6716266-1964_43_20.jpg
Digital In Arbeit

Zweimal Warschau

Werbung
Werbung
Werbung

NACHDEM DAS FAST VOLLSTÄNDIG zerstörte Warschau im Jänner 1945 befreit worden war, überlegte man ernsthaft, ob es überhaupt sinnvoll sei, diese Stadt auf derselben Stelle wiederaufzubauen. Man neigte dazu, Warschau anderswo neu erstehen zu lassen, dann aber entschied die Treue zur Tradition doch für das teurere und umständlichere Projekt: die Berge von • Schutt wegzuräumen und am alten Ort zu bauen. Nur 15 Prozent der Häuser waren erhalten geblieben. Die zweimalige Belagerung der Stadt durch die Armee Hitlers — 1940 und nach dem Aufstand 1944 — hatten schwere Schäden verursacht, und als deutsche Spreng- kommandos die Straßenzüge systematisch niederlegten, kam es zu einer der schwersten Vernichtungstaten des letzten Weltkriegs. Es wird kaum jemanden überraschen, daß diese grausame Vergangenheit bis heute als schwerer Schatten über dem Verhältnis dieses Landes zu den Deutschen liegt. Daß allerdings die russische Armee während des Warschauer Aufstands am anderen Ufer der Weichsel lag und die 63tägige blutige Niederwerfung untätig mitansah, ist eine Tatsache, die kein Pole der UdSSR jemals verzeihen wird.

Um ein möglichst effektvolles Zeichen der russischen Befreiung zu schaffen, hatte Stalin den Einfall, der Stadt Warschau einen 230 Meter hohen Kulturpalast zu schenken. Dieses 30 Stockwerke zählende Monstergebäude nach dem Muster der Moskauer Lomonossow-Universität ist ein Alptraum von beklemmender Häßlichkeit, Schon aus weiter Ferne vom Flugzeug, von den Zufahrtsstraßen, aber auch von den meisten Plätzen Warschaus selbst sieht man dieses Relikt stalinisti- schen Größenwahns, das in den Polen alles andere als Gegenliebe erweckt. Um so weniger, als die Russen für den sonstigen Wiederaufbau der Stadt keinen Finger rührten. Aber die Warschauer selbst hatten sich einen klugen Plan ausgedacht: gleichsam als Kompensation des unfreundlichen russischen Mahnmals wollten sie die in Schutt und Asche gelegte Altstadt genau so aufbauen, wie sie einst war. Und jetzt begann ein bewundernswertes Unternehmen, denn man sammelte alte Stiche, Gemälde und Photos, wo man sie bekommen konnte, und rekonstruierte die Häuser und Straßen bis in kleinste Einzelheiten. Man ging dabei teilweise aüf den Stand von hundert und mehr Jahren zurück, die Gebäude am Schloßplatz wurden nach einem Bild von Canaletto errichtet.

GEHT MAN HEUTE DURCH die Gassen der Altstadt, so wird auch ein geschulter Beobachter kaum Merkmale finden, an denen er die Rekonstruktion erkennt. Denn das Klima legte schon eine leichte Patina über den Stein, und nichts stört den Betrachtenden. Sowohl der alte Marktplatz als auch die berühmte Ulica Freta, wo E. T. A. Hoffmann als Kammergerichtsrat wohnte und Madame Curie geboren wurde, die wuchtige Barbakane aus dem 15. Jahrhundert und die romantische, zum Weichselufer hinführende Ulica Mostowa, sie alle haben die unverwechselbare Stimmung einer Stadt, deren Bauphasen vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert reichten. Die Rekonstruktion erstreckte sich nicht nur auf barocke Kirchen mit allem Fassadenprunk und plastischem Schmuck, auf Palais und Bürgerhäuser, sondern auch auf Weinkeller, alte Kaffeehäuser und Konditoreien. Niemand, der im Gewölbe des „Krokodil“ oder oben im Café, der in der „Bonbonierka“ oder im pittoresken Hof des Café Gwiaz- deczka sitzt, wird je auf den Gedanken kommen, es handle sich nur um Kopien.

Die absolute Suggestion der originalen Atmosphäre gelang vor allem durch die getreue Nachformung winziger Einzelheiten, die gleichsam unterbewußt wirksam werden und in der Summe den bezwingenden Eindruck ausmachen. Schmiedeeiserne Scharnieren, winkelige Aufgänge, barocke Putten, Vasen, Balkone wirken alt, ja man hat oft den Eindruck, daß diese von Grund auf neu errichteten mittelalterlichen Häuser echter aussehen als so manche der seit 500 Jahren sorgfältig instand gehaltenen Originale in westlichen Städten. Die geradezu geniale Fälschung durchschaut man nur dort, wo sie eben erst fertig wurde. Auf der Flußseite etwa erstanden die Straßenzüge erst vor drei Monaten, und dort merkt man, daß die Mauern frisch sind. An einigen Stellen der Nebenstraßen konnten die Architekten allerdings der Versuchung nicht widerstehen, den Beschauer gelegentlich zu verfremden: man findet in der neuen alten Mauer plötzlich einen Teil der originalen sorgfältig abgegrenzt wie ein Bild. Dann aber vergißt man diese Effekte wieder und geht durch die Torbögen, die schmalen von Stiegen unterbrochenen Gassen, setzt sich in die „Bonbonierka“ und wundert sich darüber, daß dort auf der anderen Seite der Stanislaw Jerzy Lee wohnt, der so viel Grund zu seinen „unfrisierten Gedanken“ hat. Und warum wohl ausgerechnet die Kommunisten diese wunderbaren Reminiszenzen an eine feudalistische, klerikale, bürgerliche Zeit Wiedererstehen ließen? Man hat Anlaß genug, bei einem Kaffee lange nachzudenken.

ES GIBT AUCH IM WESTEN einige Versuche, zumindest Teile von zerstörten Städten in altem Stil wiederaufzubauen. Ein bekanntes Beispiel ist Münster. Allerdings muß man gerechterweise sagen, daß bei einem Vergleich die Warschauer Altstadt besser abschneidet, und zwar aus drei Gründen: wenn auch die räumliche Gestaltung der Häuser innen zweckmäßig gehalten ist, so restaurierte man doch fast ohne jede Rücksicht auf das moderne Leben. Man dachte weder an eine notwendige Verbreiterung der Straßen noch an große Schauläden, man baute enge Treppen und kleine Fenster wie einst, man ignorierte also weitgehend jede praktische und kommerzielle Forderung. Außerdem aber hatte man auch bei der Restauration selbst andere Möglich-! keiten — vor allem sehr viel mehr Zeit. Niemand mußte an Rentabilität denken, man nahm sich die Muße, an Einzelheiten herumzubasteln, handwerkliche Kunststücke zu vollbringen, die im dynamischen Wirtschaftsleben des Westens heute einfach nicht mehr herzustellen sind. Und drittens gab es noch ein besonderes Motiv, das viel tiefere Gefühlsmomente wirksam werden ließ, als dies bei uns je der Fall sein könnte: die Demonstration einer individualistisch gearteten Vergangenheit gegenüber der kollektiven Gegenwart.

Der alte Marktplatz und die Johannes-Kathedrale wurden zum Symbol einer Welt vor jener Zeit, die den Warschauern den Kultur- palast geschenkt hatte. Und dadurch handelte es sich bei diesem Wiederaufbau nicht bloß um eine restau- rative Leistung, sondern um ein Unternehmen von unmittelbarer, beinahe polemischer Aktualität. Was im Westen lediglich eine Frage der technischen Ausführung war, erhielt in Warschau eine emotionale, lebendige Funktion. Hier liegt das Geheimnis der unvorstellbaren Beseeltheit dieser wiederaufgebauten Warschauer Altstadt, die nicht kopiert, sondern aus dem Geist einer erlebten heutigen Notwendigkeit neu geschaffen wurde.

Bezeichnenderweise haben gerade die avantgardistischen Maler und Schriftsteller in der Altstadt ihre

Ateliers und Wohnungen, die Maler richteten sich sogar in einem der ältesten Gebäude eine Galerie ein, und zwar an den Mauern der ehrwürdigen Barbakane. Dort hängen im Freien — freilich nur wenn es nicht regnet — die tac’nistischen, monochromen, phantastischen Ge mälde der jungen Künstler. Gedruckte Biographien, Hinweise auf ausländische (vor allem westliche) Erfolge, Zeitungsausschnitte mit Kritiken sind auf einen Karton aufgeklebt, also auch in dieser Hinsicht ist die neuerbaute Altstadt voller Leben. Allerdings bleibt der Verkehr spärlich, sozusagen nur für Besichtigungszwecke der verhältnismäßig wenigen Fremden. Die Ruhe in diesem Bezirk ist freilich beab sichtigt, denn gleich am Anfang, am Schloßplatz noch, findet man ein großes Schild, auf dem polnisch zu lesen steht: „Die Altstadt bittet um Stille.“

DIE BREITE KRAKOWSKIE PRZEDMIE5CIE führt über die Nowy Swiat zur modernen Stadt rund um den Kulturpalast. Vorerst findet man noch herrliche (natürlich auch neuerbaute) barocke und klassizistische Palais, fast fühlt man sich ein wenig in Petersburg. Beim Hotel Bristol, das an den Wiener Ringstraßenstil erinnert, wird der

Verkehr etwas dichter, man begegnet langen Skoda-Gelenkomnibussen und normalen Autos westlicher, tschechischer und russischer Herkunft. Im Hintergrund ragt der Riesenbau der Oper auf, der 2500 Zuschauer aufnehmen wird und im kommenden Jahr die Tore öffnen soll. Betritt man dann die zweite Warschauer „Nobelstraße“, die Nowy Swiat, so sieht man zwar keine eleganten Auslagen, aber viele Blumenverkäufer, die ihre Körbe an den Hausmauern und in den Toren aufgestellt haben. Was sonst auffällt, sind die vielen Kirchen und Kaffeehäuser. Fast alle 200 Meter hat man Gelegenheit, durch ein Kirchenportal oder eine Kaffeehaustür einzutreten. Sehr zum Unterschied von anderen volksdemokratischen Städten gibt es übrigens in den Warschauer Straßen auch Bettler, was nicht bedeutet, daß es hier schlechter geht als anderswo, sonder daß die Polizei nachsichtiger ist. In einer Seitengasse traf ich auf eine Gruppe Musikanten. Es waren Arbeitslose, die herumzogen, spielten und den Teller hirihielten. Man sieht Leute, die Luftballons verkaufen, und zwar in roter Farbe, wodurch sie wahrscheinlich die Herstellungslizenz erhalten. Alles in allem ist das Warschauer Straßenbild viel lebendiger, menschlicher, vertrauter als in den meisten anderen Städten der östliohen Hemisphäre.

An der Marszalkowska entstehen gewaltige Hochhäuser, riesige Komplexe, die nicht nur den Verwaltungsapparaten mehr Platz, sondern auch der Bevölkerung mehr Wohn- raum geben sollen. Schon in wenigen Jahren wird dort ein imponierendes Stadtzentrum zu finden sein. Natürlich baut man am Stadtrand ebenfalls, dort sind ganze Bezirke im Werden, denn die 1,130.000 Einwohner Warschaus leiden immer noch unter drückender Wohnungsnot. So sind an den schönen Sonntagen die Gärten voll von Menschen, und an Gartenflächen ist diese Stadt reich. Man spaziert im tadellos gepflegten Park des Lazienki-Schlos- ses, dessen Rokokofassade sich im Teich spiegelt oder auf den Wegen beim Belvedere, in einem der zahllosen anderen Gärten — oder sitzt im Kaffeehaus, im „Wedel“, wo man vortreffliche Schokolade trinkt (allerdings nichts anderes erhält und sich einem Rauchverbot unterwerfen muß!). Oder im „Nowy Swiat“ oder „Teümena“, wo man zwar rauchen darf, aber wieder keine Schokolade bekommt.

DAS CAFE EUROPE.TSKI, ZUGEHÖRIG zu dem Hotel gleichen Namens, gilt jetzt als das vornehmste, die Warschauer,’ die dort sitzen, haben bereits westliche Visionen. Man sitzt an kleinen Tischen ih einem modern gestalteten Raum mit großen Türscheiben bis zum Boden. Und wenn der Tee einmal serviert ist (er hat bessere Qualität als der Kaffee), dann kommen sogar dem westlichen Gast heimatliche Gedanken, bis der im Hintergrund gedämpft improvisierende Klavierspieler Melodien der zwanziger Jahre beginnt: „Schöner Gigolo, armer Gigolo ., wo hört man das noch im Westen? Die Operetten von Millöcker bis Benatzky werden wieder lebendig, und wenn man die Augen schließt, meint man, irgendwo im Bad Ischl der Jahre vor 1938 zu sitzen. Wieder nimmt der Pianist die sentimentale Melodie des armen Gigolo auf: „Wenn das Herz dir auch bricht, zeig’ ein lachendes Gesicht “ Sogar diese blaß gewordene Erinnerung an die Welt von gestern hat mit einem Mal tiefere Bedeutung, hat erschütternde Tragik. Aber das ist Warschau: eine Stadt, in deren hochgeladenem Spannungsfeld zwischen These und Antithese alles was geschieht, auch das Belanglose, die Kraft eine Symbols erhält.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung