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Österreich — „Missionsland“...

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Vor kurzem hat die „österreichische Furdie“ eine „Gewissenserforschung des österreichischen Katholizismus“ nach vier Jahren der Freiheit veröffentlicht. Wird sie vielleicht so gastfreundlich sein, einem Ausländer, dem das Schicksal Österreichs und des österreichischen Katholizismus am Herzen liegt, zu erlauben, seinen Standpunkt offen zum Ausdruck zu bringen?

Nachdem er den „statischen" Character des Katholizismus in Österreich festgestellt hat, untersuchte Dr. Jantsch besonders drei Punkte, die ihm die wesentlichsten für ein Vorwärtsstreben erscheinen: die innere Erneuerung des Klerus, die Ausbildung des Laientums und der rationelle Einsatz der vorhandenen Kräfte,

Die Tatsache schon, daß eine solche Gewissenserforschung durchgeführt wird, ist ein klares Zeugnis der Gesundheit und der Lebenskraft, und die Behörden, denen das geistige Schicksal Österreichs anvertraut ist, sind sich übrigens des heutigen Zustandes voll bewußt. Noch interessanter aber ist jetzt der Umstand, daß ein solches Problem vor der Öffentlichkeit derart gestellt wird, daß eine Auseinandersetzung, eine Diskussion unter den Katholiken selbst entstehen kann, die den angefochtenen Statismus begrenzen und bestimmen und so die zu einem entscheidenden „Duc in altum“ notwendig Atmosphäre herbeiführen wird.

In diesem Fall aber ist eine frühzeitige Improvisation nicht am Platz. Der unerhörte Elan des französischen Katholizismus ist eine Erscheinung, die in einem Vierteljahrhundert unbekannter und unermüdlicher Arbeit wurzelt. Die Katholische Aktion ist es, deren Gründung und schöpferische Entwicklung vor 25 Jahren den Auftakt zu diesem Erneuerungsprozeß gab. Heutzutage weisen die spezialisierten Bewegungen der Katholischen Aktion eindrucksvolle Ziffern auf. Mehr aber als die Zahl der Mitglieder ist der Geist, der sie beseelt, das Klima, in dem sie fortschreiten, beachtenswert. Es ist zuerst ein Geist der innerlichen Vertiefung des individuellen und gemeinschaftlichen geistigen Lebens: die Ausbildung der Aktivisten hat sich keineswegs damit begnügt, eine Führerschule zu sein, die Pflanzstätte von natürlich begabten Dirigenten, sie wurde zugleich eine Art Noviziat der Buße und des eigenen Gebets, ein Lehrgang des innerlichen Lebens. Die zweite bezeichnende Komponente dieses Klimas hat monatelang Erstaunen erweckt und wurde sogar manchmal zum Stein des Anstoßes: sie muß übrigens fortwährend überwacht und in Schranken gehalten werden; es ist der Geist des kritischen „Non- Konformismus" und das Bewußtsein, von nun ab einen Teil der Verantwortung übernehmen zu müssen, die bis jetzt das private Jagdrevier des Klerus gewesen ist. Spräche jemand bei dieser Gelegenheit von „Antiklerikalismus“, so würde er einen sehr zweideutigen Ausdruck verwenden. Unleugbar ist es aber, daß die Bewegungen der Katholischen Aktion und die ihr eigene Dynamik die wohl unerläßlichen Nervenzentren in der Pfarrei aufrechterhalten, diese jedoch durch ihre Struktur, ihren Aktionsbereich, überholen. Daher entwickelte sieh bei den Laien, die führende Posten im Rahmen der Katholischen Aktion bekleiden, eine gewisse Tendenz zur Unabhängigkeit vom pfarr- lichen Klerus und zu einem engeren Anschluß an die Seelsorgeinstitute der Diözesen, der Provinzen des Landes selbst.

Im Rahmen der Katholischen Aktion bilden sich also die katholischen Arbeiter, Ingenieure, Lehrer und Professoren, Direktoren, Familienoberhäupter heran, die die aktiven und bestimmenden Faktoren der Zukunft sind. Aus diesen Schichten stammen a ueh immer mehr die Priester, deren Nachwuchs in Frankreich seit 25 Jahren eine bezeichnende Entwicklung genommen hat und für andere Länder eine aufschlußreihe Tatsache aufzuweisen vermag. Dadurch kann man am deutlichsten ersehen, wie der Aufschwung der Katholischen Aktion die religiöse Erneuerung Frankreichs bestimmt hat: denn die „innere Revolutionierung im Klerus" ist nicht so sehr auf eine quantitative Vermehrung der Berufungen, sondern eher auf die Erneuerung der Nachwuchsquellen und der Ausbildungsmethoden der Theologen zurückzuführen. Vielleicht ist die breite Öffentlichkeit Österreichs von ihrem eigenen Zustand in dieser Hinsicht nicht genug informiert. Die Gesamtziffern des österreichischen Klerus sind zwar seit dem Ende der Doppelmonarchie fast dieselben geblieben: abgesehen von ein paar hunderten, repräsentieren die Geistlichen in Österreich wie in Frankreich ungefähr ein Tausendstel der katholischen Bevölkerung und entsprechen also einem Verhältnis „Klerus — Volk“, das, selbst wenn man die nicht pastoraltätigen Priester berücksichtigt, keinen allzu anormalen Zustand bedeutet. Seit 1938 sind aber viele Jahre vergangen: der Altersdurchschnitt des Klerus wird immer mehr besorgniserregend; die religiösen Orden und Gesellschaften, die selbst an Nachwuchsmangel leiden, behalten ungern die Pfarreien bei, die ihnen der Josephinismus aufgezwungen hat; die traditionsmäßigen Nachwuchsquellen sind teilweise versiegt: sachlichen Beobachtungen zufolge lieht ich das Bauerntum trotz seiner bekannten Anhänglichkeit zur Kirche zurück, und mehr als die Hälfte der künftigen Priester stammt jetzt aus städtischen und nicht aus Bauernfamilien. Vor allem aber beherrscht die heutige Gesamtlage eine brutale und massive Tatsache: durch die antireligiöse Politik des Nationalsozialismus wurden Knabenseminare beschlagnahmt oder enteignet und der Nachwuchs ist oft lahmgelegt worden; der heutige Gesamtbestand der Priester- und Knabenseminare weist Ziffern auf, die im Vergleich mit dem Bestand von 1938 eine Abnahme von mehr als tausend Einheiten bedeuten, und aus den Ziffern der notwendigen Jahrgänge geht hervor, daß die Knabenseminare erst nach vier, beziehungsweise fünf Jahren den Priesterseminaren Kandidaten zur Verfügung stellen werden.

Diese Phase eben des Überganges scheint dem Beobachter die verwundbarste Stelle der religiösen Struktur Österreichs zu sein. Denn eben in dieser Zeitspanne könnten und sollten die neuen Scharen der Aktivisten rekrutiert und ausgebildet werden, die den künftigen Bestand eines zeitverpflichteten Klerus zu sichern vermögen. Zwar sind die Völker so, wie sie von den Hirten geformt werden: es ist aber eine unleugbare Tatsache, daß die Revolutionierung im Klerus von der qualitativen Erneuerung des Volkes selbst zum größten Teil abhängt. Die Entchristianisierung des Bauerntums und des Arbeiterproletariats einerseits, die Glaubenslosigkeit der Intellektuellen andererseits waren eben vor dreißig Jahren die allergrößten Gefahren für den Priesternachwuchs in Frankreich: und eben der Katholischen Bauernbewegung (JAC) und der Katholischen Arbeiterbewegung (JOC), der Rückkehr der Intellektuellen zu einem „Sturmchristianismus“ (christianisme de hoc) verdankt jetzt die Kirche die Zuversicht, daß die Priester von nun an Frankreich nicht fehlen werden. Vielleicht ist die heutige Lage in Österreich nicht so ernst wie die Lage in Frankreich vor dreißig Jahren: man kann nur hoffen, daß die Aufrechtenhaltung des Status quo in der Schulfrage (Pflichtunterricht der Religion, katholische Lehrer- und Lehrer in nenbildungsanstaltcn) den aufsteigenden Jahrgängen des Bauerntums erlauben wird, den traditionellen Prozentsatz der Anwärter zum göttlichen Dienste, wie in der Vergangenheit, beizubringen.

Es wird viel von der Mission de Paris gesprochen .v. Man oll ihr quantitatives Gewicht nicht überschätzen: sie besteht aus einem winzigen Kern, und die traditionelle Silhouette der französischen Abbes „mit dem Talar und dem römischen Hut“ ist bei weitem nicht im Verschwinden begriffen. Man kann aber ihren qualitativen Wert und ihre symbolhafte Bedeutung nicht genug beachten: denn die Priester der Mission de Paris sind ehemalige Aktivisten der JOC, Arbeitersöhne oder solche, die unter den Arbeitern monatelang freiwillig gelebt haben, um sich, insofern er positiv menschliche gesunde Werte enthält, den proletarischen Geist anzueignen. Es wird aber vielleicht von der „Mission de France" nicht genug gesprochen: die Mission de France ist ein inter- diözesanes Priesterinstitut, das in Lisieux, von Kardinal Suhard gegründet, Theologen und Priester aus allen Diözesen Frankreichs beherbergt; diese künftigen Missionäre werden dort in Gruppen gegliedert und bekommen eine entsprechende Ausbildung, je nachdem sie Land- oder Stadtpfarreien gemeinschaftlich betreuen sollen. Sie sind ebenfalls zum größten Teil ehemalige Aktivisten der JAC oder JOC oder Seelsorger dieser Bewegungen. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, daß diese beiden Institutionen undenkbar und unmöglich gewesen wären, wenn die ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten, die ihren Nachwuchs sichern, keine tiefe Erneuerung erlebt hätten.

Zwar hat die JOC in Österreich schon Fuß gefaßt, zum Beispiel in Wien, Linz und Graz: sie i t aber noch im Anfangssudium, die

Kader fehlen noch; es bestehen auch verschiedene Kreise von Akademikern, eine katholische Hochschulgemeinde, aber, soweit die persönliche Erfahrung eines Ausländers es zu beurteilen gestattet, keine Einrichtung, die durch Gesinnung, Elan und Methoden an die etwas wilden, aber außergewöhnlich lebendigen JEC-Sektionen, oder an die französische Akademikerpfarrgemeinde erinnert. Das österreichische Bauerntum ist noch traditionsmäßig katholisch: man bedenke aber, daß der Krieg eben dem Bauerntum, das die kinderreichste Volksschichte ist, die härtesten Schläge versetzt hat, daß der praktische Materialismus eben im Bauerntum tiefe moralische Verwüstungen verursacht hat, die imstande sind, die göttliche Berufung zu einem Lebensstand, der allem menschlichen Anschein nach immer, weniger einem „bourgeoisen“ Ideal entsprechen wird, im Keim zu ersticken. Die dem Bauerntum eigenen sozialen Probleme sind es, die in Frankreich die katholische Bauernbewegung (JAC) zum Anlaß nahm, einzugreifen und dessen religiöse Indifferenz aufzurütteln: vielleicht steht das österreichische Bauerntum nicht vor ähnlichen Problemen. Eines bleibt jedoch unverändert: daß nämlich eine Erneuerung, der religiösen Werte im Bauerntum unerläßlich zu sein scheint. Unter dieser Bedingung wird ein moderner Klerus, das heißt ein zeitverpflichteter Klerus, für den die katholischen Dachorganisationen kein Gespenst mehr sind, für den auch die' Laien eine begrenzte, wenn auch bestimmte, Verantwortung zu übernehmen haben, allmählich heranwachsen, und einem Volk ent- sprechen, das nicht mehr dieselbe religiös Einheitlichkeit darstellt, wie zur Zeit der Doppelmonarchie.

Es ist gewiß wahr, daß im österreichischen. Klerus „vortreffliche Kräfte" vorhanden sind und daß es sich jetzt darum handeln würde, „sie besser zu erkennen, zu prüfen und plan-, mäßiger einzusetzen“. Es wird sich niemand darüber beklagen, daß Wien zum Beispiel ein Sternbild von hervorragenden Predigern besitzt. Vielleicht könnte man aber bezweifeln, ob das katholische Leben Österreichs unter den heutigen Verhältnissen unbedingt. „Massenversammlungen“ braucht. Das Zujubeln oder das Auspfeifen von 60,000 Sportlern im Wiener Stadion hat meines Wissens noch keinen einzigen Biedermann, der die Schnapskarten lieber hat als Fußballspielen, hingerissen, geschweige denn von Grund auf umgestimmt. Bis jetzt, im Österreich der Nachkriegszeit, sind solche „Massenversammlungen“ Veranstaltungen der politischen Parteien gewesen, die der Öffentlichkeit oder, ihren Konkurrenten eine: Kraftprobe zu verabreichen suchten. Wie dem auch sein mag, es bleibt noch fraglich, ob das vortreffliche Wort von Berufspredigern bei solchen Versammlungen ebenso praktisch wirksam wäre wie die kameradschaftliche Stimme eines Aktivisten, der zu seinesgleichen vom Ideal und vom Kampf spräche, die er gemeinsam mit ihnen teilt. Die JOC-Bewegung veranstaltet ab und zu sokhe Monstermeetings: das von Paris im Jahre 1938, das im Velodrome d’Hiver 75.000 Jocisten versammelte, haben die Pariser nicht vergessen. Dabei waren zwar Vertreter des Klerus anwesend: diese aber, wenn man sich so ausdrücken darf, saßen wie Ehrengäste am Rande des Spielplatzes und die Verbandskapitäne waren die Aktivisten selbst. Und dadurch kommen wir nochmals zur obigen Feststellung zurück: nämlich1 daß die Aktivisten und die Katholische Aktion, die sie umfaßt, das unerläßliche Sprungbrett zu einem neuen Start eines zeitnahen Katholizismus bildet. Auf dieser Basis wird der qualitative Nachwuchs und der rationelle Einsatz der besten Kräfte gesichert, den modernen Aposteln wird der Weg zu ihren eigenen Milieus leicht und fruchtbar sein.

Über die Tatsache kann man heute nidit leicht hinwegsehen, daß verschiedene Länder nach Frankreich blicken, um die Früchte der letzten religiösen Erfahrungen zu ernten, obwohl sich im Gegenteil die „älteste Tochter der Kirche“ selbst vor dem Krieg der katholischen Welt gegenüber aufrichtig als ein „Missionsland“ bekannt hat. Dieses etwas harte Alarmschlagen legte übrigens ein eindeutiges Zeugnis von einer Selbstkritik ab, die eine unzerstörbare religiöse Reserve mitten in einer immer mehr paganisierten Gesellschaft, bekundet. Es war letzten Endes nichts anderes, als das die religiöse Elite durchdringende Bewußtwerden einer weit- tragenden, sonnenklaren Tatsache, welche die sekuläre Denkungsart störte und somit von der Masse schwer zu erkennen war: daß nämlich die katholische Religion in Frank- , reich das Bekenntnis einer Minderheit geworden war und daß es sich darum handelte, aus dieser Tatsache alle doktrinalen, moralischen und seelsorgerischen Schlüsse unverblümt und realistisch zu ziehen.

Eine solche Feststellung war manchem sehr unangenehm: sie war jedenfalls heilsam. Nicht der Ruhm einer großen Vergangenheit, wäre es selbst die des Heiligen Römischen

Reiches, wird den österreichischen Katholizismus von 1948 daran hindern, nötigenfalls eine ähnliche Feststellung zu machen und dann einem neuen fruchtbaren Schicksal entgegenzusehen. Die katholische Weltgemeinschaft wartet ab: „Wirket, so lange es Tag ist..."

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