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Heimkehr nach Ithaka

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Mit den englischen Truppen kam 1945 auch ein junger Oberstleutnant nach Oesterreich. Gordon Shepherd war sein Name, und Eingeweihte sagten dem Angehörigen des „Intelligence Staffs“ der achten Armee bald einen direkten Draht in die Umgebung von Englands „grand old man“ Winston Churchill nach. Col. Lt. Shepherd begnügte sich bald nicht, Oesterreich durch die Fenster des Alliierten- Rates auf dem Schwarzenbergplatz in Wien zu betrachten. Auch mit den Allerweltskontakten des Besatzungsoffiziers auf den zahlreichen Parties und Empfängen gab er sich nicht zufrieden. Gordon Shepherd machte sich auf, dem Geheimnis dieses kleinen Landes mit einer großen — manchmal überwältigend, ja vielleicht "erdrückend großen — Vergangenheit nachzugehen. Der Historiker Shepherd, der sich in Latymer und Cambridge das Rüstzeug für die Erforschung der neuen Geschichte geholt hatte, rüstete sich zu einer Expedition in Oesterreichs Vergangenheit. Die Gegenwart wurde dabei keineswegs vernachlässigt. Eine seiner zahlreichen Begegnungen wurde sogar für Shepherds privates Leben entscheidend: er heiratete eine Wienerin.

So verwundert es uns nicht, wenn wir Shepherd, nachdem er die Uniform im Frühjahr 1948 ausgezogen hatte, bereits einige Wochen später wieder als Zivilist nach Oesterreich zurückkehren sehen. Als Korrespondent des „Daily Telegraph“ für Zentral- und Südosteuropa wirkt er nunmehr seit bald einem Jahrzehnt von unserem Land aus.

Oesterreich aber hat für Gordon Shepherd nicht an Interesse eingebüßt. Der Publizist nimmt sich der Gegenwart an. der Historiker durchstreift weiter die Gefilde der Vergangenheit. Einen glücklichen Niederschlag fand diese sich gegenseitig ergänzende Tätigkeit schon vor mehreren Jahren in dem Buch „Rus si a ’s Danubian Empir e“, das sich — wie schon sein Titel sagt — mit den Auswirkungen von Rußlands Eindringen in den Donauraum befaßte. Vor wenigen Wochen hat uns Gordon Shepherd ein zweites Werk vorgelegt. Diesmal wird ins Zentrum gezielt. „Die österreichische Odyssee“ behandelt die Fahrten und Irrwege, die Oesterreich seit Königgrätz auf der Suche nach einem neuen Inhalt seiner staatlichen Existenz herauf bis zur Verkündung der dauernden Neutralität in unseren Tagen gegangen ist. Ein Staat wird seiner neuen-alten Aufgaben in einer veränderten Umwelt gewahr, ein Volk besinnt sich auf sich selbst. Deshalb interessiert uns von Shepherds Buch, das im leichten Plauderton beginnt und den englischen Landsleuten des Verfassers zunächst eine kleine feuilletonistische Lektion über das Um und Auf der soviel zitierten österreichischen „Gemütlichkeit“ gibt, bevor sein Verfasser in. geraffter Form beinahe ein Jahrhundert österreichischer Geschichte nacherzählt, vor allem der letzte Teil, der der jüngsten Vergangenheit und einem Ausblick in die Zukunft gewidmet ist.

Und hier ist der Autor immer ernst. Sehr ernst sogar. Er zögert nicht, zum Unterschied von manchen Wortführern des heutigen offiziellen Oesterreich, vor den oft sehr einsamen Kämpfern für Oesterreich in den Jahren, als dieser Staat von der Landkarte getilgt war, den Hut zu ziehen. Ein eigenes Kapitel, das unzweifelhaft aus privaten, bis zur Stunde noch nicht veröffentlichten österreichischen Quellen schöpft, gibt zum ersten Male einer breiten Oeffentlich- keit eine Zusammenschau, die sich frei hält von falscher Widerstandspathetik, genau so wie von dem alles andere als diskreten Schweigen mancher unserer Landsleute.

Den Abwehrkampf der Oesterreicher gegen neue Bedrohungen in dem Jahrzehnt „zwischen der Befreiung und Freiheit“, 1945 bis 1955, hat Gordon Shepherd ja aus nächster Nähe erlebt. Er kann ihm daher auch aus persönlicher Anschauung seine Reverenz erweisen.

Als die rotweißroten Fahnen an jenem 15. Mai 1955 im Wiener Belvedere hochgingen, den Abschluß des Staatsvertrages kündend, und wenige Tage später die österreichische Volksvertretung die Neutralität unseres Staates in dessen Verfassung aufnahm, fällt, für Shepherd der Vorhang. Ein erregendes, beinahe hundert Jahre währendes Schauspiel, das für Oesterreich nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bunde und dem Nichtgelingen des Umbaues der Monarchie zu einem donaueuropäischen Commonwealth eine Reihe seiner Natur widersprechenden Alternativen bereithielt, war zu Ende. Oesterreich hatte den Anschluß an Oesterreich, den Anschluß an seine eigene Vergangenheit in einer geänderten Umwelt gefunden.

Dennoch: die Weltgeschichte ist noch nicht zu Ende.

Auch Neutralität ist kein politisches Faulbett. Vor allem für ein Volk, das im Herzen Europas, an der Kreuzung historischer Kraftlinien siedelt. Deswegen geht Shepherds Blick abschließend in die Zukunft. Welche Chancen und Gefahren sieht der politisch wache, nüchterne Freund für unser Land?

„Der österreichische Staatsvertrag, die stürmischen Moskau-Belgrader Flitterwochen und das allgemeine Säbelrasseln entlang des Eisernen Vorhanges, verursacht durch den Abfall Polens und den großen Aufstand in Ungarn im Jahre 1956, haben die gesamte Situation in Mittel- und Südosteuropa ins Fließen gebracht. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts scheinen strukturelle Veränderungen unvermeidlich, da weder der Osten noch der Westen den heutigen Stand der Dinge als zufriedenstellend oder stabil betrachten können. Wenigstens vier hypothetische Lösungen könnten sich daraus ergeben, deren jede von dem gegenwärtigen ungemütlichen Waffenstillstand abweicht. Die erste wäre eine Koordination durch eine straffe politische Vorherrschaft Jugoslawiens. Die zweite in Form einer ferngesteuerten Koordination durch eine Rückkehr zu der wirtschaftlichen Vorherrschaft Deutschlands aus der Vorkriegszeit. Die dritte bestünde in einer Fusion aller Donaustaaten einschließlich Oesterreichs und Jugoslawiens innerhalb des Rahmenwerkes des gegenwärtigen Ostblocks, welches Konzept das Maximum darstellt, das der Kreml je erreichen könnte. Das vierte schließlich wäre eine Integration Zentraleuropas, verankert in Wien, und Südosteuropas, verankert in Belgrad, welche Lösung ungefähr das Maximum der westlichen Erwartungen darstellen würde S. 274 f..

Allein schon wegen dieser messerscharfen Diagnose, die im einzelnen ausgeführt wird, verdient das vorliegende Buch hierzulande größte politische Beachtung. Nicht ohne Sorgen blickt Shepherd nach Südosten. Und nach dem Nordwesten. Ja, auch dorthin!- Gordon Shepherd sieht Oesterreichs Zukunft nur allzu richtig im Spannungsfeld einer politisch ehrgeizigen Donauraumpolitik Belgrads und einem wirtschaftlichen Expansionsdrang Deutschlands. Und wenn Shepherd, der seinerzeit Oesterreichs Beitritt zum Europarat publizistisch mitvorbereitet hat, an anderer Stelle festhält: „Die Gefahr eines .kalten Anschlusses’ durch eine wirtschaftliche deutsche Durchdringung Oesterreichs kann nicht allein als eine kommunistische Erfindung in den Wind geschlagen werden“ S. 211, so sagt er ungefähr dasselbe, was in diesem Blatt schon mehrmals in aller Ruhe ausgesprochen wurde und die Federn gewisser „Freunde" hurtig in Bewegung setzte.

An die Adresse jener, die in diesem Staat politische Verantwortung tragen, sind unmißverständlich die Worte gerichtet:

„Bei der Verhinderung beider vorerwähnten Lösungen — der jugoslawischen oder der deutschen — ist Oesterreichs Führerschaft unerläßlich; und es wird politische Führerschaft sein müssen und nicht nur eine kulturelle Aktivität. Denn nur wenn Oesterreich in einem kalten Wirtschaftsanschluß an Deutschland untergeht, kann Berlin oder Bonn nach dem Balkan greifen. Und nur wenn Wien verabsäumt, seine Hand mit den alten Schwesterhauptstädten Prag und Budapest zu vereinigen, kann Jugoslawien in den Dönauraum eindringen. Unglücklicherweise haben sowohl Titos Jugoslawien als auch Nachkriegsdeutschland einen Ueberfluß an dem, was Oesterreich immer gefehlt hat: Vitalität und Selbstvertrauen" S. 277 f..

Und nicht weit davon notiert Shepherd: „Es wird weder für Zentraleuropa noch für den europäischen Kontinent in seiner Gesamtheit irgendeine Stabilität geben, bis nicht das Donaubecken zu jener Rolle zurückgekehrt, die es- 650 -Jahre lang unter den Habsburgern gespielt hat.“

Das sind nicht die Tagträumereien eines schwarzgelben Hofrates, nicht die Spekulationen eines Schreibtischgelehrten, das ist die nüchterne Aussage eines angelsächsischen Publizisten, der nicht nur seinen Seaton Watson in der Jugend gelesen, sondern die harte Wirklichkeit in den Satellitenstaaten in mehr als einer Reise geschaut hat.

Ein Engländer glaubt an Oesterreich. Wollen wir uns. dürfen wir uns von ihm an Cilauben — allen Widrigkeiten der Stunde zum Trotz —beschämen lassen, wenn er an die Adresse Wiens die Frage richtet:

„Als einzige freie katholische. Hauptstadt an den Ufern der Donau erscheint ihre Verantwortlich' keit klar genug. Was jedoch nicht klar ist, ist, wie sie sich dieser Verantwortung gegenüber verhalten wird. Wird sie mit der westlichen Welt Zusammenarbeiten, politisch und ideologisch, bei der Lockerung des kommunistischen Würgegriffes an Zentraleuropa? Oder wird sie auf dem lebenswichtigen Gebiet der Außenpolitik ein Zuschauer, ein Opportunist oder ein Opfer dieses Ringens werden? Werden die Besten des größeren österreichischen Geistes Wiedererstehen oder wird diese fluchwürdige Halb- und Halbheit des österreichischen Charakters — die schon jetzt ihre Innenpolitik erwürgt — auch ihr internationales Verhalten lähmen? Wird sie der Herausforderung begegnen, die heute mehr denn je vom Osten her an sie ergeht; oder wird sie aus einer Vergangenheit austreten, die zu groß für sie geworden ist? Alle diese Fragen können auf eine einzige endgültige, einfachere und eindringlichere reduziert werden: Glaubt Europa mehr an Oesterreich, als Oesterreich an sich selber glaubt?“ S. 287 f. Gordon Shepherds Buch ist also mehr als eine Art politischer Baedeker, als den es ein unserem Blatt befreundeter Wiener Publizist und Historiker den in Wien akkreditierten Diplomaten empfiehlt.

Es gehört wegen seines scharfsichtigen Ausblickes und seiner klar erkannten Alternativen zu allererst in die Hände jener, die heute für diesen Staat und seinen Weg in die Zukunft verantwortlich sind. Dort möge es mithelfen, der österreichischen Politik jene Impulse zu geben, deren diese über ein geordnetes Budget und eine halbwegs erfolgreiche Fremdenverkehrssaison hinaus zur Stunde dringend bedarf.

T h e Austrian Odyssey. By Gordon Shepherd. McMillan and Co. Ltd., London 1957. 203 p.

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