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Statt Sekte - ein Dialog

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Die indischen Christen begingen im Jahre 1972 den 1900. Todestag des Apostels Thomas, der nach der Überlieferung im Jahre 72 nach Christus in Indien den Märtyrertod erlitten hat. Zugleich begingen die Christen Indiens auch die 1900-Jahr-Feier der Christianisierung des Landes.

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Die indischen Christen begingen im Jahre 1972 den 1900. Todestag des Apostels Thomas, der nach der Überlieferung im Jahre 72 nach Christus in Indien den Märtyrertod erlitten hat. Zugleich begingen die Christen Indiens auch die 1900-Jahr-Feier der Christianisierung des Landes.

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Die indische Kirche zählt rund 7 Millionen Katholiken in über 70 Bistümern. Sie hat zahlreiche Bil- dungsanstalten, von der Volksschule bis zum Universitätskolleg. Sie unterhält große und erstklassige Krankenhäuser, eine medizinische Hochschule und zahllose kleine Dispensarien (Krainkenbehandilungsstel’len), die sich über das ganze Land verteilen. Diese Dienste im Erziehungsund Gesundheitswesen gehören zu den besten in Indien. Sie werden allgemein anerkannt, auch von der Regierung. Ihr Einfluß erstreckt sich nicht nur auf den sozialen Bereich. Sie vermitteln auch geistliche Werte und das Zeugnis eines christlichen Lebens. Dazu kommen noch kirchliche Dienste im karitativen Bereich und ein immer stärker werdendes Engagement im Dienst der nationalen Entwicklung. Weiter stehen auf der Aktivseite der indischen Kirche 14 Theologenkonvikte und Priesterseminare. Kirchliche Berufe sind zahlreich. Die Priester und Priesterkandidaten kommen aus Cho- tanagpur, Goa, Mangalore, Tamil- nadu und besonders aus Kerala. Die Missionen sind überall aktiv, vor allem in Nordindien, wo nur wenige Katholiken leben. Es gibt immer noch Konversionen zum Christentum. Sie sind allerdings nicht mehr so zahlreich und erregen nicht mehr dieses Aufsehen, wie im vergangenen Jahrhundert in Chotanagpur.

Die Kirche ist eine anerkannte Realität in Indien mit mehr Engagement, Institutionen und Einfluß als die verhältnismäßig kleine Zahl ihrer Glieder vermuten ließe. Besonders hervorzuheben ist noch der subtile Einfluß Jesu und seiner Ideen, die unmerklich die Atmosphäre des Lebens in Indien durchdrungen haben.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wenn man sich damit begnügen würde, gäbe man ein zu rosiges und damit falsches Bild von der katholischen Kirche in Indien. So ist der eben erwähnte Einfluß Jesu hauptsächlich auf die Verbreitung westlicher Ideen durch eine westlich geprägte Erziehung und auf die weite Verbreitung des Evangeliums in den Volkssprachen durch die protestantischen Missionen zurückzuführen. Das Bibelapostolat der katholischen Kirche ist heute noch sporadisch und schwach. Ähnlich steht es mit dem Interesse der Kirche an christlicher. Literatur. Die Bedeutung von Ideen, die das Evangelium für das intellektuelle Leben des Mensen fruchtbar machen, muß die katholische Kirche in Indien erst noch begreifen lernen. Ihr überwiegendes Interesse galt bisher der konventionellen Frömmigkeit und den klassischen Institutionen. Das ist einer der Gründe, warum aus der indischen Kirche bisher kejn nennenswerter Beitrag zur christlichen Theologie gekommen ist, obwohl man eigentlich bei der eindrucksvollen theologischen Gedankenarbeit Hindu-Indiens etwas anderes erwarten müßte.

Eine andere Tatsache, die die indischen Katholiken beunruhigt, ist das Unvermögen der Kirche, eine spürbare Kraft im Strom des nationalen Lebens zu werden. Irgendwie ist sie eine Randerscheinung geblieben. Die Katholiken machen nur P/z Prozent der Bevölkerung aus, Trotz der 1900jährigen Präsenz der Kirche in Indien, trotz der vielen Institutionen und der langen theologischen Ausbildung der Priester und Missionare. Die Kirche war nicht in der Lage, die gebildeten, wirtschaftlich und gesellschaftlich unabhängigeren Volksschichten anzuziehen, nicht einmal diejenigen, die aufrichtig nach der Wahrheit suchten. Es gibt noch keine stichhaltige Analyse der Gründe für diesen Zustand. Man hat oft hingewiesen auf die starke Bindung des einzelnen durch Kaste und religiöse Gemeinschaft; auf die Verflechtung der christlichen Religion mit dem europäischen Kolonialismus; auf die Spaltungen in der Kirche und zwischen den Kirchen; auf den ausländischen Charakter von Theologie, Liturgie, Riten und kirchlichen Strukturen und schließlich auf die Tiefe und den umfassenden Charakter der religiösen Erfahrung der Hindus.

Es gibt militante und politisch organisierte Hindugruppen, die in der christlichen Kirche einen Feind nationaler Tradition und eine Gefahr für die nationale Einheit sehen. Sie haben erlebt, wie der Islam zur Teilung Indiens geführt hat, und stehen deshalb der Ausbreitung einer anderen semitischen Religion mißtrauisch gegenüber. Ein weiterer Kreis von Indem hat noch gut im Gedächtnis, daß die Christen in der Kolonialzeit eine sehr privilegierte Gruppe waren, daß sie sich eng an ausländische Mächte anlehnten und wie schwer sie sich mit der Unabhängigkeitsbewegung taten. Ein unterschwelliges Ressentiment kommt auch daher, daß in vielen Gebieten die Mehrheit der Inder für eine gute Erziehung und medizinische Versorgung von einer verschwindend kleinen christlichen Minderheit abhängt, weil diese Minderheit unerschöpfliche finanzielle und personelle Mittel aus dem Ausland zur Verfügung hat. Alles Faktoren, die der Kirche die Massen in dem Maß entfremden, in dem der Sozialismus an Boden gewinnt. Die Kirche hat zwar grundsätzlich die Würde und die Rechte des Menschen verkündet und damit die Saat der Revolution gesät; sie erschrickt aber, wenn diese Saat zu sprießen beginnt. Sie hat eine modeme Erziehung ins Land gebracht und dadurch in der Jugend den kritisch forschenden Sinn geweckt, aber sie ist alarmiert und unvorbereitet, wenn dieser kritische Sinn sich auf überlieferte religiöse Forderungen, Formulierungen, Praktiken und Strukturen richtet.

Es wird immer klarer, daß die Zukunft der Kirche in Indien fast ganz auf dem Gebiet des Dialogs liegt. Hierbei sind nicht in erster Linie organisierte Gespräche zwischen Menschen verschiedenen Glaubens gemeint, sondern ein neuer Lebensstil, der die ganze Kirche und alle ihre Glieder angeht. Die Kirche muß aufhören, wie eine Kaste oder Sekte neben dem Strom des indischen Lebens zu existieren. Sie muß in diesen Strom eintauchen. Sie muß die Zusammenarbeit mit den Menschen aller Religionen und Weltanschauungen suchen. Sie muß sich befreien von so manchem engen und isolierten Programm und mitarbeiten in gemeinsamen Unternehmungen und Organisationen mit dem Staat und anderen gesellschaftlichen Gruppen für die Entwicklung des Landes und die volle Befreiung des Menschen. Nur so ist es möglich, eine neue Ordnung zu errichten, die der Würde des Menschen entspricht und auf das Reich Gottes hinweist.

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