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Armee der Gegensätze

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Zwei Geräusche sind es, die ehemalige US-Gefangene der Nordkoreaner bis heute zu hören meinen, wenn von der roten Armee der Chinesen gesprochen wird. Jenes Schürfen und Stapfen, das die Luft von Horizont zu Horizont erfüllte, wenn, in Staubschwaden gehüllt, die Füße in Lumpenbündeln, die Heerhaufen Mao Tse-tungs am Stacheldrahtzaun vorbeimarschierten — und über diesem Geräusch das Tag und Nacht nicht verstummende Schmettern der Signaltrompeten.

Stumm blickten damals Yankees und Briten auf die Reihen schlitzäugiger Masken, die schweigend vorüberzogen, Kochutensilien auf Tragstangen zwischen den Reihen balancierend, und auf die bäurisch gekleideten Offiziere Marschall Tschu Teh's, die, in Ermangelung von Schreibpapier, ihre Bestandsrechnungen auf kleinen Ritzbrettchen durchführten. Und kopfschüttelnd sahen die UNO-Soldaten dann in den gelbstaubigen Himmel, durch den, wie durch Zauberei auftauchend, silbrig blitzende Mig-15-Staffeln peitschten.

Ein Heer der Gegensätze war es damals, bei dem es außer akustischen Signalen beinalie kein Nachrichtenwesen gab, aber über dessen Luftleitstellen moderne Radarahtennen um ihre Achse schwirrten. Soldaten, die keinen Meldeblock kannten und doch ihre Leinentornister mit politischen Schulungsbroschüren vollgestopft hatten; ein scheinbar stumpfsinniges, Ameisenheer gelber Breitgesichter, deren Schlitzaugen wochenlang ausdruckslos auf den Deckenpack des Vordermannes starren konnten, wie sie mit asiatischer Nüchternheit aus den Glaskanzeln der damals modernsten Düsenjäger der Welt nach einer nordamerikanischen „Sternschnuppe“ zu visieren wußten. Nun spricht man wieder von den braunen Kampfameisen Maos. Blieben es dieselben Heerhaufen, die dem Westen aus Korea vertraut sind?

Die Armee des kommunistischen Chinas, die gegenwärtig mit 2,500.000 Aktiven die größte Landmacht Asiens darstellt und der heute 200.000 Flieger und Matrosen zur Seite stehen, hat seit Korea ihr Gesicht gewandelt. Die gleichsam im Sparbuch der Bedürfnislosigkeit der „Volksbefreiungsarmee“, der VBA, angewachsenen Guthaben wurden abgehoben und investiert. Nicht länger gilt hier aas Dogma Stalins, daß die „permanent wirkenden Faktoren“, die weltanschauliche Sicherheit und die dadurch gewonnene Entschlossenheit des Mannes für den Enderfolg eines Krieges allein wichtig wären, nicht aber die Qualität der Waffe, die er führt. Die Bauernarmee von Yünan, die einst ganz China erobert hatte und die auf nichts so stolz war, wie auf den 6000-Kilometer-Marsch in den Jahren 1934/35, hat gelernt, mit all ihren entgötterten Sinnen Panzerwagen, blitzende Düsenjäger und glattpolierte Granaten zu lieben, den Reiz einer gebügelten Uniform zu schätzen und nächtelang, wie über schwer enträtselbaren Liebesbriefen, über den mit zyril-lischen und chinesischen Schriftzeichen bedruckten Gebrauchsanleitungen von Feldtelephonen, optischen Entfernungsmessern und Verbrennungsmotoren zu grübeln.

Die Offiziere haben die koreanische Lektion gut memoriert, die ihnen vor Augen führte, daß selbst ein Riesenheer, wie das chinesische, in dem Augenblick, wo nicht ein kontinentweites Land seine Guerillataktik der nächtlichen Ueberraschungsmärsche, der kunstvollen Umzingelung des Gegners und des schnellen Rückzuges zur Geltung kommen läßt, ohne moderne Gliederung und ohne zeitgemäße Waffen ins Hintertreffen gerät. Und sie haben die seit Korea verflossenen Jahre genützt. Die Hunderttausende, die heute in Blickweite der Inseln Tschiang Kai-scheks aufmarschieren, würden wahrscheinlich von den GI-Koreaveteranen nicht mehr wiedererkannt werden.

Eine der Hauptursachen für die Stärkung der Volksbefreiungsarmee ist in der veränderten Einstellung der chinesischen Bevölkerung zum Soldatentum zu suchen. Zum erstenmal in der vieltausendjährigen Geschichte Chinas wird der Soldat nicht als deklassierter, plündernder Landsknecht betrachtet, sondern als eines der Lieblingskinder der Nation. Er soll das leuchtende Fernziel der „progressiven Menschen“ Chinas erreichen helfen, die Einverleibung des ganzen südostasiatischen Kontinents dem „Lager des neuen Menschen“. Die Befreiung Formosas, der von „verblendeten Brüdern“ besetzten Insel im Gelben Meer, soll der längst erwartete erste Schritt auf diesem Weg sein. Nach dem Vorbild der roten Volksbefreiungsarmee Chinas werden, so hoffen viele Mitbürger Mao Tse-tungs, einst die „freien Heere“ des ganzen mongolischen und siniden Asiens organisiert sein. Bald nach der Rückkehr aus Korea wurde deshalb die Armee auch äußerlich umgeformt. Aus den Anführern ärmlich gekleideter Bauernkohorten wurden elegante Offiziere mit Ordensreihen auf der Brust, mit blitzenden Gürtelschnallen und goldenen Achselklappen. Aus der Truppe wurden die sogenannten Radieschen entfernt, jene Auch-Rotarmisten, die bei einem Guerillaheer zur Not noch geduldet werden konnten, für die aber in weltanschaulich „ausgerichteten“ Einheiten kein Platz mehr war.

Die Offiziere und Kommandanten der vier riesigen Feldarmeen, die unmittelbar nach der Revolution in den sieben Militärdistrikten Chinas stellenweise auch administrative Gewalt ausübten, wurden aus Gründen, die jeder Chinakenner einsehen wird, solch ausgedehnter Amtsgewalt entkleidet und auf das Kommando ihrer engsten Einheit beschränkt. Die Scheitelfäden der einzelnen Heeresgruppen aber liefen nunmehr alle in Peking zusammen und kreuzten sich allein in den Händen Mao Tse-tungs. Die noch an Bauernaufgebote erinnernden 215 je 6000 bis 7000 Mann starken Divisionen der Volksbefreiungsarmee im Jahre 1950 wurden zu 150 Divisionen mit je 12.000 Kämpfern zusammengefaßt, und diese nach sowjetischem Muster präzise in Bataillone, Kompanien und Rotten gegliedert.

Dann wandten sich die gelben Armeereformer den bisher völlig vernachlässigten nichtkämpferischen Gliederungen zu, den Nachschubeinheiten und dem Sanitätskorps. In einer Armee, zu deren Unterstützung Ueberschall-düsenjäger in den Erdkampf eingriffen, vollzog sich bis dahin beinahe der gesamte Nachschubverkehr auf Kulikarren und auf Maultierrücken. Auch gab es kaum etwas, das den Sanitätsabteilungen westlicher Heere nahekommen würde. Pflegerinnen und Aerzte für die Truppe waren seltener Luxus. Auch von diesem Blickpunkt aus sind die ungeheuren Verluste zu verstehen, die das rote Heer Mao Tse-tungs in den jahrzehntelangen Kriegen gegen seine Widersacher zu beklagen hatte. Aus Korea kehrten rund 840.000 Mann nicht wieder, jede der roten Großoffensiven gegen Tschiang Kai-schek in den Jahren 1944, 1945, 1947 und 1948/49 kosteten der Volksbefreiungsarmee jeweils annähernd 500.000 Kämpfer.

Doch um neue Kraftwagen, Feldtelephone, Funkgeräte, Geschütze und- Flugzeuge anschaffen zu können, benötigte China Milliarden von Juan. War diese Grundausrüstung einer modernen Armee aber einmal gekauft, mußte ein Strom von Bestandteilen, großkalibriger Munition, Ersatzmotoren und anderer noch nicht im Lande selbst erzeugter Spezialprodukte nach China fließen, der weitere Millionen verschlang. Jede, aber auch jede Geldquelle in ihrer Reichweite hatten die Führer in'Peking zum Fließen zu bringen, um neben den lebenswichtigsten Rohstoffen und technischen Ausrüstungsgegenständen des alltäglichen Bedarfes den Bedürfnissen der Armee nachzukommen. Sie zapften alle verfügbaren Depots des chinesischen Nationalbesitzes an und ließen sich von dem Taschengeld der Volksschulknirpse ebenso den Juan für eine Panzerniete spenden, wie sie die verborgenen Kapitalien der noch in China verbliebenen freien Gewerbetreibenden durch „freiwillige Opfer“ zu schmälern wußten. Daneben gingen vom ordentlichen Budget bis zum Jahre 1957 rund 48 Prozent für Waffenimporte an die Sowjets, die sich ihre brüderliche Hilfe an Rotchina sehr wohl bezahlen ließen.

Erst allmählich bauten sich die Chinesen, ebenfalls mit Hilfe sowjetischer Techniker und unter Verwendung ganzer Betriebsausrüstungen aus der UdSSR, die Anfänge einer eigenen Schwerindustrie auf. Waren die Düsenjägerstaffeln des Koreakrieges noch ausschließlich russische Produktion, so flog im September 1956 unter tosendem Jubel der blaugekleideten Arbeitermassen Maos die erste Kette nach sowjetischen Plänen im Lande selbst fabrizierter Mig 17.

Auch auf anderen Sektoren der Wehrtechnik entwickelten die Chinesen, nun schon teilweise mit Hilfe embargobrechender westeuropäischer Staaten, ihre eigenen Erzeugungsbetriebe. Im Vorjahr brauchten die Staatsplaner in Peking, nach den Worten des Oberkommandierenden der Armee, Marschall Peng Teh Huai, nur noch 20 Prozent des Staatsbudgets für Waffen und Ausrüstung ins Ausland fließen zu lassen.

Die Führer der so von Tag zu Tag moderner ausgestatteten Armee der Rotchinesen blieben hart und behielten ihre Mißachtung für Menschenverluste bei. Viele von ihnen haben noch die triefend nassen Lehmhöhlen von Jünan im Gedächtnis, aus jenen Tagen, da Mao Tse-tung, damals noch ein kleiner Rebellenführer, sich seine Lungentuberkulose holte, die er trotz jährlicher Kuraufenthalte im trocken-kalten Sibirien bis heute nicht völlig ausheilen konnte.' Gemeinsam mit den übrigen geistigen Führern des roten Chinas sind auch die Offiziere überzeugt, aus den Quellenwerken des Marxismus den Kommunismus reiner herausgelesen zu haben als die russischen Bolschewiki, und sind nicht unter allen Umständen bereit, in den Sowjets auch weltanschaulich den größeren Bruder zu sehen. Die Offiziere Mao Tse-tungs sind vielleicht die kompromißlosesten Kommunisten der Welt — sie sind dies vor allem anderen —, darnach Chinesen und erst an dritter Stelle Verbündete Rußlands. Für ihre Form des Kommunismus aber, für den „demokratischen Zentralismus“, wie sie es nennen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso zäh und verbissen einstehen, wie sie den Weg aus den Lehmhöhlen Nordchinas in den Kaiserpalast Pekings fanden.

Nur ein Hindernis steht den politischen Führern Maos, wie auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, auch was die Armee anlangt, auf dem Weg zur Großmacht China entgegen: der seit der Revolution nur geringfügig verringerte Anteil von Analphabeten unter den Festlandchinesen. Man konnte in Rußland innerhalb der 40 Bestandsjahre des kommunistischen Regimes einem Großteil der Schreib- und Leseunkundigen zur Not die 35 Zeichen des zyrillischen Alphabetes beibringen und sie so aufnahmefähig für technische Neuerungen machen. Viel länger dürfte es dauern, bis die 600 bis 800 Millionen über ein Riesenreich verstreuter Chinesen die mehreren tausend Bildsymbole ihrer archaischen Schrift gelernt haben werden. Und ohne diese Grundvoraussetzung wird es für die Volksbefreiungsarmee trotz aller Anstrengungen ein Problem bleiben, beispielsweise ein modernes Nachrichtenwesen aufzubauen oder auf anderen Gebieten weitere technische Vervollkommnungen ihrer Einheiten über eine gewisse Grenze hinaus anzustreben.

So dürfte es trotz khakifarbener Gabardineuniformen der Offiziere, trotz Maschinenpistolen und schon teilweise motorisierter Transporteinheiten unter einem von chinesischen Luftgeschwadern erfüllten Himmel immer noch eine Armee der Gegensätze bleiben, die sich vielleicht in den nächsten Tagen in die rund tausend Dschunken der nur aus Küstenschiffen bestehenden Marine Rotchinas einschiffen wird.

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