6877383-1978_48_01.jpg
Digital In Arbeit

Gericht über Mao

Werbung
Werbung
Werbung

Seit zwei Jahren bemüht sich die Führung der Volksrepublik China unterder Ägide des überaus fähigen Vizepremiers Teng Hsiao-ping, das schwere Erbe Mao Tse-tungs, der in den Jahren seiner Senilität eine Katastrophe nach der anderen (der „Große Sprung vorwärts“, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Kulturrevolution) in die Wege geleitet hatte, zu überwinden.

Maos realitätsfremde Forderungen nach völliger Autarkie und nach der permanenten Revolution warfen Chinas wirtschaftliche Entwicklung um Jahrzehnte zurück. Heute fehlt dem Riesenvolk eine ganze Generation von Fachleuten unter den 30- bis 40jährigen; es sind die Millionen von Roten Garden, die auf Maos Geheiß die Schulbänke verließen, um die ganze Struktur der Partei, der Bürokratie, Wirtschaft und Wissenschaft weitgehend zu zerstören. Heute sind sie zu einem Fellachendasein verurteilt; ohne Qualifikationen stehen ihnen keine Führungsstellungen offen.: Schlimmeres aber steht ihnen heute bevor.

Am 15. November erschien in der „Pekinger Volkszeitung“ ein Artikel, der scharf einen Aufsatz Yao Wen-yüans, der im November 1965 in einer Shanghaier Zeitung erschienen war, kritisierte. Der betreffende Aufsatz Yaos war ein kritischer Kommentar zu einer Serie von Geschichtsdramen, die der Vizebürgermeister von Peking, Wu Han, verfaßt hatte. Nach der in China seit jeher üblichen Methode schilderte dieser die Passion eines ehrenwerten Beamten am Hof der korrupten Ming-Dynastie, meinte aber in Wirklichkeit Peng Teh-huai, der kurz zuvor von Mao als Verteidigungsminister abgesetzt worden war, nachdem er es gewagt hatte, die Katastrophenpolitik des „Großen Sprungs vorwärts“ und der Volkskommunen zu kritisieren.

Durch diese Dramen strebte der Verfasser die Rehabilitierung des verdienten alten Genossen an. Yaos Verriß der Stücke gab das Signal zum Beginn der Kulturrevolution. Mao hatte die Anspielungen nur zu wohl verstanden. Der Dramatiker wurde als Rechtsabweichler gefeuert, mit ihm aber auch der Bürgermeister von Peking selbst, Peng Tschen. Die beiden waren die ersten Opfer der Kul-

turrevolution, die die Veteranen des Großen Marsches und der Yenan-Verbannung zum großen Teil verschlang. Yao Wen-yüan aber verdankte diesem Artikel seinen schnellen Aufstieg in die obersten Ränge der Hierarchie, bis er als prominentes Mitglied der „Viererbande“ in den Umsturz nach Maos Tod verwickelt wurde.

Eine Studentin namens Nieh Yüan-tze hängte damals an der Pekinger Universität eine Wandzeitung auf, in der sie die Universitätsleitung heftig angriff, weil sie die Kritik an den Dramen Wu Hans zu unterdrük-ken suchte. Sie erntete dafür hohes Lob von Mao und nahm in der Kulturrevolution eine führende Stellung in Peking ein. Dafür wurde sie nun vor einer Woche mit vier Spießgesellen verhaftet. Ein Schauprozeß ist in Vorbereitung.

Diese erste Führergarnitur der Roten Garden wird angeklagt, den Tod mehrerer Professoren und Kommilitonen an der Universität Peking ver-

ursacht zu haben. Auch Verbrechen gegen Staat und Partei werden ihnen zu Lasten gelegt. Es ist durchaus möglich, daß dies nur der Auftakt zu einer Abrechnung großen Stils mit den Verantwortlichen für die furchtbaren Exzesse der Roten Garden ist. In dem erwähnten Artikel von Mitte November wird gegen die Revolutionäre und die Viererbande der schlimmste Vorwurf im Parteichinesisch erhoben: „faschistische Politik“. Daß auch die Viererbande selbst vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Artikel könnte auch dafür ein Signal bedeuten.

Teng Hsiao-pings Mühlen mahlen langsam, aber sicher. Zwei Jahre dauerte es, bis er den schärfsten Exponenten seiner Gegner im Zentralkomitee, den Bürgermeister von Peking, Wu Teh, zur Strecke brachte. Zur selben Zeit aber fand landauf, landab ein gewaltiger Austausch von Kadern statt. Zu Tausenden wurden die Opfer der Kulturrevolution, die

abgesetzten, mißhandelten, geschändeten alten Technokraten und Militärs, rehabilitiert.

Teng ist ein Mann in Eile. Er weiß, daß ihm nur noch wenige Jahre vergönnt sind, um die gigantischen Pläne zur Modernisierung Chinas zu verwirklichen. Hindernd stehen ihm nicht nur die überlebenden „Radikalen“ im Wege. Die einander so schnell folgenden Wechsel in der Führungsspitze mit den jähen Änderungen des Kurses machten die Kader vorsichtig. Könnten die „vier Modernisierungen“, die jetzt Trumpf sind, nicht wieder ebenso schnell zum alten Eisen geworfen werden, falls nach dem Abtreten des 74jährigen Teng wieder „Radikale“ zum reinen Maoismus zurückkehrten?

Solche Bedenken sind auch den ausländischen Mächten nicht fremd, mit denen China gegenwärtig Verträge über Lieferungen von Fabriksanlagen in der Größenordnung von etwa 100 Milliarden Dollar abzuschließen im Begriffe steht. Teng muß Zeichen setzen, um die Zögernden und Vorsichtigen für seinen Kurs zu gewinnen, und er muß eine solche Dynamik in der Modernisierungskampagne entwickeln, daß auch seine Nachfolger den Prozeß nicht mehr umkehren können.

Tatsache ist, daß die entscheidenden Forderungen Mao Tse-tungs, als dessen Palladine die Viererbande sich ausgab, von Teng auf allen Gebieten (Entwicklung, Literatur, Wirtschaft, Außenhandel) verworfen wurden. Teng, einst als Kapitalistenknecht und Rechtsabweichler zweimal abgesetzt, ist heute der eigentliche Machthaber in Peking. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß er am Montag dieser Woche jeden Machtkampf bestritt und sich hinter den toten Mao stellte.

Der Staats- und Parteichef Hua Kuo-feng, der zwar einst auch für Tengs Absetzung gestimmt hatte, ihn dann aber aus der Versenkung holte, scheint seinen Kurs zu unterstützen. Im Zentralkomitee aber sind die Radikalen keineswegs entmachtet. Als ihr Haupt gilt heute der Vizevorsitzende der KPC, Wang Tung-hsing, früher Kommandant von Maos Leibwache, der seinen Aufstieg anscheinend der Tatsache verdankt, daß er sein Regiment für die Entmachtung und Verhaftung der Viererbande einsetzte.

Er fühlt sich als berufener Hüter von Maos Erbe, obwohl diese Funktion offiziell Hua Kuo-feng zukommt. Dieser aber sprach sich dahin aus, daß die praktische Durchführbarkeit das einzige Kriterium der Wahrheit sei. Er zitierte erst kürzlich ein Wort Maos, daß dieser für sich keine Unfehlbarkeit in Anspruch nehme.

Was heute in China geschieht, ist die Demontierung des maoistischen Gedankengutes unter Zuhilfenahme von Maoseigenen Sprüchen. Typisch ist jener Arbeiter, der jedesmal, wenn in einer Diskussion die Viererbande verrissen wurde, die Hand mit allen fünf Fingern erhob.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung