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Maos Bombe ist Wirklichkeit

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Was geht in China in Wirklichkeit vor? Wie soll man den ideologischen Veitstanz der Roten Garden deuten? Welche innen- und außenpolitische Ziele verfolgt die Parteiführung mit der „großen proletarischen Kulturrevolution“? Bestimmt überhaupt noch die Partei das Schicksal des Riesenreichs oder ist diese nicht durch die Armee entmachtet worden, die ein Werkzeug des chinesischen Verteidigungsministers und präsumtiven Mao-Nachfolgers Lin Piao ist?

Der Begriff „Stalinismus“ reicht nicht aus, um die Bedeutung und die möglichen Folgen dessen zu erfassen, was in Peking heute über die politische Bühne geht. Der Stalinismus war brutaler, kalter Terror, der primär durch physische Vernichtung aller — tatsächlich oder angeblich — Unbotmäßigen und durch die Verbreitung von Schrecken herrschte.

Mao Tse-tung hat fast 20 Jahre lang mit sozusagen demselben Zentralkomitee gearbeitet. Während Stalin einen Trotzkij sogar noch im fernen Mexiko ermorden ließ, hat Mao bis vor kurzem sogar seine heftigsten Gegner nicht nur am Leben, sondern sogar im Zentralkomitee gelassen. Über Massenhinrichtungen und die Existenz von Massenkonzentrationslagern im Sinne der sibirischen Arbeitslager gibt es keine zuverlässigen Berichte aus China. (Hingegen gibt es Arbeitslager für „unkonformistische“ Studenten. Auch sind vereinzelte Exekutionen vorgekommen.) Schauprozesse im Stil der sowjetischen und osteuropäischen hat es bis heute in China nicht gegeben. Daß es während des Amoklaufs der Roten Garden zu Zwischenfällen gekommen ist, die Todesopfer gefordert haben mögen, ist wahrscheinlich. Aber es sind keine authentischen Berichte über Erschießungen zu uns gekommen, es haben bisher keine Schauprozesse stattgefunden, und soviel man weiß, sind die im Verlaufe der letzten Wochen und Monate „Gesäuberten“ nicht einmal verhaftet worden.

Übertriebene Berichte

Die „New York Times“ meinte Ende September: „Amerikanische

Chdnaspezialisten glauben, daß Berichte über ein ,Blutbad1, das die Roten Garden in weiten Gebieten Chinas angerichtet hatten, übertrieben und weitgehend durch die Sowjetunion und andere chinafeindliche kommunistische Quellen aufgebauscht worden sind.“

Als der Terror der Roten Garden der Parteiführung aus den Händen zu gleiten drohte und es offensichtlich zu Gewalttätigkeiten gekommen war, rief Lin Piao auf einer Massendemonstration in Peking den fana- tisierten jungen Chinesen zu: „Schlagt die Menschen nicht. Gewalt kann nur ihre Haut berühren. Nur mit Überzeugen ist es möglich, auch ihre Seelen zu berühren.“ Solches hat man von Stalin nie gehört. Deshalb heißt es die Vorgänge in China unterschätzen, sieht man in ihnen nur eine Wiederholung des Stalinismus. Hier soll nicht etwa durch exemplarische Erschießungen Schrecken verbreitet, hier soll ein 700-Millionen-Volk in seinem Innersten umgekrempelt werden, bis jeder einzelne sich so sehr mit den

Gedanken Maos identifiziert hat, daß jeder weitere Terror sich erübrigt. (Wobei es freilich höchst unwahrscheinlich ist, daß dieses Ziel — gar mit den von den Roten Garden angewandten Methoden — je erreicht werden kann.)

Noch in einem zweiten entschei denden Punkt unterscheiden sich die Vorgänge dn China vom sowjetischen Stalinismus. Mit Stalin ist bekanntlich ein widerlicher Personenkult getrieben worden. Aber das, was heute mit der Person Maos getrieben wird, geht weit über den stalinistischen Personenkult hinaus. Die authentischen Berichte darüber sind so unwahrscheinlich, so unglaubhaft, daß es dafür nur eine Erklärung gibt: Man versucht, aus Mao einen Gott zu machen, oder wenn nicht einen Gott, so doch zumindest einen Religionsstifter von der numinosen Potenz eines Konfuzius. Darum vielleicht soll im Verlaufe der „Großen Kulturrevolution“ die vieltausendjährige Geschichte und Tradition Chinas — zu der Mao sich bis vor kurzem noch ausdrücklich bekannt hatte! — ausgewischt, vernichtet werden: mit Mao beginnt ein neues Aeon, und der Marxismus-Leninismus wird in der Form des Maoismus zur Religion erhoben — zur Religion der permanenten Revolution.

Die Ideologie „weiterentwickelt"

Im Beschuß des ZK der Kommunistischen Partei Chinas vom 12. August 1966 heißt es:

„Genosse Mao Tse-tung hat den Marxismus-Leninismus in genialer Weise schöpferisch und allseitig übernommen, verteidigt und weiterentwickelt und somit den Marxismus-Leninismus auf eine völlig neue Stufe gehoben.“

konventionellen militärischen Verteidigung und nicht mit Guerillakrieg, zu begegnen.

Beides stieß auf den kategorischen Widerstand der Partei oder jedenfalls Maos. Offenbar fürchtete Mao sogar, die Armee könnte sich über die Partei hinwegsetzen oder gar —

nach seinem Tod? — die Macht im Staat ergreifen, denn der ihm bedingungslos ergebene Lin Piao sprach im September 1965 von der Notwendigkeit einer „Garantie, daß unsere Armee nie ein Abtrünniger wird.“

Nun hatte man, nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Armee, schon 1958 die Armee mit der Parole „Die Partei kommandiert das Gewehr“ der Partei unterstellt und gleichzeitig auf Maos Strategie des Guerillakrieges oder revolutionären Volkskrieges verpflichtet. 1959 wurde die Armee von widerspenstigen höheren Militärs gesäubert.

Die Grundthese Maos lautet, daß der Mensch wichtiger sei als die Waffen, was sich im Nahkampf in Vietnam immer wieder erweise. Damit nicht genug, wurde sogar noch eine Konkurrenzorganisation zur Armee aufgebaut, nämlich — unter dem Slogan einer „Jedermann-ein- Soldat“-Bewegung — eine Volksmiliz aus „Amateurs“, der in einem Krieg eine wichtigere Rolle zukommen würde als der Armee. Lin Piao sagte im September 1965: „Guerillastreitkräfte haben letztlich reguläre Armeen geschlagen. .Amateurs“, die nie in irgendeiner Militärschule ausgebildet wurden, haben schließlich .Professionelle1 geschlagen, die an Militärakademien Grade erworben hatten.“

Schon 1960 hatte Lin Piao vier „erste Prinzipien“ — die „Vier Zuerst“ — entwickelt, die nun zu neuen Ehren kamen. Diese „Vier Zuerst“ lauten: 1. Zwischen Mensch und

Waffe gebührt dem Menschen der erste Platz. 2. Zwischen politischer und anderer Arbeit gebührt der Politik der erste Platz. 3. Zwischen ideologischen und routinemäßigen Aufgaben gebührt dem Ideologischen der erste Platz. 4. Zwischen lebendigen Ideen, wie sie im Geiste des Volkes leben, und Ideen in Büchern gebührt den lebendigen Ideen der erste Platz.

Dialektiker durch und durch

Dieser Vorrang, der im Militärischen dem Menschen, der Politik und der Ideologie zugesprochen wurde und der die Grundlage von Maos Guerillataktik und -Strategie bildet, wurde in chinesischen Schriften als „geistige und moralische Atombombe“ bezeichnet. Mit dieser „geistigen Atombombe“ also hofft Mao, die „Papiertiger-Atombombe“ der USA besiegen zu können.

Was Mao mit der „Großen Kulturrevolution“ und der Entfesselung der Roten Garden bezweckt, kann nur von Maos politischer Philosophie her verstanden werden. Mao ist Dialektiker durch und durch. Fortschritt gibt es für ihn nur durch den Kampf hart aufeinanderprallender

Widersprüche. Während aber in der Geschichtsphilosophie von Karl Marx dieser Kampf der Widersprüche — etwa in der Form des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie — eines Tages sein Ende findet und eine klassenlose und kampflose Gesellschaft entsteht — das kommunistische „Reich der Freiheit“ —, dauert in der Theorie von Mao der Kampf der Widersprüche ewig. Ein Karl Marx stand in der Tradition der Bibel, und seine Vision eines kommunistischen „Reichs der Freiheit“ ist weitgehend eine verweltlichte Form der biblischen Prophetie vom Kommen des Reiches Gottes. Mao aber ist die biblische Tradition fremd. Er kennt keinen geschichtlichen Endzustand, kein Reich des Friedens und der Freiheit, in dem der Mensch eines Tages zur Ruhe kommt, sondern sein Prinzip ist der ewige Kampf, der ewige Widerspruch, kurz — die permanente Revolution.

Der Wille des Menschen entscheidet

Noch ein zweites unterscheidet Mao grundsätzlich von Marx. Marx glaubte in der Geschichte ein Entwicklungsgesetz entdeckt zu haben, das vor allem im Produktionsprozeß wirksam sei und das die Menschheit über die Revolution und die Diktatur des Proletariats zum Kommunismus führen werde. Zwar müssen die Menschen der Geschichte bei der Geburt des Kommunismus Hebammendienste leisten, aber letztlich ist ihre Macht darauf beschränkt, den Geburtsprozeß zu beschleunigen oder zu verzögern. Die Geschichte hat den Weg der Menschheit „unwiderruflich vorgezeichnet“. Bei Mao fehlt dieser geschichtliche Determinismus. An seine Stelle tritt der Wille des Menschen, auf den alles ankommt. Die Revolution erfolgt bei ihm nicht mehr oder weniger automatisch, sobald der Produktionsprozeß einen höchsten Reifegrad erreicht hat, sondern sie erfolgt nur, wenn die Menschen von einem unbeugsamen revolutionären Willen erfüllt sind.

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