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Moraji Desai: „Ich bin Gottes Werkzeug“

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In der Woche nach der Wahl kam die Sommerhitze und es gab Gewitter und Sandstürme. Sie künden, wie man sagt, einen unberechenbaren Monsun an. Doch im Dorf Pithly bei Delhi können selbst die bösen Vorzeichen nicht alle neuerwachten Hoffnungen auslöschen. Wo früher Hoffnung und Angst nur in den kritischen Monaten herrschten, gibt es jetzt politische Erwartungen. Kritiklos und gehorsam hatte Pithly früher immer die Kongreßpartei gewählt. Aber an diesem 16. März 1977 haben sich fast 70 Prozent für die Opposition, für Janata oder den „Kongreß für Demokratie“, entschieden.

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In der Woche nach der Wahl kam die Sommerhitze und es gab Gewitter und Sandstürme. Sie künden, wie man sagt, einen unberechenbaren Monsun an. Doch im Dorf Pithly bei Delhi können selbst die bösen Vorzeichen nicht alle neuerwachten Hoffnungen auslöschen. Wo früher Hoffnung und Angst nur in den kritischen Monaten herrschten, gibt es jetzt politische Erwartungen. Kritiklos und gehorsam hatte Pithly früher immer die Kongreßpartei gewählt. Aber an diesem 16. März 1977 haben sich fast 70 Prozent für die Opposition, für Janata oder den „Kongreß für Demokratie“, entschieden.

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Der Prozeß der Regierungsbildung präludiert den Stil der Regierung. Anstelle der emotionellen, mit sich selbst uneinigen Nehrutochter Indira steht jetzt der Patriarch, der von sich sagt: „Ich kenne keinen Zweifel an mir“ und: „Ich bin ein Werkzeug Gottes“. Sein Wille ist unbeugsam. Er ist Demokrat. So werden die Mittel, den Willen durchzusetzen, nicht Ausnahmezustand und Demokratieabbruch sein, sondern im Krisenfall die harte, von wenig Milde getrübte Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“.

Die Strenge seiner Züge hat das Alter nicht gemildert. Ihn, den disziplinierten Brahmanen, darf nichts Weltliches ergreifen. So hat auch der Selbstmord seiner Tochter, der er die Ehe mit einem Mann aus niederer Kaste verboten hatte, seine Gelassenheit nicht erschüttert. Sein schmales Gesicht ist faszinierend. Er trägt das Gewand der Jünger des Mahatma Gandhi: weiße Tücher, hausgewebt, aber aus kostbarem Material, und er weoh- selt das Gewand einige Male am Tag. Er hat 1925 mit dem fünften Kind seine Pflicht, männliche Nachkommen zu haben, hinter sich gebracht und lebt seither als Brachmacharya enthaltsam. Enthaltsamkeit sieht er auch heute als die einzige moralisch gerechtfertigte »Begrenzung des Bevölkerungsüberschusses an.

Moraji Desai hatte sich dem Mahatma angeschlossen. Gandhis Freiheitsbewegung und Desais religiöses Sendungsbewußtsein ließen sich gut aufeinander abstimmen. Nach dem Kriege wurde Desai Kongreßbaron in

Bombay, das damals Maharashtra und Gujarat umfaßte: Prohibition, Maßnahmen gegen das Rauchen in öffentlichen Lokalen, gegen Prostitution wußte er, der persönlich unantastbar blieb, um den Wert der Mobilisierung von Finanzmächten für die politische Macht des Kongresses in der Textilmetropole. Und er, der gegen die Macht mit den Mitteln des gewaltlosen Widerstandes gekämpft hatte, ließ, selbst an der Macht, alle Mittel zur Durchsetzung von Recht und Ordnung spielen. Gewehrsalven der Polizei bei Streiks und Unruhen markierten seine Amtszeit als Chefminister von Bombay. Während einer Finanz- und Devisenkrise war Jawaharlal Nehru dann gezwungen, den harten Finanzpolitiker aus Bombay in die Unionsregierung zu holen. Moraji Desai löste durch unpartensche und soziale Finanzgesetze die Devisenkrise, fiel aber 1968 der politischen Krise in der Kongreßpartei zum Opfer. Indira Gandhi, damals noch eher antiautoritär, setzte ihn, mit anderen Kongreßpatriarchen, vor die Kongreßtür.

Neun Jahre lang, Wochen in Hungerstreik, Monate im Gefängnis, ist Moraji Desai der große Unbeirrbare der Opposition und des Widerstandes gegen Indira Gandhi gewesen. Wo war da politische Opposition, wo der Haß des traditionsgebundenen Asketen aus der Provinz gegen den Glanz der kung westlicher Ideen mit indischer Nobilität?

Der letzte Abschnitt in einem Brahmanenleben heißt Sanyäsi: Meditation und Abgeklärtheit als Vorbereitung auf den Tod. Der Fromme löst sich von seiner Familie und sucht die Einsamkeit. Moraji Desai sagt, er habe im Gefängnis Verstehen und Verständnis gelernt: „Ich sehe vieles ganz anders, als ich es jahrzehntelang gesehen habe.“ Als ein abgeklärter Moralist strebt er die moralische Erneuerung der indischen Politik an. Brahmanen aus Gujarat, die ihn gut kennen, sagen, die Haft sei sein Sanyasi gewesen. Ob er Zelot geblieben oder Sanyasi geworden ist, kann das Schicksal der indischen Demokratie bestimmen. Moraji Desai wird jedenfalls der ganzen Weisheit eines Sanyasi bedürfen, will er verhüten, daß die aus allen Ex-Oppositionsgruppen gesammelte Regierung zerfallt. Hier in Indien geht die Freude an der wiedergewonnenen» Demokratie in einen fast beängstigenden Glauben an die Zukunft über.

Die Regierungspartei hatte eine Reis- und Curry-Wahlkampagne geführt: „Seht, um wie viel besser es euch geht!“ Die Verbesserung in den vergangenen zwei Jahren war unleug bar. Dennoch haben sie, die immer am Rande der Not leben, das Indira-Regime und den Ausnahmezustand weggewählt. Dann ist die Euphorie des Wahlsieges aus der Stadt in das Dorf gedrungen. Doch der Haß ist draußen geblieben. Kein altes Wahlplakat mit dem Photo der Indira Gandhi wurde abgerissen. Nirgends hing eine Strohpuppe am Galgen mit dem Namensschild „Sanjai Gandhi“. Im neuen Parlament von Delhi versuchen erfolgreiche Abgeordnete, Haß gegen die Unterlegenen im Lande auszusäen. Wer weiß denn auch, ob Haß nicht nützlich sein könnte? Man kann einige Zeit von ihm leben, wenn man nichts Besseres findet. Ist einmal der politische Frühling vorbei und wird die indische Demokratie wieder von Krisen erschüttert, dann dürfen kritische Demokraten im Westen nicht vergessen, welches Beispiel hier vom Volk gesetzt worden ist! Jetzt, im April, hat Betretenheit die Stimmung in Pithly zu dämpfen begonnen. Denn der unnahbare Asket Moraji Desai, nicht der Jag- jivan Ram, ein Dörfler wie sie alle, ist Ministe rpräsident’geworden.

Der vereinten Opposition ist es nicht leicht gefallen, sich zum geeinten Regierungsblock zu mausern. Der Rekordsieg der Hauptpartei Janata zerriß alle Koalitionsberechnungen. Außer dem gemeinsamen Bekenntnis zur Demokratie gibt es wenig Bindendes. Hinduzeloten, kastenbewußte Kulaken, Gandhianer, Sozialisten, Dorfanarchisten mit ihren verschiedenen Parteien sollten da zu einer einzigen Partei zusammengekocht werden. Im Übergangsprozeß ging zuerst der Plan des Zusammenschlusses der beiden großen Ex-Oppositionsparteien, der in den Gefängnissen unter dem Ausnahmezustand entstandenen Janata und des erst im Wahlkampf gegründeten „Kongresses für Demokratie“, verloren. Jagjivan Ram, der ewige Unbe- rührbare in der Kongreßpartei, hatte mit seinem Austritt aus Regierung und Regierungspartei und seiner Gründung des „Kongresses für Demokratie“ das Schicksal des Indira-Regimes besiegelt und man nahm an, er werde

Ministerpräsident werden. Er scheiterte, trotz Unterstützung durch die sozialistischen Fraktionen der Janata, an der Unbeugsamkeit des einund- achtzigjährigen Janataführers Moraji Desai. Der trägt den Auftrag, die Familie Nehru abzulösen, seit zwei Jahrzehnten im Herzen. J. P.’ Narayan, Stammvater des Volkswiderstandes gegen das Indira-Regime und das „Gewissen Indiens“, war an einem seiner dialysefreien Tage bereits nach Delhi gekommen, um die Vereinigung von Janata und „Kongreß für Demokratie“ zu segnen. Er konnte nur noch den offenen Bruch zwischen den Führern der beiden Oppositionsparteien verhindern und Jagjivan Ram ebenso wie Janata-Sozialisten dazu überreden, trotz aller Demütigungen durch ihren Beitritt dem neuen Kabinett den Anschein der demokratischen Einheit zu geben. Von Parteienvereinigung und dem damit angepeilten Zwei-Par- teien-System kann keine Rede mehr sein.

Die Zügigkeit, mit der die Schlüsselpositionen besetzt wurden, verrät vorhergegangene Vereinbarungen. Plötzlich war es unbestritten, daß Moraji Desai, und kein anderer, Ministerpräsident werden könne. Und hinter Morgji Desai stand Chaudhury Charan Singh, Führer der kosakenähnlichen Bauernkaste, der Jats, als Innenminister. Die Wirtschaftsministerien kamen in Hände von Fachleuten, deren Abhängigkeit von der politischen Führung jedoch unverschleiert ist. Vajpayee, ein Liberaler von der in Janata integrierten Hindu-Religionspartei, übernahm das Außenministerium. Er könnte das Zeug dazu haben, ein Staatsmann zu werden. Doch Jana Sangh breitete ihren Einfluß auch auf das Informationsministerium und auf das Unterrichts- und Kulturministerium aus. Die in Janata integrierten Sozialisten, deren Sternstunde der Einheit und Größe die neunzehn Monate des Widerstandes gegen Indiras Regime war, wurden mit Randministerien abgespeist. George Fernandes, der 1974 mit seinem Eisenbahnerstreik Indira um ein Haar gestürzt hätte und der bis zu seiner Wahl in Haft gehalten wurde, ist Postminister.

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