehr als Parteigänger der „Unterdrücker“ erschienen.

„Man kann die Bemühungen dieser Katholiken zwischen* 1822 und 1870“, schreibt Duroussel, „weder als einen Erfolg noch als eine Niederlage bezeichnen, sondern nur als Experiment. Das Bestehen einer sozialen Frage, die nicht Gegenstand der Caritas ist, wurde durch sie wachgerufen und zum Studium über soziale Fragen angeeifert. Von der (katholischen) Presse verspottet, vom Klerus und Laien völlig verlassen, kämpften diese wenigen auf scheinbar verlorenen Posten. Sie haben dennoch eine Riesenarbeit geleistet, die ihre Früchte zeitigt.“

Das Werk Duroussels ist eine große Leistung, zu der Frankreich nur beglückwünscht werden kann.

(In Paranthese nur ein Gedanken, der sich dem österreichischen Leser bei der Lektüre des Buches von Duroussel vielleicht aufdrängen wird: Wäre es nicht Zeit, ein ähnliches Werk über den sozialen Katholizismus in Oesterreich von seinen frühesten Anfängen an zu verfassen? Wer vor einigen Jahren im Wiener Künstlerhaus die Ausstellung des Gewerkschaftsbundes durchwanderte, mußte bemerken, daß dem Wirken katholischer Soziallehrer nur wenig, sehr wenig Raum gegewährt worden war. Das war vielleicht Absicht, vielleicht aber gefördert durch die Tatsache, daß es eben noch keine große Abhandlung, noch nicht „das Werk“ über die Leistungen des österreichischen Katholizismus auf sozialem Gebiet gibt.)

Parlament und Presse. In memoriam Max Garr. Von Eduard Ludwig. Wien, 1953. Druck der Oesterreichischen Staatsdruckerei. Preis 35 S.

In den von Bernatzik und Philippovich herausgegebenen Wiener staatswissenschaftlichen Studien erschien 1908 eine Schrift von Max Garr, „Parlament und Presse“. Auf dieser Publikation des inzwischen Verstorbenen fußt das neue Buch von Minister Eduard Ludwig, das denselben Titel führt. Ursprünglich als ein kritischer Beitrag zum Prinzip der parlamentarischen Oeffentlichkeit gedacht, ist unter Eduard Ludwigs Händen, befruchtet von der Weltweite seiner politisch-historischen Sicht, der Fülle seiner Erfahrungen und der eigenwilligen Kraft seiner Persönlichkeit, ein Werk entstanden, dem für jetzt und später als Quelle größter Wert zukommt und das den Schnittpunkt von Parlamentarismus und Journalismus in fesselnder Art hell beleuchtet.

Das Thema hebt mit dem 18. Jahrhundert an — England, Frankreich — und wird über Erwägungen grundsätzlicher Natur bis fast zur Gegenwart fortgesetzt. Die Verhältnisse in Oesterreich sind besonders eingehend behandelt. Sehr viele österreichische Publizisten werden ausgezeichnet charakterisiert. Dem Buche ist ein Schema der amtlichen österreichischen Pressestellen und ihrer Leitung von 1848 bis zur Zweiten Republik angefügt.

Das Werk erfüllt also eine ganze Reihe von Aufgaben. Ludwig gibt ein historisches Bild des im Titel bezeichneten Gegenstandes, er führt deduktiv eine Auseinandersetzung mit einem wesentlichen Gedanken der Demokratie und er bietet zugleich eine vorwiegend noch aus eigener Anschauung entstandene Chronik des österreichischen Parlamentsjournalismus.

Die Besteuerung der Gesellschaften, des Gesellschafterwechsels und der Umwandlungen. Von Dr. Herbert B r ö n n e r. Fachverlag für Wirtschafts- und Steuerrecht, Schäffer & Co., Stuttgart, 368 Seiten.

Dieses Werk behandelt ein für den Wirtschaftsführer und den Wirtschaftstreuhänder höchst wichtiges Gebiet Die Ausschaltung der persönlichen Haftung und die Erleichterung der Geldbeschaffung führen dahin, daß in zunehmendem Maße die bedeutenden Handels- und Produktionsunternehmungen zur Form der Kapitalgesellschaft übergehen. Aber auch in der gegenläufigen Richtung treten, aus anderen Gründen, häufig Veränderungen ein. Dieser Fluß ergibt die Problemkreise, die den Gegenstand des vorliegenden Werkes bilden: Den steuerlich sehr verantwortlichen Uebergang von einer Rechtsform zur anderen und — nach erfolgter Umwandlung — die richtige Behandlung der steuerlichen Probleme des neuen Rechtskörpers. Das altbewahrte Werk von Brönner ist stets ein vortrefflicher Kompaß durch die hier verborgen liegenden Untiefen gewesen. Es liegt nun in neuer, auf den letzten Stand gebrachter Auflage vor. Bei der immer noch bestehenden weitgehenden Parallelität der reichs-deutschen und der österreichischen Steuergesetze ist sein Gebrauch jedem Praktiker wärmstens zu empfehlen.

Die Hausbesorgerordnung samt allen einschlägigen Vorschriften usw. von DDr. Robert D i 11-rieh und Dr. Rolf Veit. Manzsche Verlags-

und Universitätsbuchhandlung, Wien 1953. 73 Seiten. Preis 15 S.

Das Bundesgesetz vom 13. Dezember 1922, BGBl. Nr. 878, über den Dienstvertrag der Hausbesorger, ist ein Werk der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung Oesterreichs nach dem ersten Weltkrieg. Die neue Manz-Ausgabe von Dittrich-Veit bringt im ersten Teil den Gesetzestext, ferner kurze, dem besseren Verständnis dienende Anmerkungen, Hinweise auf das Schrifttum und eine nach Leitsätzen geordnete Uebersicht über die Rechtsprechung. Sowohl einschlägige, nach Bundesländern geordnete Vorschriften über Haustorsperre, Beleuchtung, Haustorschlüssel, Sperr- und Reinigungsgeld u. a., als auch Bestimmungen des Arbeiterurlaubsgesetzes und der Zivilprozeßordnung sind teils im ersten Teil eingearbeitet, teils im Anhang abgedruckt. Zu erwähnen ist auch das reichhaltige Sachregister. Die Anschaffung der Ausgabe sei Hausverwaltungen, Interessenvertretungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nicht zuletzt aber auch dem Juristen zur Ergänzung seiner Fachbibliothek und dem interessierten Laien empfohlen.

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