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Indiras Großmachtträume

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Seit dem Frühjahr hat Indien alle Vorsicht fallengelassen. Früher hatte man sich in Delhi um eine Normalisierung der Beziehungen mit China — soweit es das Bündnis mit Moskau zuließ — bemüht. Jetzt aber ist New Delhis Asienpolitik ein ständiges Ignorieren, wenn nicht Provozieren Pekings. Sicher kränkt Moskau sich darüber nur wenig. Doch es ist unwahrscheinlich, daß Moskau die eigenwillige Indira Gandhi in eine Politik solcher Mißachtung des Nachbarn treiben kann. Und es hat den Anschein, daß Indien aus eigenem Antrieb den Kampf um die Position der ersten Großmacht Asiens aufnimmt. Die indischchinesische Feindschaft ist seit 1962 ein Axiom der indischen Politik. Die antichinesische Stimmung ist parallel mit den indischen Großmachtansprüchen gewachsen und reicht von links nach rechts. Die Atomexplosion hat das Selbstbewußtsein gestärkt. Jetzt aber glaubt man in Delhi, daß die Nachfolge-Mao- Probleme in China Indien als As in die Hände spielen könnten.

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Seit dem Frühjahr hat Indien alle Vorsicht fallengelassen. Früher hatte man sich in Delhi um eine Normalisierung der Beziehungen mit China — soweit es das Bündnis mit Moskau zuließ — bemüht. Jetzt aber ist New Delhis Asienpolitik ein ständiges Ignorieren, wenn nicht Provozieren Pekings. Sicher kränkt Moskau sich darüber nur wenig. Doch es ist unwahrscheinlich, daß Moskau die eigenwillige Indira Gandhi in eine Politik solcher Mißachtung des Nachbarn treiben kann. Und es hat den Anschein, daß Indien aus eigenem Antrieb den Kampf um die Position der ersten Großmacht Asiens aufnimmt. Die indischchinesische Feindschaft ist seit 1962 ein Axiom der indischen Politik. Die antichinesische Stimmung ist parallel mit den indischen Großmachtansprüchen gewachsen und reicht von links nach rechts. Die Atomexplosion hat das Selbstbewußtsein gestärkt. Jetzt aber glaubt man in Delhi, daß die Nachfolge-Mao- Probleme in China Indien als As in die Hände spielen könnten.

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Noch vor kurzer Zeit waren selbst den von Minderwertigkeitsgefühlen wenig heimgesuchten Politikern und Diplomaten in New Delhi die Herausforderung Pekings zum Rivalitätskampf als Vermessenheit erschienen. Jetzt glaubt man aber, aus Berichten und Analysen die ersten Anzeichen des Zerfalls von Maos Reich noch vor dessen Tod erkennen zu können. Unter solchen Voraussetzungen wäre eine Kontinuität der Versuche zur Normalisierung der Beziehungen mit Peking der Ver zicht auf die Chancen der Zukunft; so wenigstens meint man in politischen und in diplomatischen Kreisen New Delhis. Man spricht hier von den ersten Erscheinungen einer Rückkehr des chinesischen Warlor- dismus; Selbstherrlichkeit der Provinzgeneräle imd Sekretäre unter politischer Camouflage und Schwächung der Zentralgewalt Und noch ist Mao nicht tot. Zerfallserscheinungen in China als Folge des Todes Maos würden New Delhi die Möglichkeit einer „Normalisierung“ der

Beziehungen mit dem geschwächten Peking nach eigenem Diktat in die Hände spielen — als asiatischer Großmacht und als ebenbürtigem Partner der Welt- und der Erdölmächte.

Man kann nicht feststellen, ob die „Geheimberichte“, angeblich in Indira Gandhis Händen und von ihr sehr emstgenommen, indisches Wunschdenken, sowjetische Fabrikation oder Realität sind; wahrscheinlich von jedem etwas. Sie sind keinesfalls — so wird von allen mehr oder weniger Eingeweihten beteuert — made in Hongkong, in der Garküche der internationalen Chinaauguren. Und es ist beeindruckend, daß die wenigen, eher chinafreundlichen Chinaexperten, wie eine Myra Sinha von der Universität New Delhi in ihren Analysen, wenn auch nicht in den Schlußfolgerungen, mit den chinafeindlichen Experten übereinstimmen.

Drei synchronisierte Kampagnen in China weisen auf den Notstand infolge der Schwächung von Mao und Tschu En-lai hin. Im Moment der Aufnahme Tschu En-lais in das Spital begann eine Kampagne gegen die politische Häresie, eine andere zur Projizierung aller revolutionären Kräfte auf die Produktion und eine dritte, die wichtigste, für den revolutionären Kampf um Recht und Ordnung, für „die Sicherung der Diktatur des Proletariats“. Recht und Ordnung scheinen in etlichen Provinzen gefährdet zu sein. Und wo die Ordnung wiederhergestellt wurde, hält nun der Militärkommandant die Zügel in seinen Händen. Meldungen über Unruhen kamen aus dem klassischen Unruheherd Kiangsi, mit Schanghai an der südlichen Grenze. Sie waren die Folge der Versetzung von Kiangsis volksheldenhaftem Militärkommandanten Hsu Shih-yu n&ch Kanton. Die Ruhe wurde unter der Paust des neuen Militärkommandanten wiederhergestellt. Doch Hsu Shih-yu, als der populärste und mächtigste General auch der gefährlichste „Warlord“

der Zukunft, befestigt militärisch und politisch seinen neuen Militärkreis als sein Herrschaftsgebiet. In anderen Provinzen sind es wieder die Parteigewaltigen, die Selbstherrlichkeit auf Kosten der Zentralgewalt suchen. Ein neuer Parteikader der Armee und Politik-Agitpropaktivisten ist bereits der Zentrale weitgehend entzogen und untersteht

— je nach den lokalen Machtverhältnissen — den linksextremen Revolutionskommttees oder den bürokratischen Parteiseikretariaten. Das sind einige der Informationen, die Indiens Chinapolitik beeinflussen.

Berichte über die Auflösungszeichen beschleunigten Indiens Grenzabsicherung durch die Einverleibung des Königtums Sikkim. Indische Militärs sehen die Sikkimaktion gar nicht als Sicherung gegen Peking, sondern vielmehr als Sicherung gegen aggressive Provinzmachthaber, die Pekings Kontrolle entgleiten könnten. Pekings Reaktion war lautstark — doch sonderbar war das Fehlen eines starken Echos unter den anderen Staaten Asiens; nur Nepal, das sich von Indiens Großmachtpolitik bedroht fühlt, schaltete sioh als Lautverstärker der Proteste Pekings ein. In den anderen Staaten Asiens wartet man ab.

Nur die Rettung Indiens durch Indiens Großmachtposition kann die Formel zum Verständnis der Politik der Indira Gandhi sein. Je unentwirrbarer die innenpolitischen Verstrickungen, je unlösbarer das wirtschaftliche Chaos, desto entschlossener strebt Indira Gandhi ihrem Ziele zu. Für ihren Weg bringt sie starke Voraussetzungen mit. Erst sich selbst, dann die größte und am besten gerüstete Armee im nichtkommunistischen — wahrscheinlich sogar in ganz — Asien. Die Masse von 600 Millionen Menschen mit einem jährlichen Wachstum von fünfzehn Millionen ist Macht an sich. Und Indiens Industrie, wenn auch siech und parasitär, stellt das Land an die zwölfte Stelle der Industriemächte. Mit diesen Kräften hat Indira ihrem Land die dominierende Position in Südasien erkämpft. Sie hat mit dem Schah von Iran die Möglichkeiten einer gemeinsamen Lösung der Graßraumprobleme abgeschätzt. Und sie zwingt durch diese Leistungen die UdSSR, Indien trotz allem als ebenbürtigen Bündnispartner anzuerkennen.

Ist aber Indien die erste Großmacht Kontinentalasiens, dann sind die Weltmächte und die Erdölmächte gezwungen, die Unabhängigkeit und Ebenbürtigkeit voll zu respektieren, für die politische und für die wirtschaftliche Stabüität die Mit- yerantwortung zu tragen. Indien als Partner im Weltmachtsystem ist gerettet. Und Chinas Schicksal nach Maos Tod ist Indiens Schicksalfrage.

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