6617680-1955_42_09.jpg
Digital In Arbeit

Im Gegensatz zu Wickham-Steed

Werbung
Werbung
Werbung

Gordon Shepherd, ein Historiker der Universität Cambridge, kam 1945 als sehr junger Oberst der britischen 8. Armee nach Wien. Nach seinem Abschied von der Armee verblieb er dort als Korrespondent des „Daily Telegraph“. Sein 1954 erschienenes Buch bedeutet einen Bruch mit der bisherigen englischen Tradition der Beurteilung der Verhältnisse im Donauraum. Die von Wickham-Steed bis A. P. Taylor befahrenen Geleise werden verlassen und der Leser wird in eine völlig neue Problematik eingeführt. Das Neue ist eben das russische Imperium im Donauraum. Mit unendlichem Fleiß hat der Verfasser Informationen gesammelt, teils aus den amtlichen Veröffentlichungen der Donaustaaten, teils sogar aus Gesprächen mit Kominform-Politikern, zum Beispiel dem später hingerichteten tschechoslowakischen Außenminister Clementis, und letztlich auch aus den Erzählungen von Flüchtlingen. Gestützt auf diese Informationen, gibt der Verfasser ein anschauliches Bild von den inneren Machtkämpfen der verschiedenen kommunistischen Parteien und von der wirtschaftlichen Lage der Bauern und Arbeiter unter dem jetzigen Regime.

Im letzten Kapitel richtet Shepherd seinen Blick in die Zukunft des Donauraumes, wobei er jedoch eine kriegerische Entwicklung der Großmächte aus seinen Betrachtungen ausschließt. Mit recht humorvollen Bemerkungen übergeht der Autor die Vorstellungen mancher Emigrantenkreise, deren politisches Auffassungsvermögen im Moment ihres Abschieds von der angestammten Heimat zu funktionieren aufgehört habe. Im Gegensatz zu deren Ansichten ist der Verfasser überzeugt, daß die russische Herrschaft bleibende Spuren im Donauraum zurücklassen wird, vor allem die forcierte Industrialisierung, die ganz auf den Austausch mit einem großen, geradezu unersättlichen Abnehmer, nämlich die Sowjetunion, eingestellt ist. Hierin sieht der Autor ernstliche Gefahren für die wirtschaftliche Entwicklung der Donaustaaten nach einem eventuellen politischen Rückzug Rußlands, welcher seiner Ansicht nach vielleicht die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Albanien umfassen könnte. Die Gefahren einer Ueberproduktion an Werkzeugmaschinen und so weiter könnten nur durch eine rasche Umstellung auf Verbrauchsgütererzeugung, für welche auch jetzt stilliegende Werke wieder in Betrieb gesetzt werden könnten, besonders im Rahmen der böhmisch-mährischen Industrie, vermieden werden. Auf alle Fälle müßte aber, immer gemäß der Ansicht des Autors, eine Integration oder Föderation der Donaustaaten angestrebt werden. Solche Betrachtungen führten den Verfasser unvermeidlicherweise auch zu einem Rückblick auf Altösterreich: in der Beurteilung der positiven Werte dieses Staates zeigt sich in dem vorliegenden Buch ein für die angelsächsische Publizistik geradezu erfrischender ,,new look“. Der Autor meidet es aber, irgendwelche Patentlösungen zu propagieren, die letztlich doch nur Wunschträume sein können. Er vertritt wohl die Ansicht, daß Wien und Belgrad, die beiden Hauptstädte ohne kommunistische Regierung, im Falle einer russischen Absetzbewegung im Donauraum eine besondere Rolle spielen würden. Allerdings hat er in diesem Zusammenhang die inneren Probleme Jugoslawiens, insbesondere die kroatische Frage, überhaupt nicht erwähnt. Unbeschwert von irgendwelchen Vorurteilen führte Gordon Shepherd auch ein ausführliches Gespräch mit Dr. Otto Habsburg-Lothrin-gen, den er als hervorragenden Experten für den Donauraum bezeichnet. Letzterer sieht in der katholischen Kirche, den Bauern und in den Gewerkschaften (besonders in der Tschechoslowakei) die einzigen Kräftegruppen, welche das kommunistische Regime im Donauraum überleben werden. Trotzdem wird das private Kapital in der Industrie der zwei Donauländer Ungarn und Tschechoslowakei auf lange Zeit hinaus eine untergeordnete Rolle spielen müssen. Eine Wiedereinsetzung der Großgrundbesitzer in Ungarn in ihre früheren Besitzungen wäre undenkbar, nur die Bauern müßten ihr Besitzrecht zurückerhalten. Das Problem der Staatsform, welches durch eine direkte Frage Shepherds in diesem Gespräch angeschnitten wurde, betrachtet Dr. Otto Habsburg-Lothringen als zweitrangig, zumal die Einstellung zu dieser Frage in Oesterreich, Ungarn, Böhmen und Mähren sowie in der Slowakei verschieden ist. In Ungarn gibt es wahrscheinlich eine

Mehrheit für die Monarchie, zumal das Wort „Republik“ in Ungarn gleichbedeutend ist mit kommunistischer Gewaltherrschaft, in Oesterreich ist die Frage unentschieden, bei Tschechen gäbe es sicherlich eine republikanische Mehrheit und die Slowaken würden jede Lösung unterstützen, die ihnen die eigene Autonomie garantieren kann, an der eigentlichen Frage wären sie uninteressiert. Das entschieden Wichtigere als die Staatsform wäre aber, daß die Völker des Donauraumes von dem gegenwärtigen Zustand befreit würden und sich dann zum Ziele ihrer Selbsterhaltung in einer möglichst dezentralisierten Föderation einigen könnten.

Der große Wert des Buches von Gordon Shepherd liegt in der Tatsache, daß zum erstenmal die Probleme des Donauraumes dem angelsächsischen Leser in sachlicher, geistreicher Form dargelegt werden, ohne irgendwelche Trübung durch die Klischees des „Tschechoslowakismus“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung