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Die Steppe — Vision und Wirklichkeit

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Im Jahre 1899 — ein Jahr vor seinem Tode — erschien ein aus tiefster Erschütterung geschriebene Buch des großen russisdien Philosophen Wladimir Solowjow. Er, nannte es „Die Erzählung vom Antichrist“. Das Buch ist eine realistischmakabre Vision eines das Abendland und die christliche Kulturwelt vernichtenden Mongolensturmes. Es ist ein Sturm, der nach Rußland eindringt, dort einen reichen Nährboden bei den „lange unterdrückten mongolischen Unterströmungen“ findet, und ein Neuerwachen des uralten Dranges nach dem Westen hervorbricht, wie er seit der Zeit der Goldenen Horden, des Mongolenreiches der Nachfahren Dschingis Khans im europäischen Bewußtsein unbekannt blieb. Die düstere Vision mutete fremd und unwahrscheinlich an. Auch Marco Polo berichtete über den Hof des Kha- Khans in Peking, auch seine Worte erschienen seinen Zeitgenossen im 14. Jahrhundert als fernes Märchen. Man vermochte sich damals nur eine vage Vorstellung von dem ungeheuren Steppenreich zwischen dem Aralsee und den Karpaten mit den dort mächtigen Reiterfürsten zu machen. Die Vorstöße der Nomadenhorden ins Donaubecken wurden erst nach Jahrhunderten von den Historikern aufgezeichnet.

Heute jedoch ist uns Solowjows Schau nicht mehr fremd und unverständlich, sondern recht wirklichkeitsnah, denn heute wird Marco Polo durch den Rundfunk ersetzt, der uns von dem Wiedererwachen der Urherdeninstinkte und von den roten Kolonnen in Nord- und Mittelchina berichtet, die von den mongolischen Randgebieten und der Mandschurei ins Reich der Mitte eingebrochen sind, während sich Sowjetasien in immer bedrohlicherem Umfange auszudehnen sucht.

Während in Südostasien sich eine Milliarde Menschen zusammendrängt, von der die Großzahl in unvorstellbarem Elend lebt, so daß ihr die bolschewistische Diesseitslehre vom Paradies auf Erden wie eine Glücksverheißung erscheint, propagiert die Sowjetunion den panmongolischen Staatsbegriff. Die panmongolische Sowjetpolitik ist bestrebt, eine Vereinigung der mongolischen Stämme von Sinkiang mit den Stämmen der Außen- und Innenmongolei, Tibets und der Mandschurei herbeizuführen. Zu diesem Zwecke wird die kommunistische Ideologie mit religiösen und nationalen Parolen vermengt.

Die Versuche Rußlands, das chinesische Sinkiang in seine Einflußsphäre eirizube- ziehen, gehen in die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück, als die zaristischen Truppen in den weiten innerasiatischen Raum einbrachen und die Grenzen des Zarenreiches um rund 1300 Kilometer nach Süden Vortrieben. Nach der Revolution in Rußland übernahm dann der Bolschewismus das Erbe des zaristijchen Expansionsdranges, indem zwar die Parole ausgegeben wurde; „Hände weg von China“, man aber gleichzeitig die benachbarte Außenmongolei annektierte und aus dieser uralten chinesischen Provinz unter dem Zeichen von Hammer und Sichel die „Autonome Mongolische Volksrepublik“ proklamierte. Während des chinesisch-japanischen Krieges gelang es Moskau — unter Ausnützung des 1939 abgeschlossenen chinesisch-russischen Luftfahrtsabkommens —, in Sinkiang strategische Basen, Spionagezentren, Propagandastellen und Waffenlager zu errichten. Das Propagandamaterial und die Waffen sind seither nach China eingeschmuggelt worden. Die einheimische Bevölkerung und die Nomadenstämme Tibets wurden zu Aufständen aufgehetzt, und die kommunistische Infiltration wurde energisch betrieben. Die Mandschurei und Nordkorea wurden zur roten Beute und die Innenmongolei zu einem Einflußgebiet Sowjetasiens, wie dies heute mit dem ungeheuren Gebieten Sinkiangs der Fall ist.

Wie die Sowjetmacht bis ins tibetanische Hochland und bis an die Grenzen Indiens vorzudringen bestrebt ist, zeigt folgende, vieldeutige Tatsache: Nachdem England die Unabhängigkeit Indiens und Pakistans gewährt hatte, erschien im September 1947 ine Sowjetvertretung in Lhassa, der Hauptstadt Tibets, um diplomatische Beziehungen anzubahnen. Dem Regenten und Stellvertreter des noch unmündigen Dalai-Lama wurden Geschenke aus Moskauer Museen überreicht, darunter eine alte tibetanische Fahne. Im Hinblick auf die Ereignisse in China und in Mongolisch-Sowjetasien kann den künftigen Entwicklungen in diesem

Einfallstor nach Indien und Pakistan mit Spannung entgegengesehen werden.

Mit der panmongolischen Idee verfolgt der Kreml gegenüber dem chinesischen Kommunistenführer einen wohlberechneten Plan. Wenn sich die Vorgänge in China mit der Ablösung Tschiang-Kai-Scheks durch das revolutionäre Regime Mao-Tses vollendet haben, werden Moskau unerhörte Möglichkeiten geboten, die ihm zur Errichtung Eurasiens um einen gewaltigen Schritt weiterhelfen. Mao ist ein Wegbereiter der Sowjetunion. Selbst wenn er als „gelber Tito" einem „ketzerischen“ Nationalkommunismus verfallen sollte, hätte der Kreml — gestützt auf die Mithilfe chinafeindlicher Strömungen in Sinkiang — noch immer die Möglichkeit, Mao-Tse — ähnlich wie dies mit General Markos und mit Dimitroff in Bulgarien geschah — zu „liquidieren".

Damit rückt Solowjows Vision ins Rampenlicht der Gegenwart. Was dem geplanten Großmongolischen Reich einen starken Rückhalt verleiht, ist das ausgedehnte sibirische Hinterland, das eigentliche Sowjetasien, das heute nicht mehr als weißer Fleck auf der Landkarte gilt, nachdem dieses neben einem engen Schienen- und Autostraßennetz unzählige hochentwickelte Industriekombinate und eine Bevölkerungszahl von etwa 40 Millionen Einwohner aufweist. Die wirtschaftliche Durchdringung Sibiriens und seine verkehrspolitische Erschließung schufen die Voraussetzungen für den sowjetischen Expansio nismus im Fernen Osten und in Südostasien. Sibirien bildet auch ein Rüstungsreservoir für ein allfälliges weiteres Vordringen nach dem Westen. Das größte Rätselraten umgibt die abgelegene Mongolenrepublik Tannu Tuwa, in der neuerdings das eigentliche Zentrum der sowjetischen Atomversuche vermutet wird, da Tannu Tuwa selbst für eine starke gegnerische Luftwaffe so gut wie unerreichbar ist und auch dafür gilt. Das sowjetische Geheimnis beginnt mit der Wirtschaftsgeographie, mit der Bevölkerungs- und Produktionsstatistik, da die amtlichen Zahlen meist zur Verschleierung dienen oder ungenügenden Aufschluß geben. Tatsache aber ist, daß ein stark industrialisiertes Sibirien mit neuen Städten und bedeutenden Rohstoffzentren besteht und daß der Fünfjahrplan für Sibirien eine Produktionssteigerung vorsieht, die nicht allein für Rußland bestimmt, sondern mit Moskaus Asienplänen engsten verknüpft erscheint.

Zweifellos ist es — in Anbetracht dieser Feststellungen — klug, wenn die atlantische Völkerfamilie Solowjows apokalyptische Vision im Auge behält. Sie ist so aktuell, als wäre sie in unseren Tagen geschrieben worden. Solowjow spricht nicht vom Ende der Welt, wohl aber von einer herannahenden historischen Katastrophe, auf die die westliche Erde vorbereitet sein muß. Das ist des großen Philosophen eindringliche Warnung, und sie ist im heutigen Zeitpunkt alles andere als eine wirklichkeitsferne Phantasmagorie.

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