6601085-1953_39_07.jpg
Digital In Arbeit

Eine Geschichte des französischen Katholizismus

Werbung
Werbung
Werbung

Der originellste Zug des französischen Katholizismus der letzten Jahrzehnte ist das schlechte Gewissen seiner Elite, die Ueberzeugung, daß der Massenabfall des vorigen Jahrhunderts zum Teil von den Katholiken selbst verschuldet wurde, und daß die Fehler der Vergangenheit, unter anderem das systematische Bündnis mit dem politischen oder sozialen Konservativismus, nicht wiederholt werden dürfen. Um diese Fehler zu vermeiden, muß man sie studieren, und deshalb sind in den letzten Jahren zahlreiche Bücher über die Geschichte des französischen Katholizismus seit der Revolution erschienen, die sich nicht an die Spezialisten, sondern an das gebildete Publikum richteten und von diesem oft mit Anerkennung oder Begeisterung und immer mit Leidenschaft aufgenommen wurden: Erwähnt seien unter anderem Henri G u i 11 e m i n s ,,Histoire des catholiques frant;ais au XlXieme siecle“, Duroselles „Histoire du catholicisme social“, Emmanuel Mouniers „Montslembert“ und Louis de Villefosses „Lamennais ou l'occa-sion manquee“. Aber keines von diesen Büchern erregte so viel Aufsehen und wurde so eifrig diskutiert wie Adrien Dansettes „Histoire reli-gieuse de la France contemporaine“, aus welchem umfangreiche Auszüge in führenden katholischen Zeitschriften, wie „Etudes“ und „Esprit“, veröffentlicht worden waren, und dessen zweiter Band vor kurzem beim Verlag Flammarion erschien. Die eintausendundfünfzig Seiten dieses Werkes (Literaturangaben und verschiedene Verzeichnisse nicht mitgerechnet) behandeln den Zeitabschnitt zwischen 1789 und 1930. Der Periode seit 1930 soll ein dritter Band gewidmet werden, der wegen seines aktuellen Themas und des noch äußerst lückenhaften Quellenmaterials in einer weniger ' wissenschaftlichen Form gehalten werden müßte.

Dem Buch könnte man seinen etwas irreführenden Titel vorwerfen: Dansette, ein Fachmann der politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und der III. Republik, hat sich fast ausschließlich auf die politische Seite seines Themas beschränkt und ist oberflächlich, wenn er von theologischen oder kulturpolitischen Debatten, wie zum Beispiel vom Streit um den Modernismus, berichten muß. Eher als eine religiöse Geschichte Frankreichs ist sein Buch eine politische des französischen Katholizismus. Aber auch so macht sich der Mangel einer theologischen Bildung bemerkbar, denn auch der politischeste Katholizismus ist etwas anderes als eine bloß politische Bewegung, und z. B. hätten die weltanschaulichen Hintergründe der Schulfrage, der Debatte um die Action Francaise oder der sozialen Frage eine eingehendere Behandlung verdient. Auch kann sich eine religiöse Geschichte Frankreichs auf die Betrachtung des Katholizismus nicht beschränken: die freie Religiosität der Romantik, die weltanschauliche Entwicklung des Protestantismus und des Freidenkertums gehören ebenfalls zum Thema und sind, auch vom rein politischen Standpunkt aus betrachtet, von sehr großer Bedeutung. Uebrigens weist der Autor selbst in seinem Vorwort auf diese Lücken hin und damit entgeht er dem Vorwurf, aber wenn er nur den Katholizismus und nur dessen politische Aspekte behandeln wollte, hätte er seinen Titel ändern sollen.

Immerhin hat Adrien Dansette das große Verdienst, ein ungeheuer umfangreiches, vor ihm noch niemals gründlich verwertetes Material durchforscht zu haben und als erster Fragenkomplexe mit wissenschaftlicher Unparteilichkeit zu beleuchten, die bisher ein Streitobjekt zwischen Polemisten und Apologeten der verschiedenen politischen und religiösen Lager gewesen waren. Es gereicht dem Historiker zur größten Ehre, daß man nach der Lektüre seines Werkes nicht weiß, ob er katholisch ist oder nicht.

Historische Tatsachen sind bekanntlich meistens unangenehm, und da das Buch viele historische Tatsachen enthält, ist es allen unangenehm, den traditionsgebundenen Katholiken nicht minder als den Antiklerikalen atheistischer oder katholischer Prägung (und letztere sind die heftigsten). Denn er erzählt z. B. den Fall Mortara, der sich 1858 abspielte, als die Behörden der päpstlichen Staaten einen von einer christlichen Magd getauften jüdischen Knaben seinen Eltern entzogen, um ihn christlich zu erziehen, wobei die Theologen die Proteste der Liberalen damit zurückwiesen, daß sie das Prinzip des Elternrechtes für eine heidnische Chimäre erklärten; aber er zeigt auch, und dies beraubt den Antiklerikalismus eines seiner beliebtesten Argumente, daß die äußere Bekehrung des Bürgertums um 1848 ursprünglich wohl aus der Angst vor den Gefahren einer sozialen Revolution erklärlich war, aber bei den folgenden Generationen zu einer aufrichtigen, inneren Bekehrung wurde, und daß die Fehler eines Teiles der Hierarchie und der Laienschaft auf dem politischen und sozialen Gebiet nicht aus dem Egoismus stammten, sondern aus der Unkenntnis der modernen Welt, das heißt, aus intellektuellen Mängeln, um deren Behebung sich die katholische Intelligenz der letzten fünfzig Jahre hartnäckig und mit ziemlichem Erfolg bemüht hat. Durch zahlreiche Berichtigungen im Detail hat Dansette viele der Vereinfachungen, Legenden und Irrtümer unschädlich gemacht, die mehr als ein Jahrhundert hindurch das gegenseitige Verständnis zwischen Katholiken und Nichtkatholiken erschwert haben: Be-

sonders wertvoll in dieser Hinsicht ist die Widerlegung der abgeleierten Schauermärchen über die Macht und die angeblichen Umtriebe der Jesuiten bzw. Freimaurer; auch ist es gut, daß Dansette bei der Charakterisierung seiner historischen Gestalten hinter dem klerikalen oder antiklerikalen Fanatismus des jeweiligen Politikers immer die persönlichen Tugenden des Menschen zeigt. Dies sind wichtige Lehren für den Staatsbürger.

Das Buch Adrien Dansettes enthält auch andere Lehren, die für den Historiker und den Staatsmann wichtig sind: nicht alle diese Lehren sind neu, denn ein Historiker kann nicht immer originell sein, aber es ist immerhin nützlich, daß sie dem Laien ohne Verzicht auf die wissenschaftliche Gründlichkeit zugänglich gemacht wurden.

Diese Lehren wachsen übrigens zu einer Hauptlehre zusammen, die zwar überraschen mag, aber der' historischen Wahrheit zu entsprechen scheint: clafi nämlich die Bilanz der letzten hundertsechzig Jahre alles in allem für die Kirche eher positiv ist. Zwar ist von den Fortschritten der Dechristia-nisierung in dieser Periode oft die Rede, aber Dansette legt ziemlich überzeugend dar, daß sich seit 1780 die geographische Verteilung und das prozentuelle Verhältnis des Glaubens, der Lauheit und des Unglaubens nicht wesentlich geändert haben, und daß sonderbarerweise der Katholizismus dort am stärksten geblieben ist, wo sich das Heidentum am längsten erhalten hatte, das heißt, in den ländlichen Gegenden, die abseits von den Hauptverkehrsstraßen liegen. Zwar hat sich im

19. Jahrhundert ein Industrieproletariat gebildet und entwickelt, das großenteils außerhalb des Einflußbereiches des Katholizismus lebt, aber dies scheint sich weniger aus den sozialpolitischen Fehlern der Katholiken um 1848 zu erklären, als aus der bloßen Tatsache der Industrialisierung. Um 1950, wie um 1789, scheint sich die französische Bevölkerung folgendermaßen zusammenzusetzen: eine relativ kleine Schar aktiver Katholiken, eine kleinere Schar aktiver Antikatholiken sowie eine Masse I*uer Katholiken Und gleichgültiger Nichtkatholiken, die die Kirche respektieren und dem Klerus mißtrauen und die sich jeweils der klerikalen und der antiklerikalen Einmischung und Intoleranz widersetzen und daher ein dauerhaftes Lieberhandnehmen des religiösen oder antireligiösen Fanatismus um so unmöglicher machen, als die überzeugtesten Nichtkatholiken vom christlichen Gedankengut und die überzeugten Katholiken von einem gewissen Antiklerikalismus durchdrungen sind. Statistisch betrachtet, hat sich also die L.-ge des Katholizismus in Frankreich in den letzten hundertfünfzig Jahren nicht wesentlich verschlechtert, noch ist sie schlechter als in den anderen industrialisierten Ländern, und qualitativ betrachtet hat sie sich merklich gebessert.

Die Revolution, indem sie den kirchlichen Besitz beschlagnahmte, hat das sittliche Niveau des Klerus gehoben, der nunmehr nur wirklich Berufene aufnimmt. Während am Ende der Monarchie mondäne Bischöfe die Regel und atheistische Bischöfe keine Seltenheit waren, fehlt dem Klerus des 19. Jahrhunderts wohl die notwendige geistige Bildung, aber sein Glaube und seine Tugenden sind vorbildlich. Kurz vor dem Beginn des

20. Jahrhunderts fängt zugleich im Klerus und in der Laienschaft eine geistige Renaissance an,

die nach der Wachstumskrise des Modernismus die französischen Katholiken zu ebenbürtigen, gleichberechtigten Partnern und Konkurrenten auf allen Gebieten der Philosophie, der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst gemacht hat.

Auch politisch hat sich die Stellung der Kirchs wesentlich gebessert. Obwohl Pius IX. und dessen Vorgänger der demokratischen Entwicklung und den sozialen Problemen wenig Verständnis entgegengebracht hatten, obwohl die Versöhnungspolitik und die sozialen Bestrebungen Leo XIII. auf heftige Widerstände des Episkopats und breiter Kreise der Laienschaft gestoßen hatten, haben die französischen Katholiken sich mit der demokratischen Republik so völlig ausgesöhnt, daß sie im öffentlichen Leben auftreten können und auch tatsächlich auftreten, ohne den noch vor dreißig Jahren üblichen Verdächtigungen ausgesetzt zu werden, und die Aufrichtigkeit der sozialen, ja sozialistischen Bestrebungen der katholischen Avantgarde wird auch von den Nichtkatholiken einstimmig anerkannt. Eine hundertjährige Entwicklung hat die französischen Katholiken dazu gebracht, die Gewissensfreiheit, deren Grundsatz von der katholischen Doktrin prinzipiell abgelehnt wird, nicht nur für sich selbst zu fordern, sondern auch als höchstes Gut des Menschen konsequent und selbstlos zu verteidigen.

Ein weiteres Plus ist die ungeheure Verstärkung der päpstlichen Autorität. Zu dieser Verstärkung haben ohne Zweifel die antiklerikalen Gesetze: Beschlagnahme der Kirchengüter, Trennung zwischen Kirche und Staat, mächtig beigetragen, indem sie in den einzelnen Ländern die Vorrechte Und weltlichen Machtstellungen der Kirche abschafften und sie damit auf die übernationale Instanz anwiesen, deren Autorität von der französischen Kirche der Monarchie nur mit gewissen Vorbehalten anerkannt worden war. Ebenso wichtig wie diese äußeren Umstände war aber die Tatsache, die sich aus Dansettes Darstellung besonders einleuchtend ergibt, daß die römische Kirche seit der Wahl Pius' IX., also seit mehr als hundert Jahren, von einer ununterbrochenen Reihe von großen Päpsten regiert wurde, was seit Jahrhunderten nicht mehr der Fall gewesen war: Diese Päpste waren voneinander äußerst verschieden und fast jeder schien einen fast vollständigen Gegensatz zu seinem unmittelbaren Vorgänger darzustellen, aber gerade deshalb haben sie einander ergänzt. Unter jedem der letzten sechs Päpste hat die Kirche an geistiger Macht und gesellschaftlichem Einfluß weit mehr gewonnen als verloren.

Aus dem Buch Adrien Dansettes ergibt sich also die Tatsache, daß es der katholischen Kirche in Frankreich weitgehend gelungen ist, sich der ideologischen, politischen und sozialen Entwicklung der Gesellschaft anzupassen, ohne sich selbst aufzugeben, und daß dieser Anpassungsvorgang langsam, aber um so vorsichtiger fortgesetzt wird. Mit welchem Erfolg dabei zu rechnen ist, bleibt noch ungewiß, und nicht alle Katholiken sind darüber einig, ob und in welchem Ausmaße diese Anpassung zu bejahen und weiterzuführen ist. Jedenfalls hat diese Entwicklung, vom staatspolitischen Standpunkt betrachtet, das große Verdienst, daß sie auf vielen Gebieten die Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Nichtkatholiken ermöglichte, und daß jetzt endlich in den politischen Fragen mit politischen und in den religiösen Fragen mit religiösen Argumenten debattiert werden kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung