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Bricht Indien auseinander?

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Europa starrt gebannt auf den ethnisch-nationalistischen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und zeigt sich schockiert über den Rechtsextremismus in den eigenen Ländern. Ähnliche Tendenzen bedrohen auch ein Land in Fernost: Indien hat einen deutlichen Ruck nach rechts gemacht. Die dringend notwendigen Wirtschaftsreformen sind durch einen hinduistischen Fundamentalismus gefährdet. Auch dort wird inzwischen mit Lichterketten gegen Intoleranz und Fanatismus protestiert.

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Europa starrt gebannt auf den ethnisch-nationalistischen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und zeigt sich schockiert über den Rechtsextremismus in den eigenen Ländern. Ähnliche Tendenzen bedrohen auch ein Land in Fernost: Indien hat einen deutlichen Ruck nach rechts gemacht. Die dringend notwendigen Wirtschaftsreformen sind durch einen hinduistischen Fundamentalismus gefährdet. Auch dort wird inzwischen mit Lichterketten gegen Intoleranz und Fanatismus protestiert.

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Nach John Major und Boris Jelzin haben sich für Februar auch der deutsche Kanzler Helmut Kohl und Spaniens Felipe Gonzales zu Wirtschaftsgesprächen in Indien angesagt. Der riesige Subkontinent gilt immer noch als vielversprechender Zukunftsmarkt (und sei es für Militärmaterial), obwohl dieser Ruf nach den Unruhen im Dezember angeknackst ist.

Bereits vergangenen Herbst hatte sich Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel mit einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation auf dem Subkontinent umgesehen. Nicht ohne Grund: Österreichs Exporteure leiden massiv unter der Krise beim traditionellen Handelspartner Deutschland. Sie sind, wie die meisten europäischen Unternehmen, gezwungen, sich auch außerhalb Europas um Marktpräsenz zu bemühen. 280 heimische Exporteure haben daher bereits begonnen, den indischen Markt zu beackern. Das Ergebnis sind österreichisch-indische Kooperationen, Produktionsstätten, Lizenzverträge und Kapitalbeteiligungen.Auch Fahrzeuge, Eisen und Stahl „made in Austria” sind geschätzte Güter geworden; gefragt ist ferner österreichisches Know-how beim Bau von Autobahnen, Kraftwerken, Eisenbahnen und Umweltschutzeinrichtungen.

Besucherhaben inzwischen auch den Eindruck, dieses Land will westwärts, es will modernisieren und endlich die Fesseln des Nehru-Sozialismus mit einer veralteten Staatswirtschaft, Fünf-Jahres-Plä-nen, Abschottung und einer wuchernden Bürokratie abstreifen, der dem Land letzlich einen Anteil am Welthandel von nicht einmal einem Prozent beschert hatte (siehe FURCHE 29/1992). Mit Premierminister Narasimha Rao und Finanzminister Manmohan Singh scheinen auch die richtigen Männer an der Spitze zu stehen, die diese notwendigen Reformen tatkräftig durchzusetzen versuchen. Das ist schwer genug im „Armenhaus” Asiens, das Prognosen zufolge im Jahr 2000 eine Milliarde Menschen zählen wird und in dem ein Großteil der Bevölkerung unter miserablen Bedingungen leben muß.

Noch im letzten Halbjahr berichteten die Medien von beneidenswerten Wachstumsraten, einem Tourismusboom, der erfolgreichen Öffnung der Wirtschaft, der Teil-Konvertibilität der Rupie, starkem Interesse japanischer und koreanischer Investoren. Zeitungskommentatoren träumten sogar davon, Indien könne in absehbarer Zeit dem aufstrebenden Wirtschaftsriesen China ernsthaft Paroli bieten.

Doch der 6. Dezember 1992 riß Indien aus seinen Träumen. Der Ausbruch brutaler Gewalt zwischen Moslems und Hindus nach Abriß der 464 Jahre alten Moschee im nordindischen Ayodhya entsetzte die Bevölkerung, Bilder von Mord und Totschlag, Fanatismus und eskalierendem Haß mit mehr als 1.000 Toten gingen um die Welt. Innerhalb weniger Tage waren wichtige Wirtschaftszentren Nordindiens lahmgelegt. In der Metropole Bombay loderten die Flammen, schlugen Menschen einander die Köpfe ein, die eine Woche zuvor noch nebeneinander gelebt hatten. Streiks, Unruhen, eine unberechenbare Stimmung und Ausgangssperren standen plötzlich wieder auf der Tagesordnung.

Eine temporäre Erscheinung, wie sie in der Dritten Welt ohnehin hin und wieder einmal vorkommt?

Wahrscheinlich nicht. Denn hinter den Ereignissen vom Dezember steht eine massive national-religiöse Bewegung, die beängstigend rasch politischen Einfluß gewinnt und Indien zu einem instabilen, explosiven und unsicheren Partner für wirtschaftliche Interessen und Investitionsabsichten gemacht hat. Diese fundamentalistischen Kräfte sägen beharrlich am modernen indischen

Staat und seinem Fundament, der strikt säkularen Verfassung.

Der politische Arm dieser Bewegung ist die Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei), die innerhalb von fünf Jahren den Sprung zur stärksten Oppositionspartei schaffte (1 19 von 545 Sitzen im Unterhaus). Indien soll eine national-politische Einheit werden, deren Ausdruck der Hinduismus ist, lautet ihre für viele Menschen attraktive Parole. „Hindu-stan den Hindus”: zum Programm der Partei gehören daher auch Schlagworte wie „Hindu-Identität” und „Hindu-Nation”. Das Ziel ist ein neues, „reines” Indien, ohne religiöse Zersplitterung und auch nicht krampfhaft bemüht, dem Westen wirtschaftlich hinterherzuhecheln. Andersgläubige (siehe Kasten unten) müßten sich dem Hinduismus unterordnen. Tun sie das nicht, ist für sie kein Platz mehr.

Das organisatorische und religiöse Rückgrat ist das nationale Freiwilligenkorps RSS (Rashtriya Swayama-sevak Sangh). Diese in den zwanziger Jahren gegründete Kampforganisation gegen Kolonialismus und Fremdherrschaft versteht sich als Wiedererwek-kungspartei (aus ihren Reihen kam übrigens auch der Mörder Mahatma Gandhis) und zählt in Nordindien bereits geschätzte 3,5 Millionen Anhänger. Die RSS kann massiv ein weitverzweigtes Netz von Schulen, Verlagshäuser, Studentenorganisationen für ihren politischen Kampf einsetzen. Weiters kämpfen noch die radikale Vishwa Hindu Parishad (weltweite Sammelbewegung der Hindus) und eine Mitte der achtziger Jahre gegründete Jugendorganisation, die „Schlägertrupps” je nach Bedarf auf die Straße schicken kann. Unterstützung kommt auch von der Shiv-Sena-Organisation („Armee der Gottheit Shiva”). Ihr Führer, Bai Thackeray, sagte vergangene Woche im TIME-Magazin: Wenn die Moslems nicht von selber gehen, müsse man sie hinauswerfen. Angesprochen auf den Vergleich mit den vertriebenen Juden in Nazi-Deutschland meinte der Führer: Wenn sich die Moslems hier benehmen wie die Juden in Deutschland, dann brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn sie wie diese behandelt werden...

Zulauf erhalten diese Gruppen nicht nur von leicht mobilisierbaren Slum-bewohnern ohne Zukunftsperspektiven. Auch Absolventen höherer Schulen sehen in der BJP eine attraktive Alternative. Sie sind frustriert, weil für sie kaum mehr Chancen auf einen guten Posten in der Regierung bestehen, denn rund zwei Drittel der Jobs sind reserviert für Minderheiten, Stammes- und Religionsangehörige, Unterkasten et cetera. Viele Moslems haben es auch augenscheinlich zu bescheidenem Wohlstand gebracht, täglich strömen moslemische Flüchtlinge aus Bangladesh und Pakistan nach Indien.

Indiens moslemische Nachbarn Pakistan und Bangladesh, aber auch der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate, an deren Öl Indien hängt und wohin es Tausende Gastarbeiter schickt, haben bereits verärgert die Augenbrauen gehoben angesichts ihrer bedrängten Glaubensbrüder auf dem Subkontinent.

Citha D. Maß, Südasienexpertin der „Stiftung Wissenschaft und Politik”, ein deutscher Thinktank für Weltpolitik in Ebenhausen, sieht wenig Chancen für eine friedliche Lösung dieses Konfliktes. „Hindus lernen während ihrer Sozialisation nicht, wie sie mit Konflikten konstruktiv umgehen sollen. Diese Gesellschaft hat trotz Demokratie kaum Mechanismen entwickelt, um Frust und Spannungen abzuladen” erklärt sie im FURCHE-Gespräch. Viel lieber weiche man in anonyme Großaktionen aus. Vor kurzem wurde allerdings gegen den wachsenden Fanatismus auch mit Lichterketten wie in Europa demonstriert. Ob es hilft, wird sich zeigen. Denn wo die schweigende Mehrheit Indiens steht, werden erst die nächsten Wahlen beweisen.

Mit ihrem religiösen Fanatismus schneiden sich die Hindus allerdings ins eigene Fleisch. „Durch die Vorgänge im Dezember wurde das wirtschaftliche Reformprogramm Indiens entscheidend geschwächt”, befürchtet Maaß. „Bis jetzt torpedierte die BJP Raos Bemühungen nicht. Doch das ist jetzt anders. Der Premierminister ist jetzt mit seiner Minderheitsregierung auf die Unterstützung der linken Opposition im Parlament, darunter zwei kommunistische Parteien, angewiesen”.Und denen war der Schwenk in Richtung Marktwirtschaft ohnehin immer ein Dorn im Auge. Sie werden jetzt wohl die Reformen, wo immer sie können, bremsen.

Einheit ist keine „heilige Kuh”

Die Regierung sieht sich noch mit einem zweiten Problem konfrontiert. In Indien wird derzeit an einem Tabu-Thema gerührt, das die Spannungen noch erhöht. Schon nach dem Kollaps der UdSSR fragten nicht nur Intellektuelle, sondern auch Politiker, ob eine Auflösung des Subkontinents nach Vorbild der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in der ehemaligen Sowjetunion) nicht besser wäre.

Aber wäre ein zerfallenes Land tatsächlich besser dran?

Indien-Expertin Maaß verneint diese Frage: „Dieses Land ist so dezentral, vielschichtig und heterogen, daß nur diese vielen kleinen Steinchen zusammen existieren können. Keiner der Bundesstaaten verfügt über die wirtschaftliche Stärke oder eine nationale Vergangenheit, die für Unabhängigkeitsbestrebungen wiederbelebt werden könnte.” Für die Wissenschaftlerin ist eine andere Entwicklung besorgniserregend: „Bei den kommunalen Unruhen wird immer mehr die reguläre Armee eingesetzt, da die indische Polizei stark von der BJP durchsetzt ist. Sie übt daher den Schutz der moslemischen Minderheit nur mehr unzureichend aus. Das gleiche gilt für paramilitärische Gruppen”. Derzeit sei die indische Armee noch nicht politisiert, aber die Gefahr nehme bei jedem Einsatz zu.

Wer sich derzeit in Indien um Handelspartnerumsieht, ist jedenfalls gut beraten, auch die politischen Entwicklungen genau zu beobachten.

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