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Rubikon in Asien

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Eine Woche lang konnten Zweifel bestehen, ob das Auftreten chinesischer militärischer Gruppen an der Seite der Nordkoreaner schon die Absicht Rotchinas anzeige, den Vereinten Nationen in Nordkorea mit voller Gewalt in den Arm zu fallen; es war noch die Auslegung zulässig, daß die chinesische Aktion vornehmlich der Sicherung der gewaltigen Kraftwerke am Yalu gelte, die für die Industriegebiete der Mandschurei und die russische Provinz des Fernen Ostens von großer Wichtigkeit sind. Doch die Hoffnung, daß der offizielle Eintritt Chinas in den Krieg und damit die kaum absehbare Ausweitung des ostasiatischen Kriegs der nach Frieden verlangenden Menschheit erspart bleiben werde, ist getrübt. Der Yalu, von bedeutenden chinesischen Streitkräften überschritten, ist zum Rubikon geworden. Das Ereignis steht in seiner ganzen Bedeutungsschwere vor den Völkern.

Der Entschluß Mao Tse-tungs, des Führers Rotchinas, zum Kriegseintritt mobilisiert gewaltige Kräfte. Mit seinem an Bodenschätzen reichen Territorialbesitz, der die Ausdehnung ganz Europas einschließlich Rußlands bis zum Ural weit übertrifft, und mit einer Bevölkerungsziffer von nahe an 500 Millionen genügsamer, arbeitswilliger und intelligenter Menschen stellt China eine potentielle Weltmacht ersten Ranges dar. Doch ist damit noch nicht alles gesagt. Die ungeheuren Ausmaße dieses Reiches, das. sich, sozusagen gestern erst, sein uraltes Haus nach modernsten kommunistischen Methoden eingerichtet hat, nach Methoden, die von der Staatsführung umfassende Planung, diktatorische Kraft, Reglementierung und Überwachung verlangen, enthalten auch unbekannte Größen, mit denen die Staalsführung dieses gigantischen Reiches zu rechnen hat.

Das industrielle Proletariat und die entwurzelten Intelligenzschichten, aus denen die kommunistischen Bewegungen mancher anderer Länder den wesentlichen Teil ihrer Anhängerschaft rekrutieren, fallen in China, verglichen mit den unübersehbaren Massen der ländlichen Bevölkerung, ähnlich wie vor dreißig Jahren in Rußland, kaum ins Gewicht; die Massen nach den Grundsätzen der kommunistischen Diktatur zu organisieren und in die Maschinerie des totalen Staates einzubauen, ist aber in China ein anderes Problem als in Rußland. In China steht dem Kommunismus die individualistische Lebensform des einfachen Menschen gegenüber. Schon jetzt haben sich Schwierigkeiten und Gefahren ergeben, die selbst von Mao Tse-tung und seinen Vertrauten nicht vorausgesehen worden waren. Sie sind bisher nur zögernd und mit äußerster Vorsicht an dieses besondere psychologische Problem herangetreten, und die ersten Versuche, eine Lösung zu finden, haben der kommunistischen Dogmatik nicht entsprochen.

Die zum Teil bereits durchgeführte Enteignung der Großgrundbesitzer, die sich unter dem Regime der Kuomintang mit Erfolg, und zu ihrem und Chinas Unheil, jeder vernünftigen Bodenreform widersetzten, hat unter den nun mit Grundeigentum beteilten früheren Kleinpächtern und landwirtschaftlichen Hilfekräften, dem neuen Regime Gewinn gebracht. Aber rasch zeigte sich auch die Kehrseite der Medaille. Kein Landwirt der Welt hängt mit größerer Liebe und Zähigkeit an seinem Boden als der chinesische Bauer, der, wie es ungezählte Generationen vor ihm getan haben, seinem Stückchen Land den Ertrag abringt, unbekümmert um Staat oder Volksgemeinschaft, aber mit um so größerer Hingabe an seine Familie und seine Nachkommen. Durch diese Verwurzelung im Boden und durch ihre individualistische Lebensauffassung ist die chinesische Bauernschaft ein in hohem Grade konservatives Element, welches sich nun, gewaltig verstärkt durch die Auflösung und Verteilung der großen Güter, jedem Eingriff in seine überlieferten Interessen, wie namentlich auch jedem Ansatz zur Kollek-tivisierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Muster, unmißverständlich entgegengestellt. Dieser Tatsache klug gehorchend und willens, nicht noch mehr landwirtschaftliche Eigenbesitze zu schaffen, ordnete die Regierung jetzt an, von der bereits vorgesehenen Liquidierung aller jener Großgrundbesitze Abstand zu nehmen, die vom Eigentümer selbst, wenn auch mit Hilfe bezahlter Kräfte, bewirtschaftet werden. Wiederholt hat sie aufs bestimmteste erklärt, daß sie das Recht des Bauern auf seinen eigenen Boden als unverletzlich anerkenne und an die Einführung der Kolchosenwirtschaft überhaupt nicht denke.

Ist die Haltung und die Behandlung der Bauernschaft das größte, so ist es bei weitem nicht das einzige innere Problem, das dem Regime Mao Tse-tungs zu schaffen gibt. Da ist der Mangel an brauchbaren Beamten für das gewaltige Reich; er macht es notwendig, etwa drei Viertel der Verwaltungsposten mit mehr oder weniger bekehrten, früheren Anhängern der Kuomintang zu besetzen; da ist die völlige Unzulänglichkeit der Verkehrsmittel, und besonders auch das vorherrschende Analphabetentum, das nicht nur die Durchführung der in Peking gefaßten Beschlüsse materieller Natur, sondern auch die Verbreitung' der kommunistischen Ideologie behindert; da ist weiter die bereits erwiesene Unmöglichkeit, die Verwüstungen der langen Kriegsjahre gutzumachen und die wirtschaftliche Entwicklung im geforderten Tempo vorwärts zu treiben, ohne dem privaten Kapital und Unternehmertum auf lange Sicht eine viel größere Freiheit zu gewähren, als der radikale Flügel der Kommunistischen Partei tolerieren will) schließlich ist da der noch ungebrochene Widerstand bewaffneter Untergrundbewegungen, die in weiten Gebieten sogar die eigentliche Regierungsmacht an sich gerissen haben — das alles sind steinharte Nüsse, an denen sich auch ein großer Sieger die Zähne ausbeißen kann.

Die dem neuen Regime Chinas gesetzten Aufgaben sind übergroß und ihre Lösung wird viel Zeit in Anspruch nehmen, soferne sie überhaupt gelingt. In diesen schwierigen Prozeß bricht jetzt eine unberechenbare Gewalt ein: der Krieg, eine Kräfteanspannung, die auch eine unter dem Tische erfolgende Hilfeleistung Moskaus nur in gewissem Maße verringern kann. Motiv genug, auch einen möglichst raschen Ablauf des begonnenen riskanten Unternehmens zu wünschen.

Aber auch auf der anderen Seite muß das Verlangen bestehen, nicht in einen Weltenbrand von einem selbst in den beiden letzten großen Kriegen noch nicht erlebten Ausmaßes zu stürzen. Jetzt ist die große Erprobungsstunde der Vereinten Nationen da. Korea ist nur eine beiläufige Ortsbezeichnung mehr. Es geht um viel mehr. In diesem Spiel wird nicht das nackte Schwert das erwünschte Ende bringen, sondern nur slaatsmännische Einsicht.

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