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Katholisches Leben in England

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Zur richtigen Beurteilung der eigenartigen Stellung des Katholizismus in England ist es notwendig, die religiöse und konfessionelle Gesamtsituation des Landes ins Auge zu fassen, die eine verwirrende Vielgestaltigkeit aufweist*. Es wäre ein Irrtum, die in der Verfassung verankerte englische Staatskirdie mit den deutschen protestantischen Landeskirchen in eine Parallele zu stellen. Man muß die wesentlichen Unterschiede in den historischen Entwicklungen in England und. in Deutschland beachten, um zu verstehen, warum von hohen anglikanischen Stellen der Trennungsstrich zwischen dem Protestantismus und der englischen Kirche so scharf gezogen und die urkirchliche Tradition der anglikanischen Kirche sosehr betont wird. In Deutschland kamen in der sogenannten Reformation zuerst sich tmmer mehr verschärfende dogmatische und theologische Gegensätze zum Ausdruck, die schließlich zum Schisma führten. In England war die Entwicklung gerade umgekehrt. Ohne daß theologische Streitfragen im Vordergrund standen, kam es hier aus rein politischen Gründen zu einer Emanzipation der englischen Kirche, die erst dann nach ihrer Loslösung von Rom protestantischen, und zwar vorwiegend kalvinisti-schen Einflüssen zugänglich wurde. In dieser Entwicklung verlor die englische Staatskirche allmählich die dogmatisch rituelle Einheitlichkeit. In zahlreichen Schattierungen. und Abstufungen von der sogenannten „Low Church“ bis zur „High Church“ und weiter zu dem Flügel, der sich „Anglo-Catholic“ nennt, gelangen die verschiedensten Auffassungen und Formen zum Ausdruck. Die Low Church ist protestantisch orientiert und beschränkt ihre gottesdienstlichen Handlungen auf Bibellesung, Predigt und Gesang, während die Anglo-Catholics eine fast völlige An-gleichung an die urkirchliche Tradition und

* Zum gleichen Thema sprach am 3. Juni der Verfasser in einem Vortrag, der im Rahmen des „British Council“ gehalten wurde.die katholische Kirche mit Feier des Meßopfers, Beichte, Muttergottesverehrung usw. anstreben. Daneben bestehen noch eine große Zahl verschiedenster christlicher Bekenntnisse und Sekten, wie die Presbyteraner, Baptisten, Quäker, Methodisten, Adventisten usw., die unter dem Namen Freie Kirchen oder Non-Conformists zusammengefaßt, zahlenmäßig sogar stärker, sind als die Staatskirche. Die katholische Kirche nimmt eine Sonderstellung ein. Sie wird weder unterdrückt oder verfolgt, noch auch offiziell anerkannt. Die Feindschaft gegen sie gehört heute größtenteils der Geschichte an. Soweit sie noch in Erscheinung tritt, kommt sie vornehmlich aus zwei Lagern. Teils von einer radikal protestantischen Gruppe, die numerisch unbedeutend ist, und ihre Gegnerschaft mehr gegen die High Church und die Anglo Catholics richtet, teils von einer radikal nationalistischen Gruppe, die in der römischen Kirche etwas Landfremdes erblickt, und ihr oft mit einer fast abergläubischen Scheu, wie etwas Okkultem, gegenübertritt. In gebildeten Kreisen sind derartige Vorurteile natürlich völlig überwunden, obschon die Unwissenheit über das Wesen der katholischen Kirche oft überraschend ist.

Noch vor 150 Jahren, am Ende des 18. Jahrhunderts, waren die Katholiken in England eine hart unterdrückte, verfolgte kleine Schar; sie zählte etwa 60.000 Menschen, die, verstreut lebend, ihrer politischen Rechte beraubt, und in ihren bürgerlichen Rechten eingeschränkt wären. Unter dem Drucke der irischen Katholiken und mit der wachsenden Verbreitung der Ideale des Liberalismus wurden im Jahre 1791 durch den sogenannten „Relief Act“ die meisten Beschränkungen des katholischen Lebens beseitigt, und den Katholiken die Abhaltung gottesdienstlicher Handlungen, die Feier des Meßopfers, die Errichtung und Führung von Schulen wieder erlaube. Aber erst im Jahre 1829 wurde den Katholiken durch den „Emanzipationsakt“ die politische Gleichberechtigung, das aktive und passive Wahlrecht, wie der Zutritt zu fast allen öffentlichen Ämtern und Funktionen zuerkannt. Nach dreihundert Jahren einer völligen Unterdrückung hatte die katholische Kirche endlich die nötigen Entfaltungsmöglichkeiten erlangt, und sah sich nun vor die Aufgabe eines Neuaufbaues von Grund auf gestellt. Sie hatte keinerlei Vermögen, keine Ordcnsniederlassungcn und nicht einmal eine Hierarchie, da nur vier apostolische Vikare, die weder den Bischofstitel .führen, noch eine Jurisdiktion ausüben durften, den ganzen Verwaltungsapparat, der Kirche darstellten. Mit päpstlichem Breve vom 29. September 1850 wurde der damalige apostolische Vikar von London Wiseman zum Kardinal und Erzbischof von Westminster ersannt, und damit die Wiedererrichtung der römisch katholischen Hierarchie in Großbritannien in die Wege geleitet. Nach sehr heftigen Angriffen in der Öffentlichkeit und Uberwindung einer stürmischen Opposition im Lande ist endlich nach Veröffentlichung des berühmten Manifestes Kardinal Wisemans, in dem er an den Gerechtigkeitssinn des englischen Volkes appellierte, seit November 1850 die Hierarchie der Kirche in England wieder fest begründet, und besteht seither unbestritten und unangefochten. Gleichzeitig mit dem Aufblu der Hierarchie war ein bemerkenswertes Anwachsen der katholischen Bevölkerung in Großbritannien zu verzeichnen, das sowohl in sozial-ökonomischen, wie in geistesgeschichtlichen Entwicklungen seine natürlichen, historisch erkennbaren Ursachen findet.

Bereits in den dreißiger, Jahren des 19. Jahrhunderts hatte mit der beginnenden Industrialisierung Englands eine starke Einwanderung katholischer Irländer eingesetzt, die in den aufblühenden Industriezentren Arbeit suchten. Dieser stetige Einwandererstrom irisdier Katholiken nahm infolge einer sdiwercn Hungersnot, die in den Jahren 1845 bis 1848 das katholische Irland heimsuchte, und der fast eine Million Menschenleben zum Opfer fielen, die Form einer Massenbewegung an. Der Einfluß dieses Ereignisses auf das soziale und religiöse England kann “*wohl kaum überschätzt werden. In dieser Periode der Masseneinwanderung, in der sich die eng-lisdi~Gesamtbevölkerung etwa siebenfach vejmeh^rt^^stieg die Zahl „der, Katholiken um das Fünfzigfache. Die Kirche, die einen sdirittweisen Ausbau geplant hatte, sah sich nun zu radikalen Notstandsmaßnahmen für die seelsorgliche und karitative Betreuung der katholischen Einwanderer gedrängt. Kirchen, Schulen, Heime mußten dringend gebaut, Seelsorger herangezogen werden und neue Pfarrgemeinden entstanden gleichsam über Nacht.

Neben dieser Einwanderungsbewegung ist gleichzeitig eine religiöse Erneuerungsbewegung zu verzeichnen, die in den dreißiger Jahren von Oxford aus unter dem Namen Oxford Movement ihren Ausgang nahm. In scharfer Reaktion gegen den Rationalismus der Aufklärung wandten sich anglikanische Theologen und Universitätsprofessoren, unter ihnen vor allem auch John Henry Newman, gegen die Welle des Unglaubens und religiösen Verfalles und erhoben die Forderung: Zurück zu den Kirchenvätern und*zur Una Sancta Eccle-sia! Anfangs waren die Bestrebungen durchaus Rom feindlich und beabsichtigten innerhalb .der englischen Kirche reformatorisch zu wirken. Unvermeidlich jedoch näherte sich die Bewegung immer mehr der katholischen Kirche, bis sdiließlich nach einer Reihe von aufsehenerregenden Konversionen auch Newman sich im Jahre 1845 mit seiner ihnen einreihte. Ihm folgten eine ganze Reihe von Theologen, Professoren, Schriftstellern und Männern der geistig führenden Sdiichte. So erfaßte die katholische Bewegung in diesen zwei Jahrzehnten das englische Volk in seiner ganzen sozialen Struktur. Die irische Einwande-. rung schuf die breite demokratische Basis und das Oxford Movement drang in die geistig führenden Spitzen der Gesellschaft.

Die Zahl der Katholiken beträgt heute wohl noch weniger als zehn Prozent der Bevölkerung, aber sie erfährt durch die Konversionsbewegung eine stete Zunahme. Im Jahresdurchschnitt zählt man 12.000 bis 15.000 Konversionen. Es liegen jedoch Anzeichen vor, die darauf deuten, daß diese Zahlen in jüngster Zeit beträchtlich höher sind. Einen weiteren Grund für die Ausbreitung des Katholizismus bildet die Tatsache, daß der natürliche Zuwachs der Bevölkerung im katholischen Sektor infolge der kompromißlosen Haltung der Kirche' in der Frage der Geburtenregelung beträchtlich größer ist als in den anderen Gruppen. Auch der Umstand, daß die Kirche Mischehen nur gestattet, wenn der nichtkatholische Eheteil sich verpflichtet, die Kinder in der Kirche taufen und erziehen zu lassen, trägt zur Ausbreitung des katholischen Bevölkerungsteiles bei. Die Hierarchie ist nun vollständig ausgebaut und Großbritannien umfaßt heute fünf Erzdiözesen und neunzehn Diözesen. Die Zahl der Priester beträgt rund 7000. Gewiß gibt es in Großbritannien immer noch einzelne Gegenden und Bezirke, in denen die Katholiken einzeln oder verstreut leben, so daß sie von einer regelmäßigen Teilnahme am kirchlichen Leben ausgeschlossen sind. In anderen Teilen des Landes hingegen findet man oft sehr starke katholische Gemeinden und manchmal einzelne Orte, die fast ganz katholisch sind. Die größeren Städte besitzen alle eine beträchtliche Zahl katholischer Kjrdien und in den Städten wie London und Liverpool hat ein Katholik wohl kaum einen Fußweg von mehr als sieben oder acht Minuten zu seiner nädisten Kirche zurückzulegen. Die rund dreitausend Kirchen, die heute in England und Wales allein bestehen, sind ausschließlich aus den Opfergaben des katholischen Volkes in den letzten hundert Jahren errichtet worden. Fast alle Orden der Kirche besitzen heute wieder Niederlassungen in England. Die katholischen Schulen, besonders der Benediktiner und Jesuiten, sowie die zahlreichen Mädchenschulen der Frauenorden haben ihren alten guten Ruf wieder errungen und werden häufig auch von Kindern aus niditkatholisdien Familien sowie aus Frankreich und Belgien besucht.

Irgendeine politische Organisation der Katholiken ist in England unbekannt. Die Katholiken haben an keine der polltischen Parteien Anlehnung gesucht. Allerdings gibt es in England auch keine politische Partei, die die Kirche oder das Christentum in irgendeiner Wesie angreifen würde. Die Mitglieder der politischen Parteien genießen größte Freiheit in weltanschaulicher Beziehung und keine namhafte politische Partei versucht auch nur Weltanschauungen programmatisch zu vertreten. Die Politik bewegt sich in der ihr eigenen Sphäre. Die abendländische christliche Kultur und Sittentradition wird von allen namhaften Parteien unbestritten anerkannt und respektiert. Die Katholiken sind daher auch in allen politischen Parteien zu finden.

Obgleich sie eine Minderheit darstellen, üben die katholisdien Kreise im geistigen und kulturellen Leben des Landes einen Einfluß aus, der ihre zahlenmäßige Stärke weit überragt. Trotzdem keine katholische Tagespresse existiert, erscheinen zahlreiche katholische Zeitungen als Wochen-blätter in beträchtlichen Auflagen, von denen vor allem andern die führende katholische Wochenschrift „The Tablet“ zu erwähnen ist, die heute im 106. Jahrgang erscheint. Neben diesen Wochenzeitungen kommen noch zahlreiche kleinere Blätter von mehr lokaler Bedeutung heraus sowie sedis sehr beaditenswerte Monatszeitschriften, die sich mit kulturellen, politischen, philosophischen, theologischen und liturgischen Fragen beschäftigen. Eine ganze Reihe katholischer Verlage befaßt sich mit der Herausgabe katholischer Literatur und beweist in ihrer reichen Produktion, daß die Aufnahmebereitschaft für katholische Ideen in England vielleicht noch niemals so groß war wie heute. Das reihe katholische Schrifttum kann natürlich nicht auf den verhältnismäßig kleinen Sektor der katholischen Intelligenz beschränkt bleiben, sondern reicht notwendigerweise weit darüber hinaus.

Endlich muß auch noch die intensive Arbeit erwähnt werden, die in den verschiedenen katholischen wissenschaftlichen Vereinigungen, Studienzirkeln und Akademikergruppen durch Vorlesungen, Schulungskurse und Diskussionsabend: geleistet wird. Wenn man bedenkt, daß diese Vorträge und Diskussionen nicht nur regelmäßig gut besucht, sondern sehr oft überfüllt sind, so kann man sich ein Bild von dem regen geistigen Leben machen, das der Katholizismus gegenwärtig in England entfaltet und darf wohl sagen, daß das katholische Element im englischen Geistesleben zu einem höchst beachtenswerten Faktor geworden ist.

Die Frage, ob diese Ausbreitung der katholischen Ideenwelt die Ursache der immer deutlicher zutage tretenden Aufschließung für echtes abendländisches und gesamteuropäisches Denken in England ist, oder ob umgekehrt diese universale, den engen Nationalismus überwindende Geisteshaltung sich williger der universalen Ideenwelt der Kirche erschließt, ist kaum zu beantworten. Jedenfalls aber kann gesagt werden, daß beide Erscheinungen heute in England sichtbar werden und eine unlösliche innige Wechselbeziehung zwischen ihnen besteht. Die abendländische Idee gewinnt in England immer mehr Boden und der engherzige, jich selbst isolierende Nationalismus, der Europa in die furchtbare Katastrophe der letzten Jahrzehnte gestürzt hat, wird allmählich von der übernationalen abendländischen Ideenwelt verdrängt, die untrennbar mit dem universalen Christentum der Kirche verbunden ist.

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