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Kondottieri der Gewerkschaften

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Nur wenige Tage vor der Explosion der Testbombe in Raja-stan standen die Eisenbahner in ganz Indien noch im Generalstreik. Über die Grenzen der 17 Bundesstaaten trieb der Generalstreik die Krise des Indira-Regimes dem kritischen Punkt zu. Die Explosion der Testbombe unterbrach die Entwicklung der politischen Krise zur Explosion. Über die Grenzen der 17 Bundesstaaten löste eine befreiende Großmachteuphorie — wie nach Bangladesch — die Empörung und die Niedergeschlagenheit ab. Die Grenzen der Bundesstaaten haben bisher jede nationale Reform und jede nationale Rebellion verhindert Regierung und Exekutive bauten darauf. Doch der Generalstreik der Eisenbahner kann eine neue Epoche ankünden, in den Gewerkschaften, in der Gesellschaft, in der Republik der 600 Millionen Menschen.

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Nur wenige Tage vor der Explosion der Testbombe in Raja-stan standen die Eisenbahner in ganz Indien noch im Generalstreik. Über die Grenzen der 17 Bundesstaaten trieb der Generalstreik die Krise des Indira-Regimes dem kritischen Punkt zu. Die Explosion der Testbombe unterbrach die Entwicklung der politischen Krise zur Explosion. Über die Grenzen der 17 Bundesstaaten löste eine befreiende Großmachteuphorie — wie nach Bangladesch — die Empörung und die Niedergeschlagenheit ab. Die Grenzen der Bundesstaaten haben bisher jede nationale Reform und jede nationale Rebellion verhindert Regierung und Exekutive bauten darauf. Doch der Generalstreik der Eisenbahner kann eine neue Epoche ankünden, in den Gewerkschaften, in der Gesellschaft, in der Republik der 600 Millionen Menschen.

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Der Zug fuhr von Bombay ab. Niemand wußte, ob er in Ahmeda-bad ankommen werde. Er blieb 50 Kilometer vor Ahmedabad stehen. Die Eisenbahner von Gujarat standen im Streik. Doch die Eisenbahner in Maharashtra wollten vom Streik nichts wissen. Die Staatsgrenzen der 17 Bundesstaaten trennen die Eisenbahner der Indischen Union. Nicht nur die Eisenbahner.

Als im Februar die Polizei im Bundesstaat Gujarat Kriegsrecht gegen die Bevölkerung wochenlang praktizierte, war der benachbarte Bundesstaat Maharashtra ein Musterbeispiel von Ruhe und Ordnung. Damals sagte mir Feldmarschall Sam Manekshaw, der superenglische Sieger von Bangladesch: „Gujarat ist kein Grund zum Alarm. Staatsgrenzen, Kastenfeindschaften, Gewerkschaftsrivalitäten sind stärker als Empörung und Aufstand. Erst wenn eine Rebellion die Staatsgrenzen bricht, sind Delhi und die Union in Gefahr.“ Im Mai war es dann soweit. Der Generalstreik der Eisenbahner legte das größte Verkehrsnetz Asiens still: 60.000 Kilometer totes Gleis, von Amritsar nach Madras, zwischen Kalkutta und Bombay. Zwei Millionen Eisenbahner im Streik.

In den viktorianischen Bahnhofshallen der großen Städte kampierten nicht mehr Tausende von Bauernfamilien auf der großen Stadtreise ihres Lebens, Zehntausende von Arbeitslosen der ewigen Notstandsemigration, sondern bewaffnete Polizisten. Gepanzerte Hilfszüge der Armee rangierten auf den Lastentrassen. Uniformierte Stoßtrupps des militärischen Arbeitseinsatzes hatten die Remisen und Werkstätten in Quartiere des Streikbruches verwandelt. Die Gefängnisse, nahe den Eisenbahnknotenpunkten, sind überfüllt von den 15.000 Eisenbahnern, die als Streikführer verhaftet wurden. Zweimal seit 1946 hatten die Gewerkschaften den Generalstreik probiert. Die Versuche sind mißlungen. Aber dieser Generalstreik der Eisenbahner, im Mai 1974, hat zum erstenmal in der jungen Repu-lik eine Bewegung des Protestes über die Grenzen der Bundesländer, der Kasten, der rivalisierenden Gewerkschaften getragen. Das Leben der 600 Millionen Menschen auf den 3,200.000 Quadratkilometern der Union lähmend, wurde der Generalstreik der Eisenbahner zu einer Kraftprobe zwischen den Gewerkschaften und dem Regime Indira Gandhi. Und die Streikenden zwangen die gesamte Opposition, von der rechten Hindustaatspartei, der Jana Sangh, bis zu den illegalen Marxisten-Leninisten, hinter sich; selbst die durch Indiras j anusköpf ige Innen- und Außenpolitik stark schizophren gewordenen Moskau-Kommunisten.

Indira Gandhi erkannte die Gefahr. Wie 1919 die sozialdemokratischen Führer in Deutschland, sprachen 1974 die Führer der Kongreßpartei des indischen Sozialismus die Sprache des Klassenkampfes mit dem Text des Streikbruchs. Und die Regierung in Delhi saß auf einem längeren Ast als die Eisenbahner mit ihren Gewerkschaften und die Einheit der Opposition zerfiel unter dem souveränen Griff der Tochter Nehrus. Wie der unterirdische Atomversuch in Indien zeigte, muß wirtschaftlicher Notstand nicht unbedingt auch Rüstungsnotstand bedeuten. Und meist hebt die wirtschaftliche Not die Verteidigungsbereitschaft gegen den inneren Feind. Unter dem Druck der Exekutive und angesichts der Anzeichen von Lähmung und Zerfall in der Republik begannen die Gewerkschaften sich der großen Zuchtmeisterin in Delhi zu beugen. Wieder heißt es, Indira habe die Katastrophe abgewehrt.

Doch in den Gewerkschaften hört man es anders. Daß es zu dieser Kraftprobe überhaupt kommen konnte, zeigt die neuen Möglichkeiten der Gewerkschaften, die traditionellen Grenzen des Protestes zu überwinden. Die Exotik der indischen Gewerkschaftswelt hat bisher dem Einfluß der Politiker und dem Spiel der Unternehmer alle Tore geöffnet. Unzählige Gewerkschaften, lose in politische Föderationen verknüpft, werden von außenstehenden Kondottieri des Arbeitskampfes geführt. Kondottieri wenden sich aber nach dem Wind und hören — unter Zwang — auch auf die Stimme des proletarischen Fußvolkes, das ihr Brötchengeber ist. Waren bisher die von den Parteien beauftragten, von den Belegschaften angeheuerten und oft von den Unternehmern bestochenen Sekretäre und Präsidenten der Gewerkschaften ein Element des politischen und wirtschaftlichen Chaos, so können sie morgen die große Unruhe der Basis über Arbeiterbewegung, Industrie und Union ausbreiten. Einer der wenigen proletarischen Funktionäre der Bergarbeitergewerkschaften in Westbengalen sagte mir: „Wir sind jetzt in der Stimmung, Delhi und die ganze Union nach unserer Pfeife tanzen zu lassen. Es fehlt uns nur der Supergewerk-schaftsführer aus unseren Reihen, den Chor zu einigen und zu dirigieren.“ Mit dem Wunsch scheint auch der Mann sich einzufinden.

Am 1. Mai wurde in der industrialisierten Stadt der verblühten Mogulpracht Lucknow der Georges Fer-nandes von der Polizei verhaftet: Führer der Taxifahrer von Bombay, Führer von Transportarbeitergewerkschaften und einer eigenen Föderation, über Nacht Vorsitzender des CNCCRS, der Kampfkomitees der Eisenbahnarbeiter geworden. Zwölf Stunden später legitimierten die Eisenbahner durch einen Proteststreik den Sozialistenführer aus Bombay als ihren Führer. Zwölf Stunden dauerte der Proteststreik, der eine Generalprobe für den kommenden Generalstreik war. Als später der unbefristete Generalstreik aller Eisenbahner ausbrach, schrieb George Fernandes aus dem Gefängnis von Tihar der Indira Gandhi; er sei bereit, durch Verhandlungen die Katastrophe eines Generalstreiks der Eisenbahner von der Republik abzuwenden; Bedingung: Freilassung aller verhafteten Streikfunktionäre. Indira Gandhi zog es vor, der drohenden Katastrophe in ihrem neuen Stil entgegenzutreten: feste Hand gegen die Kräfte des Chaos und gegen Rivalen. Doch der Arbeiterführer mit dem wachsenden Charisma beginnt ein ernster Gegenspieler der großen Dame mit dem welkenden Charisma zu werden. Aus dem Gefängnis entlassen, wird er als Probe seiner Führerfähigkeit eine Herkulesarbeit verrichten müssen. Der alte Augiasstall der tausenden Gewerkschaften muß von den politischen Kreaturen und von den Söldnern gesäubert werden. Unter dem Himmel des indischen Subkontinents wird freilich jede Herkulesarbeit zur Sy-siphusarbeit.

Gewerkschaften sind in Indien einige Male erfunden worden. Ende des vergangenen Jahrhunderts erzwangen die Unternehmer der britischen Textil-Grafschaft Lancashire Arbeitsgesetze in der britischen Kronkolonie Indien und inspirierten die Gründung von indischen Gewerkschaften. Sie wollten sich die billige Konkurrenz vom Halse schaffen. '• W18 gründete ein Führer1 des Indischen Nationalkongresses die Labour Union von Madras. Von da an schössen die Gewerkschaften wie Pilze aus dem Feld. Die beiden Wurzeln waren in jeder. Sie wurden politisch und wirtschaftlich von fremden Kräften dominiert, von fremden Politikern geführt. Später wurde unter der Schirmherrschaft Mahatma Gandhis eine Textilarbeitergewerkschaft gegründet, die als einzige Gewerkschaft auch heute noch diesem Na-riien gerecht wird. Und unter der Schirmherrschaft des Indischen Nationalkongresses wurde der' AITUC, (Allindischer Gewerkschafts-Kon-gfeß) ins Leben gerufen; Werkzeug-des Machtkampfes der Führer des indischen Freiheitskampfes. Natürlich kam es bald zu einem Tauziehen zwischen Kongreß und Kommunisten. 1929 stritten zwei hochgeborene Brahmanen um die Führung und um die Seele der indischen Gewerkschaften; Nehru für den Kongreß, Dange für die Kommunisten. Teilung folgte jeder Teilung. Was blieb, war nur die Ohnmacht der Industriearbeiter und die Führung in den Händen der Statthalter des Nationalkongresses und der Kommunisten.

Am Tag der indischen Unabhängigkeit setzte der Verfall ein. Wildes Parteiengründen — und jede Partei behielt oder gründete ihre Gewerkschaftsföderation. Aber keine Partei hatte mehr die moralische Kraft, aufrechte Funktionäre einzusetzen und die Eingesetzten zu kontrollieren. Desperados, Gescheiterte mit Parteiverbindungen und manchmal Goondas, Gewalttäter, deren Dienste die Parteien durch Pfründen abgelten wollten, kämpften, um Arbeiterstimmen zu bekommen. Für die ziemlich fetten Gehälter und die weiten Verdienstmöglichkeiten von Gewerkschaftspräsidenten und Gewerkschaftssekretären setzten sie alle Mittel ein: Terror, Stimmkauf, Hinauflizitieren von unerfüllten Gehaltsforderungen. Nur wenige fühlten sich vor den Arbeitern, die sie gewählt hatten und bezahlen, verantwortlich. Viele entzogen sich auch der Parteikontrolle. Und die Wirtschaft war der Kampfplatz ihrer Ambitionen, der Tummelplatz ihrer Rivalitätskämpfe. Die Arbeiter selbst dürfen wählen — unter den von fernen Parteisekretariaten Auserwählten. Und sie müssen dem Söldner mit Parteiempfehlung folgen; Alternativen sind nicht gestattet. Nie kam es den Arbeitern in den feudalistisch-kolonialen Zeiten in den Sinn, daß sie sich selbst führen könnten. Die Unabhängigkeit hat an dem gewerk-schafts- und wirtschaftsmörderischen System der unmündigen Arbeiter und der fremden Heuerlinge nichts geändert — bisher. Wirtschaft und Gewerkschaft ziehen sich gegenseitig in die Tiefe.

Die Eisenbahnergewerkschaften waren lange Zeit eine Ausnahme: Elite im Freiheitskampf. Dann unterlagen auch sie dem Sog. Jetzt aber zeichnet sich eine neue Einheit ab, ein Führer aus ihrer Mitte erringt die Anerkennung aller. Und in einem Generalstreik lernen Indira und die Ihren die Gewalt einer neuen Kraft, eines ernsten Gegners kennen. Die Gewerkschaften lernen, ohne Kondottieri zu leben und nicht nur für sich, auch für das Land, das vor dem Zerfall steht, die Verantwortung zu tragen. Ein Strohhalm im Meere Indien?

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