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West—Ost: abseits...

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Das sind die Dörfer, die verlorenen, geduckt in der großen Tiefebene zwischen Donau, Drau und Save. Aus Lehm geformte Häuschen, windschief mit Binsen gedeckt, umgeben von Blumen- und Küchengärten, Akaziendschungeln, inmitten einer unabsehbaren Fruchtbarkeit ohnegleichen: Weizen, Pflaumen und Mais, Mais. Doch zu allen führt der Autobus hin, nord- und südwärts der großen Eisenbahnlinie Zagreb—Beograd, die auf hori* zontisch schnurgerader Strecke in aufwallendem Staub verschwindet, grauen Windhosen gleich. Einmal ist es ein primitiver, dahinrumpelnder Autobus (Vukovar—Ilok, Donaufähre), das andere Mal der modernste Autocar (Osijek—Batina, ebenfalls Donaufähre), mit rotsamtenen Fauteuils, die bequemen Kopfstützen mit weißem Leinen überzogen wie in der ersten Bahnklasse, und vorne über dem Fahrer, sichtbar all dem mit Sack und Pack gedrängten Bauernvolk, das Radio, Märsche und Volkslieder tönend, und der TV-Apparat.

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Das sind die Dörfer, die verlorenen, geduckt in der großen Tiefebene zwischen Donau, Drau und Save. Aus Lehm geformte Häuschen, windschief mit Binsen gedeckt, umgeben von Blumen- und Küchengärten, Akaziendschungeln, inmitten einer unabsehbaren Fruchtbarkeit ohnegleichen: Weizen, Pflaumen und Mais, Mais. Doch zu allen führt der Autobus hin, nord- und südwärts der großen Eisenbahnlinie Zagreb—Beograd, die auf hori* zontisch schnurgerader Strecke in aufwallendem Staub verschwindet, grauen Windhosen gleich. Einmal ist es ein primitiver, dahinrumpelnder Autobus (Vukovar—Ilok, Donaufähre), das andere Mal der modernste Autocar (Osijek—Batina, ebenfalls Donaufähre), mit rotsamtenen Fauteuils, die bequemen Kopfstützen mit weißem Leinen überzogen wie in der ersten Bahnklasse, und vorne über dem Fahrer, sichtbar all dem mit Sack und Pack gedrängten Bauernvolk, das Radio, Märsche und Volkslieder tönend, und der TV-Apparat.

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Auf einmal wird es anmutig hügelig: die Fruska Gora im weinreichen Syrmien (Srem), majestätische Pappelreihen, und man kommt am Nordhang der Hügelwelt nach Karlowitz (Sremski Karlovci) unmittelbar an der breit und ruhig dahinströmenden Donau, und am Südhang nach Mitrovica (Sremski Mitrovica) an der Save — und das sind kleine Städte, bukolische Städtchen, und man sieht und fühlt: hier beginnt der eigentliche Osten. Das sieht man nicht nur an den Straßentafeln, die dem vom Westen Kommenden zum erstenmal die ihm unleserlichen cyrillischen Aufschriften zeigen, sondern auch an der ganzen — fast schon fatalistischen — Stimmung.

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Als Metternich fragte, wo der Osten (oder der Balkan oder Asien) beginne, antwortete er mit einem Bonmot: „In der Reisnerstraße.“ Sie ist heute mitten im vornehmen Diplomatenviertel des III. Wiener Gemeindebezirkes, der noch immer treffend „Landstraße“ heißt, an der großen Ostmagistrale, hinausführend ins „Nichts als Gegend“ — Flachland, und dort stand sein Palais (Metternichgasse!), nur ein paar Steinwürfe weit von den Pußtabrunnen des Erdbergermais und der anschließenden Simmeringer Had. Dort haben sich bis in unsere Tage die letzten Häuschen im Stil des östlichen Kolonisationsschemas erhalten. Wir aber, auf unserer Reise ins unbekannteste Jugoslawien, erleben, daß der exotisch anmutende Osten erst so recht in Karlowitz und Mitrovica beginnt.

Karlowitz ist das „serbische Rom“, wo man zum erstenmal auf die orthodoxen Kirchen stößt, und vom nahen Mitrovica ging auf Initiative von Byzanz noch im spätantiken Altertum die erste Christianisierung Österreichs aus. Österreich war damals die slawisch-karantanische Mark, sie umfaßte Kärnten, Friaul, Krain und das obere Murtal Steier-marks (die zweite Christianisierung kam von Süden aus Aquileja, und erst die dritte, von Salzburger Chor-und Wanderbischöfen gepredigte, war die bajuwarisch-deutsche für die österreichischen Alpenländer).

In Karlowitz, dessen roter Dessertwein in keinem Wirtshaus der alten österreichisch-ungarischen Donaumonarchie fehlen durfte, wird viel Vieh getrieben, noch gibt es genug Pferdefuhrwerke, und die Tierärzte, mit denen man sich deutsch verständigen kann, können gut leben. Karlowitz ist ein geflügeltes Städtchen mit Gehsteigen und Platanenalleen, und den baumgrünen Hauptplatz umstellen orthodoxe Kirchenpaläste. Karlowitz ist alter Patriarchensitz mit gepflegten Parks, orientalisch farbbunten Domen, Kathedrale, Priesterseminar, Gymnasium, still in sich versunkene Gelehrsamkeit, eine kerikale Residenz im Duodezformat. Von den fünf meist doppeltürmigen Kirchen sind nur zwei katholisch, doch gibt es viele Kapellen. Von den Popen, freundliche Kavaliere, mit gelockten, schwarzlackierten, langen Vollbärten und blendendweißen Zähnen, sprechen einige einigermaßen Deutsch. Es soll aber auch barfüßige Mönche geben, die demütig betteln.

Ein wenig außerhalb Karlowitz', auf einer Straßenanhöhe im dörfischen, rein katholischen Vorort, steht die berühmteste Kapelle, die Friedenskapelle (Kapela Mira). Sie erinnert an den Frieden von Karlowitz (26. Jänner 1699), wo Prinz Eugen ein salomonisches Urteil in die Tat umsetzte. Die in vollem Rückzug befindlichen Türken verloren fast alle ihre Eroberungen. Von den fünf am Friedensschluß beteiligten Mächten, außer Österreich und der Türkei noch Rußland, Polen und Venedig, wollte keiner der Abgesandten den anderen den Vortritt lassen, sobald sie den ehemaligen Holzbau, darin die äußerst zähen, dramatischen, zwei Jahre sich hinziehenden Verhandlungen zum Abschluß kamen, betraten. Daher ließ Prinz Eugen zu dem vorhandenen einen Tor vier weitere brechen, und so konnten alle gleichzeitig ihren Einzug halten.

Bald nachher wurde die heutige steinerne Kapelle erbaut, eher eine ansehnliche Kuppelkirche. Auch sie bekam fünf Tore, von denen jetzt zwei vermauert sind. In ihrem Innern zieht sich rundum eine Galerie unter der himmelblauen, mit zahllosen Goldsternen übersäten Kuppeldecke hin. Vom Küster wird dreimal täglich geläutet (und es muß an die vergessene Tatsache erinnert werden, daß das Mittagläuten überhaupt erst von Papst Calixtus III. eingeführt wurde, zum Dank an den Vater des Ungarnkönigs Mathias Corvinus, jenen Johann Hunyadi, der die Türken schon lange vor Prinz Eugen in der Schlacht bei Belgrad 1456 vernichtend schlug und bis nach Bulgarien zurücktrieb).

In die serbokroatische Bevölkerung eingesprengt sind auch manche ausgezeichnet Deutschsprechende, und wir freuten uns, auf der Straße zwei zu treffen. Der eine war ein alter ehemaliger k. u. k. Offizier, ein strammer, aufrechter Herr, seinerzeit kommandierender Oberleutnant in der Wiener Stiftskaserne; gerührt erkundigte er sich, ob man bei uns noch „Wien, Wien, nur du allein“ spiele, und als wir bejahten, wiederholte er: „Ja, ja, Wien, nur du allein...“ Der andere war ein greiser Richter, dessen Gebiß bei jedem Wort herauszufallen drohte, er sprach Deutsch wie ein Wiener, und als wir ihm bedeuteten, hoffentlich sei er kein allzustrenger Richter gewesen, lachte er so sehr, daß wir sein Gebiß mit den Händen auffangen mußten.

Gebrochen Deutsch spricht der Winzer Matija Rapic in seinem netten Landhaus an einem in die Weingärten hinaufführenden Steilgäß-chen, das noch das uralte Türkenpflaster aus spitzen Bruchsteinen aufweist, daran man sich die Schuhe ruiniert (weshalb die Einheimischen, abgehärtet wie sie sind, lieber barfuß gehen). Er hatte in Stockerau gearbeitet und kredenzte uns, direkt aus seinem Keller geholt, den honiggelben Bratenwein in der Pergola, wo die Weinranken und die zum Trocknen aufgehängten Maiskolben uns zu Häupten raschelten. Gibt es etwas Echteres und Besseres? Für den Liter bekommt er nach der kürzlich beendeten guten Weinlese 2 Dinar (3.50 Schilling), war aber nicht zu bewegen, Geld anzunehmen, und beim Abschied konnten wir es nicht verhindern, daß seine junge blonde Frau sich zum Handkuß niederbeugte. Er empfahl uns, an der Donau zu essen, und wir haben es in dem schönen Strandrestaurant nicht bereut, so mundete uns bei ideal rascher Bedienung das Pljeskavica, eine Art großes, flach-kreisrundes Fleischlaberl mit Bergen milder, süßer Zwiebeln, und darauf die Schale türkischen Kaffees... Die ganze Landschaft ist ein unabsehbares Paradies von Weingärten, und es schadet ihnen nicht, daß die Donauwellen die sonnengrünen Riede bespülen.

Im absolut flachen Mitrovica wieder, an der schon strombreiten unteren Save, Schnellzugstation des Orientexpreß 84 Kilometer vor Beograd, einem größeren Städtchen mit ebenfalls genug orthodoxen Kirchen — in Mitrovica gibt es eine neueste Sensation, auf welche die Einwohner stolz sind. Ein deutschsprechendes Ehepaar, überschwänglich immer von „Sonde“ redend, drängte uns, die wir ein modernes Thermalbad vermuteten, für das wir aber gar kein Interesse hatten, zu der „Sensation“, zu der — schon wieder! — „Sonde“. Durch den schattigen Stadtpark schleifte es uns dorthin. An Ort und Stelle angelangt, standen wir einer angenehmen Überraschung gegenüber. Die „Sonde“ erwies sich als Ausgrabung einer antiken Stätte von zirka 3000 Quadratmeter Umfang mitten in der Stadt. Ein römischer Stadtteil ist freigelegt, mit Torbogen, Warmluftheizung, Kanalisation und herrlich ornamentierten Steinfliesen. Diese werden jetzt vor dem Wintereinbruch wieder mit einer dünnen Erdschicht bedeckt, um sie zu schützen.

Zurück zur Bahn nahmen wir, auf den halsbrecherischen städtischen Autobus, der uns hergebracht hatte, verzichtend, einen Einspänner, und er verlangte für die wohltuende Trabfahrt nicht mehr als 5 Dinar (zirka 8 Schilling), und als wir ihm' einen Dinar draufgaben, bedankte er sich endlos.

So erlebten wir, wieder einmal der Donau folgend, die eigentliche Grenzlinie zwischen West und Ost, unbeschadet der Eisernen Vorhänge, die es auch zwischen den Oststaaten untereinander gibt! — und nicht auf den übel-üblichen Sightseeingtours des Massentourismus; wir erlebten in den abseitigen Teilen Jugoslawiens Volksnähe und Religiosität, und wieder einmal bekräftigte sich, daß die Donau, der einzige Europa im Längsschnitt durchziehende Strom, der Morgenlandstrom des Abendlandes ist.

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