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Das grobe Ereignis

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Ein „Dank an den Herrgott“ — das war das erste Wort des aus Moskau rückkehrenden Bundeskanzlers beim ersten Betreten des österreichischen Heimatbodens. Aus tiefster Seele des christlichen Menschen schwang sich dieser Dank empor, Bekenntnis zu dem Wissen, daß über allem Geschehen, über allem Mühen des Menschen und seinem Gelingen der Lenker aller Dinge waltet. Aus diesem Bewußtsein schöpfte der christliche Staatsmann Raab, dem in einem historischen Abschnitt österreichischer Geschichte die Aufgabe zufiel, unerschüttert durch alle Demütigungen und Enttäuschungen, in schwerer Zeit das Gleichmaß der Haltung und der Sprache, seinen Mut zum Glauben an die Zukunft zu bewahren. So wurde der Beitrag Oesterreichs zu dem glücklichen Ertrag des österreichischen Staatsbesuches in Moskau vorbereitet. Des Kanzlers erstes Wort in der Heimat bleibt denkwürdig.

Nun haben die drei Großen des Westens das Wort. Es ist verständlich, daß man nicht überall sofort bei der Einschätzung des Moskauer Ereignisses aus dem Denken in militärischen Kategorien wegfindet, weg von Rüstung und Berechnung industriellen Kriegspotentials und auch nicht wegfindet von den Vernichtungsexperimenten der Atomphysik. Da und dort tut man, als sei der Begriff der Neutralität eine widersinnige Abnormität des Völkerrechtes und schon der Gedanke an seine Anwendung auf Oesterreich eine Störung der leider bisher mehr von freundlicher Theorie als lebensnaher Realität besonnten Einheit Europas, weil das kleine Land, sich der Teilnahme an militärischen Bündnissen und den-Bodenkonzessionen für strategische Zwecke fremder Herren versagen wird.

Doch vernehmlicher als die Stimme der Kritiker und Verklausuüerer ist doch von überall her das Aufatmen der geängstigten, friedenssehnsüchtigen Menschheit. Zugleich erhebt sich vor der sichtbaren Veränderung des weltpolitischen Bildes, die irgendwie alle angehen wird, die Frage nach der Ursache des überraschenden Stellungswechsels Moskaus, dessen Anzeichen zuerst der Ballhausplatz, vorsichtig entgegenkommend, erkannt hat. Eine Erklärung will das Motiv in der Absicht Sowjetrußlands finden, vor seine europäischen Grenzen einen zweiten Sicherheitscürtel von Staaten zu legen, die sich aus dem Wesr-Ost-KonfÜkt heraushalten, eine Erklärung, deren Fassung fast zu kleinkalibrig erscheint. Die Stellungsveränderung Moskaus verdiente doch wohl, daß sie auch einmal von der anderen Seite her betrachtet werde. Dieses Riesenreich, das seine Macht von der Moldau bis zum Altai und nordwärts bis über die Beh-rite““rr2ße hinüber in die Arktis gespannt hat, sieht sich in den erst halberschlossenen Weiten Zentral- und Ostasiens vor wahrhaft unermeßlich große Aufgaben gestellt. Der russische Soldat steht an den Ufern des Japanischen Meeres; ganz Sachalin ist russisch geworden; zwischen Tibet und die von der Sowjetmacht kontrollierte Mongolei schiebt sich der Keil russischen Einflußgebietes tief in die nordwestliche Flanke Chinas und chinesischen Volkstums hinein. Hier wachsen die Probleme einer behauptungswilligen Herrschaftsmacht ins Gigantische. Diese riesigen Länderstrecken organisch sich einzuverleiben wirtschaftlich und kulturell sie zu durchdringen, ist ein Prozeß, der auch bei den heutigen Hilfsmitteln der Technik, des Verkehr* und der Wissenschaft unendliche Mühe und unberechenbare Zeit verlangt, und vor allem Frieden, friedliche Arbeit für Generationsreihen.

Die heutige Politik Sowjetrußlands, die ihre drastische Dokumentierung in den russischösterreichischen Vereinbarungen erhielt, erinnert in gewissem Maße an die politischen Eruichlic-ßungen, die vor 52 Jahren das alte Rußland zu dem „Mürzsteger-Abkommen“ geführt hatten, das die Welt mit einem Akte der Verständigung des damaligen Zarenreiches mit Oesterreich-Ungarn überrascht hatte, also mit einer Verständigung zwischen den beiden um den Balkan rivalisierenden Großmächten, in einem Abkommen, mit dem der russische Vertragspartner in den drohend sich nähernden Zusammenstoß mit Japan sich Rückenfreiheit und Frieden gegenüber dem Westen und Handlungsfreiheit gegen den asiatischen Osten sicherte. In dem großen Imperium des Ostens sind seither die Lebensprinzipien dieselben geblieben, unberührt von den verfassungsmäßigen Aenderungen, die sich in der Zentrale vollzogen. Das zaristische Rußland ist nicht zuletzt daran zerbrochen, daß es die ihm zur Lösung gestellten asiatischen Probleme nicht bewältigte. Kenner Asiens sprechen von einer zielbewußten, auch mit großen Risken ringenden Behandlung der Asienpolitik des heutigen Ostreiches.

Es mag sein, daß das große Ereignis für Oesterreich in solche Zusammenhänge sowjetrussischer Weltpolitik hineinreicht. Ihre Geheimnisse zu entschleiern ist nicht österreichische Sorge. Der erwartete Abschluß des Staatsvertrages mit allen seinen außerordentlichen politischen, organisatorischen und nicht zuletzt großen volkswirtschaftlichen Folgerungen wird die österreichische Staatsführung und unser ganzes Volk nun vor neue Erprobungen stellen. Aus dem Lager der beiden großen Parteien ist in diesen Tagen der Wille zur Einigkeit und einträchtigen Arbeit in Wort und Schrift besiegelt worden. Mit der Erfüllung dieses Versprechens wird sich Oesterreich die echte Freiheit erringen.

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