6614214-1955_21_03.jpg
Digital In Arbeit

Die österreichische Chance

Werbung
Werbung
Werbung

Vor einem Viertel]ahrhundert erklärte der bedeutende spanische, in England lehrende politische Denker und Historiker Salvador de Madariaga: die Hauptstadt des künftigen Europa müsse Wien sein; kein Ort dieses Kontinents sei so vorbestimmt und so geeignet als Mittelpunkt, weil Mittler für die sehr verschiedenartigen Elemente Europas, wie Wien, in Oesterreich.

Andere Denker und politisch wache Köpfe hatten dies vorher ausgesprochen, und es fehlte in den letzten Jahrzehnten nicht an Stimmen, die hier anknüpften. Merkwürdigerweise war die Resonanz dieser prophetischen Stimme in Wien, in Oesterreich selbst, sehr gering: man wagte hier nicht recht, an Oesterreichs Aufgabe in Europa und für Europa zu glauben. Trotz aller Lippenbekenntnisse vermochte man sich nicht aus dem Bann des Schocks von 1918 zu lösen. 1938 wurde auch deshalb möglich, weil sowohl die führenden politischen Kreise, Parteien, wie auch die führenden Männer an Oesterreichs hohen Schulen klcinösterreichisch, kleineuropäisch, kleindeutsch (gerade auch als „Großdeutsche“) dachten: so wurde Oesterreich als ein „Kleinstaat“ gedacht, der diesem oder jenem „Anschluß“ verfallen mußte, weil die österreichische, die europäische Lösung gar nicht mehr zu denken gewagt, geschweige denn als Erzichungsprogramm in den Schulen oder als politische Konzeption vertreten wurde So wurde Oesterreich zur Provinz, wobei diese Provinz, je nach politischer Einfärbung, als ein austriazistiscb.es Kleinösterreich oder als ein Gau Deutschlands vorgestellt wurde. Es gab damals Entschuldigungsgründe genug, um das Abreißen der Verbindungen zu den Nachfolge-staaten (nicht: zu den Völkern dieser Räume) zu erklären: die antiösterreichische Einstellung mancher Regierungen der „Kleinen Entente“, das Mißtrauen der Westmächte gegen alle Regungen und Versuche einer eigenständigen österreichischen Außenpolitik und einiges andere mehr. Der Schock von 1918 hat bis 1938 Oesterreich in einem Getto, in einem Engpaß gefangengehalten, so daß die falschen Alternativen der Innen- und Außenpolitik dieser Jahrzehnte die scheinbar ausweglose Situation eines Landes ohne Vergangenheit und ohne Zukunft spiegelten. — Der Schock von 1945 hat nun, und das muß heute klar gesehen werden, die Engpaßsituation der Jahre 1918 bis 1938 noch einmal für zehn Jahre erneuert: die Angst vor einem neuen Krieg, vor den Mächten hinter dem Eisernen Vorhang und eine sehr geschickte Steuerung dieser Aengste durch viele Nutznießer der vier Besatzungsregimes schuf eine neue, innerlich wiederum ausweglose Lage, die ein Gutteil der Presse in Oesterreich noch vor kurzem als einzig mögliche hinstellte und die in dem einen Satz, der tausendmal variiert wurde, zum Ausdruck kam: „Bilden wir uns doch , nichts ein, wir kleinen Oesterreicher können die Weltlage nicht ändern, maßen wir es uns doch nicht an, den Großmächten und den großen Herren, die die Weltlage viel besser übersehen, ein eigenes Wort zu sagen.“

Die kühne Aktion der österreichischen Regierung hat nun einen Schleier von Angst, Ver-nebelung und Verdüsterung zerrissen. Es ist an der Zeit, die Wirklichkeit zu besehen, die sich nun dem nüchternen und ergriffenen Auge präsentiert. Oesterreich steht, im Mai 1955, im offenen Tor sehr großer Möglichkeiten, auf die weder unser Volk noch seine geistigen, religiösen und politischen Fühlungskreise vorbereitet sind. Wie groß diese Chancen sind, mag man einigen Aufsätzen der im allgemeinen keineswegs österreichfreundlichen, in Westdeutschland aber sehr einflußreichen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ entnehmen, die sich von ihrem römischen Korrespondenten berichten läßt: ein erfahrener italienischer Diplomat erklärt: „Wien müßte die Hauptstadt Europas werden“; kein Ort ist geeigneter für die schwierigen, viel Geduld und Umsicht erfordernden Gespräche und Beziehungen mit der östlichen Welt, mit den Russen, als Wien; die Diplomatie kann, so fährt er fort, heute nicht mehr allein Sache der Berufsdiplomaten sein, Wirtschaftler, Ge'ehrte, Kulturinstitute, Publizisten sind berufen zur Mitsprache. Die verschiedenen Länder sollten deshalb in Wien Kulturinstitute errichten und ihre Elite dorthin schicken, die Vereinten Nationen sollen einige Abteilungen nach Wien verlegen, die europäischen Organisationen sollten aus Straßburg nach Wien verlegt werden. Kein Ort ist geeigneter, auch als ein Handelspunkt ersten Ranges, gestützt auf die reichen Oelschätze des Wiener Beckens, auf die riesigen elektrischen Kraftquellen der österreichischen Alpen, nicht zuletzt auf seine Stellung an der Donau, um auf lange Sicht hin die sehr komplexen Beziehungen zwischen Ost und West in Europa in neue, in friedliche Bahnen überzuführen, als dieses Wien.

Bundeskanzler Raab hat in einer seiner signifikanten, knappen, aber inhaltsschweren Rundfunkansprachen an das österreichische Volk uns alle darauf aufmerksam gemacht, wie riesenhaft die wirtschaftlichen Möglichkeiten sind, die sich aus der neuen von den Weltmächten anerkannten europäischen Stellung Oesterreichs ergeben. — Hier aber, gerade hier, tritt nun, mit der großen Chance, die Gefahr eines großen Scheiterns an uns heran: eines Versagens in einer europäischen Sternstunde, die ungenützt vergehen kann, wenn nicht mit aller Energie versucht wird, das Vakuum auszufüllen, das eben darin besteht, daß kaum jemand in Oesterreich auf diese Stunde innerlich vorbereitet ist. Die wenigen, die es in den letzten Jahren wagten, unentwegt eine österreichische Europaidee zu vertreten, wurden ja denunziert, wurden ausgeschieden, wurden bestenfalls als jugendliche Unentwegte, als nicht ernstzunehmende Illusionisten diffamiert. Ein einziger Blick auf unsere Hohen Schulen, in unsere Mittelschulen, sodann in die kulturell, wissenschaftlich, religiös und politisch maßgebenden Kreise lehrt: Kaum jemand hates da in den letzten Jahren ernsthaft gewagt. Oesterreich zu denken. Oesterreich nicht als eine ferne Vergangenheit, Oesterreich nicht als eine Show für Fremde, Oesterreich nicht als ein Museum und ein Ausstellungsobjekt, sondern Oesterreich als eine Europa integrierende Wirklichkeit. Wer die Themen der Dissertationen, der Vorlesungen und Vorträge, der wissenschaftlichen, politischen und literarischen Publikationen des letzten Jahrzehnts aufmerksam durchsieht, erkennt schnell, allenthalben hatte man sich stillschweigend auf eine provinzielle kleinösterreichische „Lösung“ geeinigt — man sprach am liebsten gar nicht von Oesterreich —, das heißt: man sprach nicht ungern in Sonntagsreden von „Oesterreich“, unterließ aber geflissentlich jede konstruktive schöpferische Arbeit. Ausländer, gerade auch aufgeschlossene Amerikaner, beobachteten immer wieder mit Erstaunen, ja mit Erschrecken, wie sehr hier in Oesterreich von den führenden Stellen in Forschung, Wissenschaft und Unterricht jede Beziehung zu den Völkern und Kulturen des altösterreichischen Raumes faktisch einfach negiert wurde. Das Studium der slawischen Sprachen und Kulturen, einst eine Glanzleistung des alten Oesterreichs, wurde den heroischen Versuchen einiger weniger Einsamer überlassen, deren Bemühungen — wie etwa die glänzend ausgestattete, von Mattl in Graz herausgegebene Zeitschrift „Blick nach dem Osten“ — aus Mangel an Unterstützung eingehen mußten. Wie bequem war doch bis zu dieser heutigen Stunde die Ausrede: „Da ist eben der Eiserne Vorhang, da kann man nichts machen.“ Während laute Lippenbekenntnisse zu Europa, zur freien Welt, zum Abendland abgelegt wurden, führte man die kleinlichsten und verdecktesten inneren Auseinandersetzungen mit slawischen Volksgruppen; während man, etwa in christlichen Kreisen, laute Sympathie für die Verfolgten der Kirche hinter dem Eisernen Vorhang bekundete, tat man doch kaum etwas, um hier in Oesterreich' Zentren zu schaffen für die notwendige Erforschung und Betreuung der östlichen Psyche, der östlichen Glaubenshaltungen und Bekenntnisse.

Genug der Klage; sie ist nicht Anklage, wohl aber Klage: als solche notwendig, weil nur so Klarheit gewonnen werden kann über den Ernst dieser Stunde. Wenn jetzt nämlich nicht an die Arbeit gegangen wird, um geistig, wissenschaftlich, kulturell und religiös die Grundlagen und Ausgangspunkte für eine österreichisch-europäische Betreuung und Befassung mit den Lebens- und Existenzfragen des Ostens und Südostens zu schaffen, dann droht die Gefahr, daß alle wirtschaftlichen Energien und alle politischen Anstrengungen das Vakuum nicht erfüllen können: dann wird Oesterreich, gerade in der Fülle seiner- wirtschaftlichen Potenzen, seiner reichen Bodenschätze, Wasser, Erden und Wälder, seiner geopolitisch glänzenden Positionen, zum Tummelplatz für Elemente werden, die hier auf Jagd ausgehen und die im trüben fischen wollen.

Blicken wir aber auf uns selbst: die jetzt bereits hinter und vor den Kulissen begonnenen heftigen innenpolitischen Machtkämpfe, etwa um das „Deutsche Eigentum“, um USIA-Betriebe, können nur entgiftet werden, wenn größere Perspektiven und weitere Interessen ins Spiel gebracht werden als die massiven Herrschaftswünsche dieser und jener Parteigruppen und Cliquen.

Das Gebot der Stunde lautet: heraus aus der Enge, der Härte, dem Eigensinn und dem niedrigen Egoismus, die eine konstruktive schöpferische Staatspolitik einfach unmöglich machen, v/eil sie keinen freien Raum für weitgehende Planungen und für echte Lösungen und Aktionen offen lassen. Einer der einsichtigsten und fähigsten, an führender Stelle stehenden Diener unseres Staates hat es vor einigen Monaten klar ausgesprochen: das harte und enge Verharren dieser und jener Machtgruppen erniedrigt jede Politik zu einem Feilschen um Positionen und Personen, und erlaubt keine Arbeit auf weite Sicht, keine schöpferische Politik. Die großen Aufgaben, die vor uns liegen, können aber nur gemeistert werden, wenn alle Kräfte, über die Oesterreich heute verfügt, zur Wirkung gelangen. Diese Kräfte sind in vielen Einzelfällen gering genug. Jetzt rächt sich der furchtbare Aderlaß, den Oesterreichs Volk durch die Auswanderung, in manchen Fällen kann von Austreibung gesprochen werden, vieler höchstqualifizierter Wissenschafter und Facharbeiter in den Jahren 1918 bis 195 5 erlitten hat. Es ist durchaus möglich, einen Teil dieser Kräfte wenigstens für kürzere Zeit, zurückzurufen — als Gastprofessoren, als Lehrer, als Begründer von Instituten und von vernachlässigten Forschungsaufgaben. Das gilt zumal für eine Reihe jüngerer Kräfte, die in Amerika an Colleges unterrichten, und für nicht wenige ältere, die zum Teil in prekären Verhältnissen in europäischen Ländern ein einsames Leben führen. Man komme nicht mit dem Vorwand: dafür sei kein Geld da. Wenn Oesterreichs Hohe Schulen ihre Aufgaben nicht erkennen, dann müssen eben private Institute,gefördert von Staat und Wirtschaft, diese Aufgaben übernehmen. Hier ist auf ein oft übersehenes Faktum aufmerksam zu machen: da Oesterreich für viele Wissenschafter und akademisch Lehrende bis zum heutigen Tage keine erste Realität war, flüchtete sich die Forschung, nicht nur in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, in die Behandlung von Scheinproblemen und von Fragen und Bereichen, denen keine erstrangige Bedeutung zukommt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten entstand gerade in Oesterreich ein eigentümlicher Fugi-tivismus: um der Auseinandersetzung mit der „garstigen“, leidigen, gefährlichen gesellschaftlichen, geistigen und politischen Wirklichkeit der Gegenwart zu entgehen, floh und flieht man in Randfragen, in sehr ferne und sehr abgelegene Spezialgebiete, bei deren Behandlung „nichts passieren kann“. Es ist heute hohe Zeit, die öffentlichen Subventionen daraufhin zu überprüfen, • inwieweit sie für Arbeiten und Forschungsaufträge ausgegeben werden, denen oft nicht einmal eine tertiäre Bedeutung zuerkannt werden kann. Die letzten 30 Jahre sprechen hier doch eine deutliche Sprache: Oesterreich steht innerlich wehrlos da, weil die politischen, gesellschaftlichen und historischen Wissenschaften, dazu die Erforschung unserer Nachbarländer und -Völker in einer Weise hintangesetzt worden sind, die heute nicht mehr verantwortet werden kann. Diese Wehrlosigkeit Oesterreichs ist viel gefährlicher als di jetzt bereits vieldiskutierte Schaffung einer österreichischen Armee. Keine Polizei, kein Offizierskorps und keine Truppe kann diesen Leerraum ausfüllen, in dem- wir uns heute befinden, weil unser Volk, unsere Jugend, fast nichts von Oesterreich und von jenem Europa weiß, das es einst mitgeschaffen hat und das heute ihm wieder vorgestellt wird als Arbeits-, Wirk- und Lebensraum. Als ein Symptom dafür, daß diese Gefahr wenigstens von einigen Kreisen und einzelnen Wissenschaftern erkannt wird, darf die in eben diesen Tagen in Graz als ein Gemeinschaftswerk der drei Grazer Hohen Schulen gegründete Gesellschaft für wissenschaftliche Beziehungen zwischen Jugoslawien und Oesterreich angesehen werden.

m Alle Kulturinstitute und Forschungsanstalten, alle Subventionen und Privataufträge in diesem Raum werden jedoch das österreichische Vakuum nicht füllen können, wenn der innerste Lebensraum unbetreut bleibt: der Raum der Seele. Der österreichische Katholizismus ist, nach den erfreulichen Bewegungen um 1945, in den letzten Jahren sichtlich erstarrt in Positionskämpfen, in der Angst und Enge kleiner Gruppen, die um Herrschaft und Einflußnahme auf die Gläubigen ringen. Oesterreichs Christentum hat nunmehr die Chance, aus diesem Engpaß herauszutreten, wenn es eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Osten, mit den östlichen Geisteshaltungen und Frömmigkeitsbewegungen wagt. In diese Richtung wiesen ja zwei zukunftweisende Persönlichkeiten: Pius Parsch, der Begründer der weltumspannenden volksliturgischen Bewegung — dieser Klosterneuburger Chorherr hatte in Kiew im ersten Weltkrieg als Feldkaplan sein entscheidendes Erlebnis gehabt in der Begegnung mit der religiösen Unbildung und Unreife breitester Volksschichten. Und dann Alois Mager: dieser Initiator und Motor der Salzburger Hochschulwochen, der, ein unersetzlicher Verlust, 1946, allzu frühzeitig starb, hatte gerade im letzten Krieg seine Freunde immer wieder darauf hingewiesen, daß unser westeuropäisches Christentum seine eigensten Kräfte erst wieder erschließen könne, wenn es die Begegnung mit dem Osten wage. Man spricht heute, mit Recht, viel vom Ausbau der katholischen Universität in Salzburg: diese würde aber ein Getto werden — ein Getto mehr in Oesterreich und im westeuropäischen Christentum —, wenn sie diese von Mager intendierte Offenheit dem Osten gegenüber vergäße. Ihre alte Verbindung in den deutschen Raum hinein könnte sich gerade dann fruchtbar entfalten, als ein Mittler religiöser und geistiger Strahlungen, vergleichbar den viel ungünstiger gelegenen katholischen Zentren der Ostforschung in Belgien und Frankreich.

Lassen wir noch einmal unseren Blick in Oesterreich hinein gleiten: in die leeren Stifte und Klöster zwischen Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten (wie mit leeren Augen blicken ihre Fassaden ins östliche Land), in die winzigen Seminare und Institute unserer hohen Schulen, in die kleinen und kleinsten Kreise, die heute Oesterreich ernsthaft bedenken — als eine Verpflichtung in Europa für Ost und West - und lassen wir diesen Blick dann weiter gleiten in die von Arbeit und Arbeitswille erfüllten Fabriken, in die Kraftwerke und Energiezentralen unseres Landes, sodann zu den Hunderttausenden, die gesund, frisch, lebensfroh, in Sport und Spiel, in Stadt und Land, vital, beweglich, zum Wochenende oder Urlaub ausströmen ins Inland und ins Ausland — dann ergibt sich ein Kontrast, wie

er drastischer nicht gedacht werden kann. Einem echten starken Potential wirtschaftlicher und biologischer Energien steht eine Unerschlossenheit geistiger, seelischer und kultureller Kräfte gegenüber.

Oesterreichs Chance besteht heute eben darin: daß dieses Gefälle von Kraft und Un-kraft, von erschlossenem und unerschlossenem Potential in all seiner erregenden Bedeutung heute erkannt wird; und daß, freimütig, offen, von allen Verantwortlichen an die Arbeit gegangen wird, um die lebensgefährliche Lücke, die Kluft, zu schließen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung