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Die Botschaft der „hundert Blumen“

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Mit seiner Rede vom 28. Februar 1957, die Anfang Juni von der Nachrichtenagentur „Neues China“ unter dem Titel „Die fehlerfreie Beilegung der Gegensätze im Volk“ der Weltöffentlichkeit bekanntgemacht wurde, hat Mao Tse-tung die Initiative ergriffen, um China als „Reich der Mitte" und als Zentrum des Weltkommunismus zu proklamieren.

Die außerordentliche Bedeutung dieser hier begonnenen Aktion war den Polen und Jugoslawen bereits in diesem Frühjahr klar geworden, als deren Staatsführer in Sorge ob eines neusowjetischen Imperialismus in Peking Schutz suchten. Schutz und Hilfe, das konnte innerhalb der kommunistischen Welt nicht Waffenhilfe und nur in beschränktestem Maße wirtschaftliche Hilfe sein, sondern primär ideologische Hilfe. Diese geistige Hilfe, die den Polen und Jugoslawen zunächst eine Selbstbehauptung innerhalb der „sozialistischen", das heißt kommunistischen Völkergemeinschaft ermöglichen sollte, konnte nur „der große Bruder“ China leisten, weil hinter dessen Wort das Potential von 600 Millionen Menschen einsatzbereit stand.

Die heutige chinesische Führungsschicht hat die weltgeschichtliche Chance, geistiger Führer im Ringen um eine „Läuterung" des Kommunismus zu werden, aufgegriffen. Wie ernst die nunmehr begonnene Auseinandersetzung gemeint ist, zeigt die im Westen übersehene Tatsache, daß diese chinesischen Intellektuellen nicht mehr und nicht weniger versuchen, als die ältesten seelischen Reserven und das älteste asiatische und chinesische Geistesgut zu mobilisieren.

Es war in diesem Sinne eine Tat, die in ganz Asien, in China, Indien, Japan zumal die Staatsmänner und alle wach und sensibel die Welt beobachtenden Gruppen jäh aufhorchen ließ, als Mao Tse-tung sich in seiner programmatischen Abhandlung über die notwendige Revision der kommunistischen Politik und Lebensführung zu jener Lehre bekannte, die bereits in den letzten Jahren mehrfach in China von kommunistischen Intellektuellen in dem schicksalschweren Satz zusammengefaßt wurde: „Laßt hundert Blumen blühen: laßt hundert Schulen um die Führung ringen." Zuletzt hatte vor einem Jahr der Propagandaleiter im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas, Liu Ting-i, sich zu diesem Satz bekannt.

„Laßt hundert Blumen blühen...“: dieser Satz, heute als Fanfare gegen „Dogmatismus" und „Bürokratismus“, gegen Stalinismus und russische monomane und monolithische Einherrschaft über die Welt des Geistes und der Materie, laut dröhnend geworden, ist seiner Herkunft und seinem Wesen nach nichts anderes als die uralte asiatische und chinesische Lebens- und Staatsweisheit, wie sie unter anderem Lao-Tse, die Taoisten, aber auch Lehrer und „Schulen“, das heißt Philosophenschulen und geistig-religiöse und politische Gruppen und Sekten seit Jahrtausenden verkündet, gelehrt, gelebt hatten. Nun wußte man seit langem, daß prominenteste Führer der kommunistischen Intelligenz Chinas Angehörige einer tausendjährigen Klasse von Gebildeten sind, die als Dichter, Denker, Hofleute, Politiker immer wieder entscheidend in Krisenzeiten in die Geschichte der

Nation eingegriffen haben. Der Dichter, der Poet Mao, gehört ebenso zu dieser tausendjährigen kulturellen Elite, wie Tschu En-lai und ein Dutzend anderer, in Europa weniger bekannter kommunistischer Intellektueller in China. Männer, die durchaus einem anderen Typ angehören als die Kommissare und Volksgenerale des halbhundertjährigen Bürgerkrieges, als die in Moskauer Schulen eingelernten jungchinesischen Ideologen, die als fanatische Bürokraten ihr Volk, und das hieß zunächst 600 Millionen Menschen, über die blutige Klinge ihrer menschenmörderischen, starrsinnigen und starren Ideologie springen lassen wollten. Es ist kein Zufall, daß die scharfe innenpolitische Offensive der großen Rede Maos gegen eben diese beiden Gruppen gerichtet ist: Ihnen wird die Hinschlachtung von 800.000 Menschen in den Jahren des chinesischen Stalinismus, 1949 bis 1953, vorgeworfen und die Zerklüftung des chinesischen Volkes: diese Bürokraten und Parteiderwische hätten sich, so erklärt Mao, vom Volke getrennt, wüßten nichts vom Volk und versuchten, durch Terror und Dünkel ihre Ignoranz und ihr Unvermögen, die Wirklichkeit zu sehen und zu gestalten, zu verdecken.

Das ist eine nicht unwichtige Seite des chinesischen Phänomens, das beginnt, in die Weltgeschichte einzugreifen. Chinas Gebildete und Intellektuelle versuchen, die ihnen faktisch entglittene Herrschaft über die Partei, den Staat an sich zu nehmen, und wissen, daß sie dabei (wie Gomulka in Polen) auf den harten Widerstand der Apparatschiks und der Parteiideologen stalinischer Provenienz stoßen. Gegen beide appellieren sie an das Volk — und über ihr eigenes Volk an die Völker der Erde — und stellen beiden, als Rettungsmittel, die uralte Weisheit des Reiches der Mitte vor: China soll wieder das Reich der Mitte, als Zelle lebendiger Erneuerung für den „Sozialismus" und Kommunismus, für die um innere und äußere Selbstbehauptung ringenden Völker Asiens werden, durch ein Bekenntnis zu jenem Wissen, das in der Vergangenheit die Menschen Asiens oft so sehr europäischen Männern innerlich überlegen sein ließ: Asien, die „Urmutter der Menschheit“, lebte in diesen Menschen seine älteste Botschaft. Sie besagt, in Lehre und Leben: Jede Wirklichkeit besteht aus dem Beisammenwohnen vieler Gegensätze. Jedes Leben ist eine Lebensgemeinschaft von Gegensätzen. Diese sind nicht „böse“, nicht „feindlich“, nicht aus- rottbar, sondern sind gesund, heilsam. In ihrer rechten Pflege besteht das Leben. Wirkliche Macht und Bedeutung gewinnt nur der Geistesführer und Staatsmann, der sie immer in Rechnung stellt und Rücksicht auf sie nimmt.

Mao Tse-tung will nun nichts anderes, als diese Mutterweisheit Asiens, die China einst zum Land der Mitte gemacht hat — auch in der Zeit der Mongolenherrschaft, als die Erben und Sprößlinge Dschingis-Khans katholische, nesto- rianische Bischöfe, Möhammedaner, Buddhisten und Heiden aller Art an ihrem Hof hatten und im Regierungsdienst verwendeten —, zur Maxime neukommunistischer Ideologie und Politik machen. Er erklärt deshalb: Es gibt eine Fülle echter, gesunder Gegensätze auch in kommunistischen Völkern und Staaten. Und zumal in deren vier gleichberechtigten Gruppen, den Arbeitern, Bauern, Intellektuellen und Wirtschaftsmenschen (vom Staat anerkannte Besitzbürger). Diese Gegensätze tragen das Leben, das sich in Kritik, Diskussion, persönlicher Ueber- zeugung und Erziehung entfalten muß. „Die hundert Schulen", die Jahrtausende hindurch in China um Einfluß und Herrschaft bei Hof, Kaiser, Bürokratie, im Wissen und Gewissen der Nation miteinander rangen, alle einander entgegengesetzt und einander beeinflussend, sollen also zur Konkordanz gebracht werden mit den Fordernissen kommunistischer Staatsherrschaft und ihres Strebens, die „sozialistische Gesellschaft“ zu bauen.

Die Wirkung der neu-alten Botschaft ist heute bereits rasant. Japan hat soeben durch seinen Ministerpräsidenten in den USA das Zugeständnis zu einem künftigen Chinahandel eingeholt: in ganz Asien spricht man bereits von einer gemeinsamen chinesisch-japanischen Politik der

Zukunft. Zukunftsmusik? Täuschen wir uns in Europa nicht über das weltpolitische Schwergewicht der Sehnsucht und des festen Willens der Völker Asiens, ihr Leben selbst zu gestalten: freundnachbarlich Rußland und Amerika offen. Die Bandung-Konferenzen hatten vor Jahren bereits der Sowjetunion und den USA die Augen geöffnet: Die Zeit reiner monolithischer politisch-militärischer Pakte ist für diese beiden Großmächte in Asien vorbei. Die Sowjetunion und die Union der Vereinigten Staaten von Amerika werden auch weiterhin in Asien als Großmächte ersten Ranges ihr Spiel treiben. Als Weltmächte aber werden sie mächtig Rücksicht nehmen müssen auf die in innerer Selbstfindung begriffenen asiatischen Großmächte.

„Laßt hundert Blumen blühen." Die geknickte, in den Staub der Deportationen und den blutigen Schmutz der Folterzellen und Galgen getretene junge Blüte Ungarns ist nicht vergebens gestorben. Mao und die chinesischen Intellektuellen berufen sich auf Ungarn, auf dieses aller Welt sichtbar gewordene Menetekel an der Wand aller Tyrannen dieser Erde. Die Blume der „relativen Freiheit' Polens blüht im Schatten der ungarischen Tragödie. Gomulkas Polen wird in allernächster Zeit Mao Tse-tung triumphal empfangen, sieht es doch in ihm den Schirmherrn der eigenen Wege zur Freiheit. Wir wissen heute noch nicht, wo überall in Asien und Europa Mao auf dem Wege ins „freie Polen" Station machen wird. Wohl in Indien und einigen anderen Staaten Vorderasiens; in Europa vielleicht bei Tito.

Die Folgen der Aktion der chinesischen Intellektuellen sind heute unabsehbar. Eine Tatsache muß uns genügen: Amerika und Rußland stellen heute bereits in ihren Abrüstungsverhandlungen und Atomwaffengespräch'en in Rechnung, daß die in China, Japan und Indien sichtbar werdende Selbstgestaltung Asiens aus dem Stadium erster blutiger und weniger blutiger Experimente (dazu gehört auch die japanische Asien- und Amerikapolitik der letzten 30 Jahre) in ein zweites Stadium tritt: In ihm erzwingt Asien die Mitsprache am „Weltgeschäft", an der Weltpolitik. Nichts wirklich Entscheidendes wird von nun an mehr geschehen in Amerika, Rußland, Europa (es sei denn ein wirklich selbständiger Selbstmordversuch) ohne das direkte oder indirekte Mitsprechen Asiens. Dieses kann freilich sich neuer, leiser, lauter, überraschender Wege und Reaktionen bedienen, wie, unter anderem, die Worte und das Schweigen Maos zeigen.

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