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Wir an der Donau

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Die „Budapester Rundschau“ übernahm den FURCHE-Artikel „Schweigen über die Nachbarschaft“ (Nummer 38/ 1986) und fügte ihm eine eigene Stellungnahme zu.

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Die „Budapester Rundschau“ übernahm den FURCHE-Artikel „Schweigen über die Nachbarschaft“ (Nummer 38/ 1986) und fügte ihm eine eigene Stellungnahme zu.

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Selten hat mich ein Artikel so stark gefesselt wie der Aufsatz von Vladislav Marjanovic im österreichischen Wochenblatt DIE FURCHE. Sein Grundgedanke, gemeinsam mit unseren Nachbarn in einer blühenden Donauregion zur Prosperität zu kommen, ist eine Idee, die eine durch Nationalismen intern und extern erniedrigte, inmitten irrationaler Ressentiments groß gewordene Generation, besonders in Ungarn, aufleuchtenden Auges und voller Zuversicht begrüßt.

Der Schriftsteller Läszlo Ne-meth (1901-1975) formulierte in seiner „Revolution der Qualität“

bereits in den dreißiger (!) Jahren einen ähnlichen Gedanken, der damals wie ein Signal wirkte und auch den ungarischen Intellektuellen von heute immer wieder zum Nachdenken zwingt:

„Wir Donauvölker stehen dort, wo wir vor dem Krieg standen, leben in einer Schicksalsgemeinschaft und wissen nichts voneinander. Es ist nun wirklich an der Zeit, unsere Milchbrüder kennenzulernen, mit denen wir gemeinsam an der ausgetrockneten Brust desselben Schicksals gesaugt hatten. Kennenlernen ist Verstehen, und Verstehen ist Liebe.“

Die Probe der Idee ist die Praxis. Als ich die Ausführungen Marjanovic' las, überkam mich der Drang nachzuforschen: Welche Antwort bekäme ich in Ungarn auf dieselben Fragen?

Gemäß des Appells der UNESCO an die Mitgliedsländer, die Schulbücher inhaltlich gegenseitig zu überprüfen, begannen 1966 zwischen Ungarn und Österreich, dann auch mit Frankreich einschlägige Konsultationen, während in Braunschweig bereits seit 1951 das Georg-Ecker-Institut für Schulbuchforschung tätig war.

Und da von den fünf Nachbarn Ungarns vier sozialistische Länder sind, schlug Ungarn diesen 1967 in Prag, auf dem II. Symposium für Geschichtsunterricht, vor, die Schulbücher bilateral inhaltlich abzustimmen. Die polnische Delegation erklärte sich gleich auf der Konferenz einverstanden.

Auf dem Budapester Symposium 1969 wartete Ungarn bereits mit einem konkreten und detaillierten Vorschlag auf. Heute sind praktisch mit allen europäischen Ländern die Abstimmungsarbeiten für Schulbücher angelaufen, im nächsten Jahr trifft man sich mit Zuständigen in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich:

Was die unmittelbaren Nachbarn betrifft: Mit Österreich ist die Vereinbarung zur inhaltlichen Abstimmung sämtlicher Schulbücher getroffen. Vor kurzem fanden einschlägige Gespräche in Bukarest statt, und es ist zu hoffen, daß bei der nächsten Runde, 1987 in Budapest, Fortschritte erzielt werden. Die Bereitschaft Jugoslawiens zu einer solchen Zusammenarbeit steht außer Zweifel, doch da die Ministerien der einzelnen föderativen Republiken ihre Dispositionen gesondert treffen und auch die Schulbücher jeweils verschieden sind, wird das Verfahren wohl ziemlich umständlich werden. Mit der CSSR konnten bisher noch keine konkreten Vorbereitungsarbeiten eingeleitet werden.

Ziel dieser Arbeit mit den Schulbüchern ist es, Sachirrtü-

mer auszumerzen, einseitige, verzerrte Darstellungen von Geschehnissen und Personen sowie solche Einschätzungen zu korrigieren und natürlich alles zu eliminieren, was der andere als beleidigendes Pauschalurteil empfinden könnte.

Dafür gibt es mehrere Methoden. Die Japaner zum Beispiel schickten einfach ihre Schulbücher, mit der Bitte, alles Falsche richtigzustellen. Andere Länder, zum Beispiel Indien oder Ägypten, ersuchten die Ungarn, auf drei-vier Maschinenseiten darzulegen, was man über das Land gern in den Schulbüchern lesen würde. Am effizientesten erweist sich natürlich der Weg von Verhandlungen, die zu direkten Vereinbarungen führen. Auch in Relation Bundesrepublik Deutschland hofft Ungarn mittels dieser Methode ins Einvernehmen zu kommen.

Es stellt sich freilich die Frage, ob es zwecks Bewußtmachung der Schicksalsgemeinschaft an der Donau ausreicht, aus den Schulbüchern dies und jenes auszumerzen beziehungsweise Korrekturen vorzunehmen. Die Erfahrung lehrt, daß das Geschichtsbewußtsein der Gegenwart nicht so sehr durch Geschichtsbücher, sondern vielmehr durch Dichtung und Literatur des nationalen Aufbruchs geprägt wurde.

Was nun das „Donauraumbewußtsein“ betrifft, so handelt es sich dabei wohl weitgehend auch um eine Frage der Phraseologie. In der ungarischen Dichtungjsteht die „Donau-Landschaft“ (Du-natäj) sinnbildlich für die Schick salsgemeinschaft, von der hier die Rede ist. Die Geschichtsschreibung geht schon sparsamer mit dem Begriff um.

Der Fluß Donau verbindet aber im Konkreten seine Anrainer, durchströmt eine geographisch exakt zu erfassende Region und

half bei der gegenseitigen Vermittlung der Kultur dieser Völker, trug zur Formung ihrer geistigen Güter bei.

Die Schulbücher, die für die nationalen Minderheiten in deren Muttersprache verfaßt werden, spielen in Ungarn, genauso wie in Österreich, hinsichtlich der Verständigung in allen Richtungen eine Pionierrolle.

Das von ausländischen Schulbüchern gezeichnete Ungarn-Bild zu analysieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Es sei als Beispiel lediglich darauf hingewiesen, daß in der 932 Seiten starken „Geschichtlichen Weltkunde“, Ausgabe für Gymnasien in Bayern (Verlag Moritz Diester-weg) über Ungarn auf den Seiten 2,15, 25, 28 und 70 berichtet wird. Eine gar nicht so schlechte Proportion.

Als historische ungarische Gestalten nennt die „Weltkunde“ den Staatsgründer König Stephan den Heiligen, den letzten Außenminister der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Gyula Graf Andrässy, Miklös Horthy, Reichsverweser Ungarns von 1920 bis 1944, die zentrale Gestalt der Räterepublik 1919 Bela Kun, Mätyäs Räkosi, Generalse-

kretär der ungarischen kommunistischen Partei 1945—1956, Imre Nagy, Ministerpräsident während des Aufstandes 1956, und Jä-nos Kädär, ungarischer Parteichef seit 1956. Doch es fehlen—und ohne sie ist ungarische Geschichte so gut wie gar nicht verständlich — der Renaissancekönig Matthias Corvinus, Gabor Bethlen, Fürst des unabhängigen Siebenbürgens zur Zeit der türkischen Besatzung Ungarns, Ferenc II. Räkoczi, Anführer des Unabhängigkeitskrieges gegen die Habsburger im 18. Jahrhundert, und Lajos Kossuth, der 1948/49 an der Spitze der bürgerlichen Revolution und des Freiheitskampfes stand.

Doch soll man vor allem vor der eigenen Tür kehren, und dabei stellt sich heraus, daß man auch mit den ungarischen Schulbüchern nicht ganz zufrieden sein kann. Noch finden sich manche Verallgemeinerung und auch etliche Flüchtigkeitsfehler. So taucht da zum Beispiel 1801 (!) ein Gebilde auf, das als Österreich-Ungarn bezeichnet wird, oder man läßt bei Statistiken aus dem Habsburgerreich Böhmen einfach unter den Tisch fallen (da es seinerzeit zu Österreich zählte). So erscheinen „Österreich“ und „Böhmen“ als Gegner des ungarischen Freiheitskampfes. Auch der „Giftzahn“ Ortsnamen wurde noch nicht gezogen. Viele Städte in den Nachbarländern werden — Macht der „Gewohnheit“ - mit den deutschen Namen bezeichnet, statt die historisch in der jeweiligen Landessprache gewachsenen Ortsnamen zu verwenden.

Ist da Optimismus überhaupt berechtigt? Als Antwort stehe die Frage, mit der Kollege Marjanovic seine Ausführungen schließt: „Bei den österreichischen, ungarischen, deutschen, italienischen und jugoslawischen Intellektuellen stärkt sich die Uberzeugung, daß die Annäherung der Donau-Völker ein wahrhaft historischer Prozeß ist, der einer allgemeinen Prosperität nur nützen kann. Soll man nicht die jüngere Generation darauf vorbereiten?“ Doch. Man solL

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