6704914-1963_47_28.jpg
Digital In Arbeit

Notizen aus Budapest

Werbung
Werbung
Werbung

WIEN—HEGYESHALOM, ÜBER OBERLAA. So steht es auf den Fahrkarten zu lesen. „Über Oberlaa“ — liebenswürdiges Relikt einer k. k. Eisenbahnvergangenheit, entnommen etwa Nestroys „Eisenbahnheiraten“ oder Herzmanovsky- Orlandos „Kaiser Josef und die Bahnwärterstochter“. Der amputierte Rest des legendär gewordenen Orient-Express umfährt denn auch längere Zeit die Hinterfront der Großstadt, bis er schließlich ins Ostbahngeleise einschwenkt. Herbstlich ist das Land, braun stehen die abgeernteten Felder. Bald kommt die Grenze. Bruck an der Leitha — von fern sieht man schon die Wach

türme. Schließlich der Todesstreifen. Friedlich, harmlos, einem frischgeeggten Stück Acker gleich, liegt er in der Landschaft, eingezäunt von Stacheldraht.

Hegyeshalom, die ungarische Grenzstation. Kurz ist der Aufenthalt. „Ungarische Paßkontrolle“ — die Pässe werden eingesammelt. Auch die Zollkontrolle ist höflich und korrekt. Salutierend entfernt sich der Beamte.

Acht Tage Ungarn — viel zu kurz freilich, um das Land wirklich kennenzulernen. Acht Tage Ungarn — gesehen aus dem Blickwinkel eines Programmes mit viel zu vielen Punkten.

BALD KOMMT GYÖR (Raab), die erste größere ungarische Stadt. Viele Menschen warten auf dem Bahnsteig auf die Lokalzüge. Arbeiter, Bauern, Soldaten, Schüler. Viele Schüler. Sie tragen ihre bunten Schülermützen nicht ohne Stolz. Komorn, die altösterreichische Garnisonsstadt, liegt heute auf tschechoslowakischem Gebiet. Die Donau bildet hier die Grenze zwischen zwei Signatarstaaten des Warschauer Paktes. Trotzdem, auch hier: Wachtürme, Stacheldraht, Befestigungen. Vorsicht oder — Mißtrauen?

Das gewaltige Industriegebiet von Tatabanya ist schon von weitem sichtbar. Mächtige Schornsteine, Fabriks- und Bergwerksanlagen sind mitten in die karge Landschaft gestellt.

Schließlich Budapest. In riesiger Schlinge umfährt der Zug die Stadt, immer im Blickfeld bleibt die gewaltige Befreiungsstatue auf dem Geliertberg. Auf dem Ostbahnhof kommt der Reisende, der in Wien am Westbahnhof eingestiegen ist, in Budapest an.

ZOLTÄN KODÄLY IST IN UNGARN bereits sein eigenes Monu

ment geworden. Kodäly und Bartok — immer wieder begegnet man im Musikleben des Landes diesen beiden Namen. Eine Unterrichtsstunde in einer siebenten Volksschulklasse zeigte dann wohl am deutlichsten, was Kodäly für Ungarn wirklich bedeutet: Der von ihm entwickelte Musiklehrplan für Grundschulen bringt ganz erstaunliche Ergebnisse. Die angeborene Musikalität des ungarischen Volkes wird geweckt und belebt. Die Kinder singen — meist vom Blatt — Lieder und Kanons. Von Palestrina bis Bartok. Ein Instrument ist dieser Klassenchor, ein Instrument in der Hand des geschickten Lehrers, dem die Kinder mit sichtlichem Vergnügen gehorchen. Stolz und begeistert erzählt er dann von dem neuen Schultyp, der auf Kodälys Gedanken zurückgeht.

Daß Budapest heute bereits wieder ein reiches Theaterleben aufzuweisen hat, ist bekannt. „In der Zeit des Sektierertums“ — harmloser Ausdruck für die stalinistische Räkosi-Ära, dem der Gast aus dem Westen immer wieder begegnet — war das anders. Der Direktor des Theaterwissenschaftlichen Institutes, Dr. Franz Hont, gibt einen kurzen Überblick über das ungarische Theater der Gegenwart: Man spielt Shakespeare und Moliėre, aber auch Tennessee Williams. Max Frischs „Andorra“ steht ebenfalls auf dem Spielplan, neben Dürrenmatt und O'Neill. Auch die Klassiker kommen nicht zu kurz.

Die Eintrittspreise der Theater sind nicht hoch, die teuersten Karten kosten 28 Forint. Ein staatliches Subventionssystem erhält die Theater, die, wenn sie mehr als geplant einnehmen, eine Prämie bekommen. Die Zahl der Uraufführungen ungarischer Autoren ist — zumindest für den Wiener — erstaunlich hoch: Die vierzehn Budapester Theater haben allein im letzten Jahr fünfunddreißig Stücke ungarischer Autoren herausgebracht, von denen allerdings, wie Dr. Hont sofort einschränkt, nur die wenigsten wirklich gut gewesen seien.

EIN KURZER BESUCH beim Stellvertreter des Hauptdirektors der ungarischen Verlage vermittelt einen knappen Überblick über die ungarische Buchproduktion. Die Auflagenziffer steigt immer mehr an. Die Lehrbücher machen mit 32,7 Prozent den größten Anteil aus, gefolgt von der schönen Literatur mit 26.9 Prozent. Die populärwissenschaftliche Literatur umfaßt 16,8 Pro

zent der Gesamtauflage, dann folgen Jugendbücher (13,3), Fachbücher (7,7), wissenschaftliche Literatur (2,1) und „sonstiges“ (0,5). Auch die Produktion in deutscher Sprache steigt immer mehr: Kunstbücher, Fachbücher und — Kochbücher sind ein begehrter Exportartikel.

Schon in nächster Zeit wird in Budapest eine Anthologie österreichischer Lyrik der Gegenwart erscheinen. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt man die österreichische Gegenwartsliteratur, über die man — wie aus einem ausführlichen Gespräch mit ungarischen Übersetzern und Schriftstellern hervorgeht — ausgezeichnet informiert ist.

DIE ALTE HISTORISCHE STADT PĖCS (Fünfkirchen) ist zu einer der wichtigsten Industriestädte des Landes geworden. Aus dem romantischen Städtchen, nahe Mohäcs, wo sich 1526 Ungarns Schicksal für Jahrhunderte entschied, wurde eine ausgedehnte Stadt der Fabriksanlagen und Schornsteine. Der Rauch und der Kohlenstaub überziehen die kostbaren alten Häuser, die vielen Erinnerungen an die türkische Besatzung — zwei Moscheen wurden in Pecs in katholische Kirchen umgewandelt —, mit einer dicken, grauen Rußschicht. Stolz zeigt man dem Besucher das neue Pecs: eine Satellitenstadt für 12.000 Einwohner. Mittelpunkt: das Kulturhaus. Kirche gibt es keine. „Wir hindern aber niemanden daran, nach Pecs in die Kirche zu gehen.“ Fast heftig beteuert dies der junge Magistratsbeamte, der als Führer fungiert. Das Kulturhaus „ersetzt“ den alten Mittelpunkt des Ortes, die Kirche. Das Programm des Kulturhauses reicht vom Sprachkurs bis zum Tanzkurs, bietet aber auch den Bergleuten die Möglichkeit, ihre nicht abgeschlossene Grundschulbildung zu ergänzen. Ähnlich ist es in Komio, einer großen Bergmannssiedlung im Mecsek-Gebirge. Auch dort ist das Kulturhaus Mittelpunkt. Kino, Theater, Bibliothek, Klub — das alles ist den Bergleuten das Kulturhaus. Sogar Symphoniekonzerte werden dort veranstaltet.

UNVERSEHENS STEHT DER ÖSTERREICHISCHE Besucher mitten in der großen Politik. „Warum ist Österreich nicht bereit, mit Ungarn ein Kulturabkommen zu schließen?“ Unwirsch stellt der Präsident des ungarischen Institutes für kulturelle Beziehungen, Dr. Josef Bognär, diese Frage. Aus dem Ver-

such, den österreichischen Standpunkt klarzulegen, ergibt sich plötzlich eine Diskussion von überraschender Schärfe. Eine gemeinsame Ebene, auf der sich beide Anschauungen treffen, wird nicht gefunden. Ein Schatten, der auf die von der milden Herbstsonne in rotgoldenes Licht getauchten Budapester Tage fällt.

DIE EHEMALS KÖNIGLICHE BURG und das alte Buda werden wiederaufgebaut. Ein gewaltiges Projekt, das bis zum Jahr 1970 beendet sein soll. Vorläufig allerdings sind die mächtigen Ruinen noch eingerüstet. Archäologen und Denkmalpfleger sind damit beschäftigt, an Hand von Plänen und Quellen auch die Mauern und Gräber der Burg König Matthias' freizulegen. Gewaltige gotische Hallen werden unter den Fundamenten der There- sianischen Burg gefunden, die mittelalterlichen Türme und Tore werden rekonstruiert. Auch die alten gotischen Häuser im Burgviertel stehen zum größten Teil bereits wieder. Die Burg und das Burgviertel wurden im November 1944 in einem Kampf, bei dem buchstäblich

um jedes Haus gekämpft wurde, bis auf die Grundmauern verwüstet. Nach der Fertigstellung sollen die Archive, Museen und Kunstsammlungen dort einziehen. Ein großzügiger Plan — die Museumstadt auf dem historischen Burgberg.

DIE JURY ENTSCHEIDET, was verkauft werden darf, erklärt der Maler Istvän Kurucz dem Besucher, dem er sein Atelier zeigt. In einer Vorstadt Budapests bewohnt der Maler sein eigenes ebenerdiges Häuschen, das zusammen mit einer Anzahl ähnlich aussehender eine kleine Künstlerkolonie bildet. Die erwähnte staatliche Jury entscheidet über den Wert oder Unwert des Kunstwerkes, eine Verkaufsorganisation ist Mittler zwischen Künstler und Käufer. „Nimmt die Jury jedes Bild?“ will der Gast wissen. Der Maler lacht. Auch einige seiner Werke wurden schon zurückgewiesen. Aber sonst ist er ganz zufrieden mit dieser Institution. Er könnte sich eine andere Möglichkeit des Verkaufes gar nicht vorstellen.

Sein Freund und Nachbar, der Bildhauer Ivan Szabo, ist ein Pferdenarr. Unzählige Zeichnungen und Statuetten von Pferden zeigt er dem Gast. Immer neue schleppt er herbei und lacht über das ganze Gesicht. Er arbeitet vor allem für Sportanlagen und Ausstellungen.

ENDLICH, AM LETZTEN TAG, ein wenig freie Zeit. Der strenge Zwang des Programms ist etwas gelockert. Ziel- und planlos schlendert man ein wenig durch die Straßen, die noch den großen Festschmuck

— russische Oktoberrevolution 1917

— tragen. Listig blickt Lenin aus der Auslage eines Lebensmittelgeschäftes hervor. In jedem Schaufenster ist sein Bild zu sehen: Hinter Konservendosen, halb verborgen, blinzelt er den Bummler an, ernst Und nachdenklich blickt er aus einem Schuhgeschäft. Daß die Plakate alle gleich sind, scheint niemanden zu stören.

In den Straßen herrscht Gedränge. Nicht nur am Samstag. Jeden Tag drängt sich, hastet eine Unmenge von Passanten durch die Straßen, wartet auf die — unglaublich billige

— Straßenbahn oder hält nach einem Taxi Ausschau.

Vor der Matthias-Kirche ist es still. Einige Wiener Autobusse parken dort. Budapest ist wieder Ziel eines Wochenendausfluges geworden. Von der Donau steigen schon die Nebel auf. Früh geht dieser ungewöhnlich schöne Spätherbsttag zu Ende. Ein letzter Blick noch von der Fischerbastei auf die Stadt, die — im Gegensatz zu Wien — wirklich an der Donau liegt. Es wird dunkel und kühl. Trübe glimmt von der Spitze der Parlamentskuppel der rote Stern herüber.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung