Festbleiben in der Wahrheit

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Martin Luther King begann sein Engagement nach ausführlicher Lektüre Mahatma Gandhis. Der indische Freiheitskämpfer ist immer noch der beeindruckendste Zeuge für die Kraft der Gewaltfreiheit.

Wie weit Gandhis Engagement und seine Denkschule die weltweite Politik beeinflusst hat, ist beachtlich und erstaunlich. Deutlich wurde mir dies zum ersten Mal, als ich las, dass Martin Luther King sein Engagement für die Schwarzen nach ausführlicher Gandhi-Lektüre begann. King und seinen Mitstreitern ist immerhin die Aufhebung der Rassengesetze in den USA zu verdanken - ein Beleg, dass es Gandhi als Bürger eines Entwicklungslandes geschafft hat, wesentlichen Einfluss auf die Politik der USA zu nehmen, und zwar 7 bis 17 Jahre nach seinem Tod. Wer sonst hat das geschafft?

Es begann in Südafrika

Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) befasste sich mit einer religiös-politischen Ethik, von der er überzeugt war, dass sie uns befähigt, soziale Gerechtigkeit herzustellen, politische Freiheiten und Rechte zu erkämpfen, persönlich berechtigte Wünsche der Selbstachtung zu verteidigen, vor allem aber Konflikte zu lösen. Der Titel "Mahatma" (Große Seele), von Ravendranath Tagore geprägt, drückt aus, dass Gandhi mehr als religiöse denn als politische Autorität betrachtet wurde. Gandhi selbst betrachtete sich vermutlich als einen religiösen Menschen, der versucht, eine Lebensreform in Indien durchzuführen. In seinen Ashrams, Schulen und Zentren wurden Hygiene, Lesen und Schreiben, Ernährung, Landwirtschaft, politische Demokratie ebenso gelehrt und geübt wie die Fähigkeit, Hilfe zu leisten, sich zu organisieren, zu verteidigen, solidarisch zu sein, Leiden zu ertragen und alle Menschen zu achten. Eines der wichtigsten Grundprinzipien waren interreligiöse Solidarität und gegenseitiger Respekt.

Auf Indien beschränkt ist die Politik Gandhis schon deshalb nicht, weil alles, was er als sein politisches Vermächtnis verstand, in Südafrika begonnen hat und die ersten 20 Jahre (1894-1914) dort erprobt und in Theorie und Praxis entwickelt wurde. Die Stellung der indischstämmigen Südafrikaner in der dortigen Gesellschaft ist bis heute wirksam mit jenen eindrucksvollen Aktionen verbunden, die unter Gandhis Leitung erfolgreich gegen die Diktatur von Jan Christiaan Smuts stattfanden, der Gandhi mehrmals einkerkern ließ, und mit dem Gandhi später eine lebenslange Freundschaft pflegte.

Gewaltfreier Kampf

Erst ab 1916, also mit 47 Jahren, begann Gandhi aktiv in Indien zu wirken. Er wurde dort genauso wie heute in Europa wegen seiner religiös-moralischen Argumente und seinem immer bei sich selbst beginnenden Ethos belächelt. Die Tatsache, dass seine Politik in der "Kongress-Partei" mehrheitsfähig wurde, war zeitlich begrenzt, und er wurde dort auch jahrelang ausgegrenzt und nicht ernst genommen. In den zwanziger und dreißiger Jahren führte er den Vorsitz, wobei er seine Arbeit von der Bedingung abhängig machte, dass nach den Grundsätzen von Satyagraha, einer von ihm entwickelten religiös-ethischen Theorie vorgegangen werden sollte. Etwas schwach lässt sich der Name mit "gewaltfreier Kampf" übersetzen, wörtlich bedeutet er: "Festbleiben in der Wahrheit".

Wegen Salz ins Gefängnis

Indien hatte zur Zeit der Gandhi'schen Unabhängigkeitsbewegung etwa 300 Millionen Einwohner, heute sind es 1,1 Milliarden. Was Gandhi - wie nur wenigen Politikern - gelang, war die Belebung politischer Aktionen unter persönlicher Beteiligung von Millionen Menschen - ohne dass Fanatismus und Gewalt aufkam. Diese Massen mussten dabei mehr Risiko auf sich nehmen als bei einer Demonstration oder Unterschriftenliste. Sie verpflichteten sich in einem persönlichen Gelübde zu gewaltfreiem, kompromisslosem Kampf in einer bestimmten Sachfrage, der in aller Regel bedeutete, ein koloniales Unrechtsgesetz zu übertreten.

Bekanntestes Beispiel ist die Provokation gegen das britische Salzmonopol von 1930. Diese Aktion führte zur Verhaftung von etwa 200.000 Inderinnen und Indern, wobei die Gefängnisse so überfüllt wurden, bis die britische Regierung zugab, die Millionen, die man konsequenter Weise noch verhaften hätte müssen, einfach nicht mehr unterzubringen. Die Folge war die Zurücknahme des Salzgesetzes, aber nicht die formelle Unabhängigkeit Indiens.

Gandhi hat bei solchen Aktionen eine beispiellose Kommunikation mit Massen - auch Analphabeten - erreicht. Diese Menschen entdeckten, dass ihr persönliches Handeln für die indische Unabhängigkeit entscheidend war. Gandhi selbst war überzeugt, dass dies das Wesen einer sinnvollen Revolution gegen Unrecht ist: konsequentes dagegen Handeln, ohne die Person des "Feindes" selbst zu schädigen, ja sogar ohne schlecht über ihn zu denken. Er war überzeugt, dass die Inder die Engländer durch Leiden für Gerechtigkeit überzeugen und gewinnen, sie also zu einer freiwilligen Aufgabe der Herrschaft bewegen konnten. Er warf seinen Landsleuten vor, die britische Unrechtsherrschaft indirekt durch Unterwürfigkeit und Nachahmung der westlichen Sitten selbst zu stützen. Indem man diese eigenen Fehler überwinde, beschreite man auch den Weg zur Freiheit.

Am Ende gescheitert

Es ist belegt, dass es Gandhi weniger um die formale Unabhängigkeit einer indischen Republik, als um die Erziehung der Menschen Indiens zu der Fähigkeit ging, ihre Wirtschaft, ihr politisches System und ihre Regierenden selbst zu kontrollieren. Er sagte, dass darin das Wesen der Demokratie liegt. Gandhi wollte die indische Nation von innen her verwandeln und erkannte früh das Problem des religiösen Hasses, auf den die Engländer in ihrer Politik konsequent setzten. Geschickt hetzten sie die Muslime dazu auf, die größte Gefahr in der Machtübernahme durch die Hindu-Mehrheit zu sehen: Sie untergruben systematisch jeden Ansatz indischer Demokratie.

Gandhi selbst hat sich Ende seines Lebens als gescheitert betrachtet, v.a. weil es ihm nicht gelungen war, die Teilung des Landes (in Indien und Pakistan) zu verhindern.

Enormes Erbe

Den offiziellen Unabhängigkeitsfeiern vom August 1947 blieb er - der prominenteste und bedeutendste Unabhängigkeitskämpfer - aus Protest dagegen fern. Während sich andere Kongresspolitiker relativ früh auf die Teilung einließen, wollte Gandhi unter allen Umständen ein pluralistisches, nicht-nationalistisches und v.a. nicht konfessionelles Indien, das für alle Platz hatte. Er schlug in der Übergangszeit sogar der (hinduistischen) Kongress-Führung vor, die gesamte Regierungsgewalt in die Hände der Moslemliga (also einer Minderheitsfraktion) zu legen, um die Muslime davon zu überzeugen, dass die Hindus nichts gegen sie vorhätten. Damit ist er tatsächlich gescheitert.

Trotzdem ist das Erbe enorm und es gibt wenige Politiker des 20. Jahrhunderts, die vergleichbare Errungenschaften für so viele Menschen hinterlassen konnten: allein die Tatsache, dass in dem zweitgrößten Land der Welt, einem rücksichtslos ausgebeuteten und verarmten Kolonialland, eine stabile Demokratie über 50 Jahre lang bestehen konnte, ist einmalig. Man vergleiche diese Lage mit jenem politischen Chaos, das die abziehenden Kolonialmächte (England, Frankreich ...) wenige Jahre später in Afrika zurück ließen. Nigeria, Kongo (Zaire) und viele andere Großstaaten landeten in grausamen Folterdiktaturen und korrupten Clan-Regimes. Die brutale britische Politik der zwanziger Jahre hätte dasselbe in Indien bewirkt, wenn nicht eine starke innere Disziplin und ein konsequenter Aufbau eigener, indischer Organisation und Solidarität statt gefunden hätte.

Oberflächliche westliche Beobachter meinen, Gandhi hätte "leichtes Spiel" gehabt, weil die Briten sich "wie Gentlemen" in Indien benommen hätten. Dem ist entgegen zu halten, dass britische Offiziere als Antwort auf Gandhis gewaltfreie Aktionen etwa 1919 ein Massaker an 1.600 unbewaffneten Zivilisten verüben ließen: diese wurden samt Kleinkindern auf einem öffentlichen Platz zusammengetrieben, eingekesselt und im Maschinengewehrfeuer erschossen. Mutwillige öffentliche Demütigungen, Erschießungen, Folter und Terror der Briten waren an der Tagesordnung.

Im Zeitalter der Atombombe

Als sich die Briten 1945/46 zum Rückzug entschlossen, war die Spaltung zwischen Hindus und Muslimen so groß, dass es zu einer Art "ethnischer Säuberung" kam. Massenweise mussten Hindus die muslimischen Provinzen des Nordens (Pakistan und das heutige Bangladesch) verlassen, während die Muslime aus den Landmassen Indiens vertrieben wurden. 1,5 Millionen Menschen fanden in diesem Bürgerkrieg den Tod. Es ist Gandhis Fastenaktionen und seiner Ermordung im Jänner 1948 zu verdanken, dass dieser Krieg durch eine freiwillige Selbstbeschränkung völlig gestoppt werden konnte.

Die Armeen hatten bereits kapituliert und der Krieg wurde von einer unkontrollierten Soldateska fortgeführt. Gandhi erwirkte durch seine letzten Aktionen die freiwillige Selbstverpflichtung auch der radikalsten islamischen und hinduistischen Parteien zum Gewaltverzicht und eine einseitige Reparationszahlung der indischen Regierung an Pakistan.

Als man Gandhi im August 1945 die Frage stellte, ob man angesichts der Atombombe mit der Gewaltfreiheit noch etwas ausrichten könne, sagte er: jetzt ist eine Zeit gekommen, in der die Menschheit nur mehr mit der Methode der Gewaltfreiheit Politik machen kann. Wenn sie diese Methode nicht erlernt, wird sie sich kollektiv selbst ausrotten.

Der Autor ist in der Diözese Linz als Referent für Friedensbewegung und Sozialethik tätig; er hat 1990 das Buch "Widerstand aus Liebe. Mahatma Gandhi, die Gewaltfreiheit und die Neuen Sozialen Bewegungen" veröffentlicht.

AKTUELLE BÜCHER ZU GANDHI:

* MAHATMA GANDHI. Von Dietmar Rothermund. Beck'sche Reihe, München 2003. 128 Seiten, TB, e 8,20

* MAHATMA GANDHI. Meister der Spiritualität. Von Anand Nayak. Herder, Freiburg 2002. 160 Seiten, TB, e 9,10

* MAHATMA GANDHI. Politiker, Pilger und Prophet. Von Sigrid Grabner. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2002. 352 Seiten, TB, e 9,10

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