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Wie groß ist Rzeszow?

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Das „Schtetl“, die jüdische Kleinstadt in Osteuropa, war nicht nur Schauplatz ungezählter Witze. Sie war eine jüdische Lebensform. Millionen Juden lebten in diesen Kleinstädten wie Tewje, der Milchmann, als kleine Handwerker, Händler, als Fuhrleute - das Frächtergewerbe war seit vielen Jahrhunderten ein jüdischer Beruf. Mit den Millionen Tewjes ging eine Kultur unter, von deren Reichtum man sich heute kaum mehr eine Vorstellung macht, von der viele Menschen nie etwas gewußt haben. Der Autor dieses Berichtes erzählt, was vom jüdischen Rzeszow geblieben ist: so gut wie nichts....

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Das „Schtetl“, die jüdische Kleinstadt in Osteuropa, war nicht nur Schauplatz ungezählter Witze. Sie war eine jüdische Lebensform. Millionen Juden lebten in diesen Kleinstädten wie Tewje, der Milchmann, als kleine Handwerker, Händler, als Fuhrleute - das Frächtergewerbe war seit vielen Jahrhunderten ein jüdischer Beruf. Mit den Millionen Tewjes ging eine Kultur unter, von deren Reichtum man sich heute kaum mehr eine Vorstellung macht, von der viele Menschen nie etwas gewußt haben. Der Autor dieses Berichtes erzählt, was vom jüdischen Rzeszow geblieben ist: so gut wie nichts....

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Auf der Fahrt von Krakau nach Rzeszow treffen sich zwei Juden im Eisenbahnabteil... So die abstrakte Eingangsfloskel einer Serie jüdischer Witze, die dem nach Wien Heimgekehrten entgegenbranden, wenn er erzählt, daß er jüngst noch in der erwähnten galizischen Stadt zu Gast war. Es sind gewissermaßen Witze ganz l'art pour l'art, ohne auch nur den schlichtesten empirischen Rückhalt, denn kaum einer der Witzeerzähler kennt mehr die Stadt, von der sie erzählen, vielmehr gehören die Witze zu einer rein geistigen Landschaft, zu jener, in der die Wiener Erben der Tante Jolesch gerade noch Heimatrecht haben.

Rzeszow teilt damit das Schicksal einiger anderer nur noch den Anekdoten geläufiger Orte wie Chem, das jüdische Schiida, Brody, Tarnopol, Czernowitz oder das noch um Grade realere Lemberg. Im Unterschied zu den letzteren Städten ist aber Rzeszow als deren westlichste geradezu ein Wunder an Zugänglichkeit. Es ist eine der wenigen polnischen Städte und mangels einer größeren südöstlichen Provinzhauptstadt die kleinste unter diesen, mit der von Warschau aus eine Binnenflugverbindung besteht. Sie hat sich also in der Zwischenzeit sichtlich entwickelt und nur ein Manko dafür eingetauscht: Rzeszöwer Witze gehören nicht mehr zu ihrer geistigen Landschaft.

Wie sehr das umgebende Land noch das alte Galizien ist, wird dem Ostreisenden schon auf der Höhe Krakaus bewußt: prächtige Strohdächer in den Dörfern zeugen von der Ungebrochenheit der ländlichen Lebensweise Galiziens, Pferdegespanne auf Uberlandstraßen machen sie dem Autofahrer aufdringlich bewußt. Aber die Städte, ursprünglich nur um Adelsschlösser gruppierte Ansiedlungen, haben ihre Funktionen geändert.

Der Triestiner Professor Claudio Magris, dessen Buch „Weit von wo“ gerade der schon mythisch gewordenen Herzlandschaft des Ostjudentums und seiner Literatur galt, hat bei seiner Pilgerfahrt nach Bilgoraj, dem Geburtsort Isaak Baashevi Singers, ein Stück nördlich von Rzeszow, das „Schtetl“, das Städtchen, seiner literarischen Gewährsleute, nicht mehr vorgefunden.

Dementsprechend ist auch Rzeszow heute Industriestadt, ihre Silhouette bilden die Wohnblocks, die man, wie auch sonst in ganz Polen, noch vor den aufschließenden Straßenzügen aus dem galizischen Lehm gestampft hat. Im Witz - einem nicht ganz zimmerreinen freilich, aber dem kürzesten unter den charakteristischen - wird ein heiratslustiger Rzeszöwer von seinem Freunde getreulich vor dem Mädchen gewarnt, das der Schadehen, der Heiratsvermittler, ihm anträgt: Mit der halben Stadt habe es die schon getrieben. Doch der Ehewillige hält ihr die Stange: „Aber ich bitt' dich, auch ka Malheur! Wie groß ist schon Rzeszow?“

Obwohl also Rzeszow bei weitem größer ist als damals - es hatte um 1880 etwa 11.000 Einwohner, die Hälfte waren Juden - ist der Witz unter den heute um die 80.000 zählenden Rzeszöwern nicht mehr geläufig. Die deutsche Besatzung hat diesbezüglich ganze Arbeit geleistet: Nicht nur dürfte ein Großteil der Rzesöwer Juden den Weg in die Vernichtungslager angetreten haben, es gibt auch in ganz Polen kein Publikum mehr für ihre Folklore.

Eine jiddische Zeitung, ein jiddisches Theater in Warschau, das gibt kaum den wenigen Verbliebenen . Halt, geschweige, daß es etwa den heutigen Rzeszöwern eine Vorstellung gäbe, auf welchem Boden sie leben. Kulturpioniere haben 1945 nach freiwilliger Meldung Presse und Rundfunk der Provinz wie von Null aufgebaut. Das war nicht ungefährlich, weil im Gebirge im Süden ja noch ukrainische Partisanen steckten, die erst mühsam niedergekämpft werden mußten.

Die beiden alten, durch schräge Stützpfeiler an die ältesten Stadtbezirke Krakaus gemahnenden Synagogen wurden als solche dabei nicht wieder belebt. Abends, verstohlen, hatte ich Gelegenheit, eine zu besuchen, obgeich sie auch tagsüber voll Leben ist: sie ist Zentrale des Künstlerverbandes, der sie um einen Ateliertrakt aufgestockt hat. Geführt von der Tochter eines der Kulturpioniere noch ein rascher Bück in den Synagogenraum, jetzt Klubraum, nur durch mehr Atmosphäre von anderen seiner Art unterschieden. Niemand hat je das Bedürfnis ausgesprochen, den Synagogenraum seiner ursprünglichen Bestimmung erhalten zu wissen, die Vergangenheit ist diesbezüglich endgültig vergangein. Nur manchmal sollen, wie Dr. Supinski vom Germanistischen Institut der Pädagogischen Hochschule in Rzeszow erzählt, sich langbärtige und schläfenlockige Gestal-

„Niemand hat je das Bedürfnis ausgesprochen, den Synagogenraum seiner ursprünglichen Bestimmung erhalten zu wissen, die Vergangenheit ist diesbezüglich endgültig vergangen“ ten in irgendeinem Laden der Stadt ein Stelldichein geben. Und auch er selber hat seine Habilitationsschrift dem Humor in der deutschen Literatur gewidmet, und nicht dem jüdischen Witz seiner Wahlheimat.

Denn die pädagogische Hochschule ist erst jung, und infolge des fast völligen Fehlens einer Bibliothek bedarf es für junge polnische Germanisten beinahe pionierhaften Eifers, sich dorthin zu verpflichten. Uberhaupt ist Rzeszow als Industriestadt noch Brennpunkt sozialistischen Pioniergeists: Sonst an keiner Hochschule bisher habe ich Parolen am Stiegenaufgang gefunden, in historischen Gebäuden wie in Krakau und Breslau wären sie auch fehl am Platz.

Zusammen mit dem raschen Bevölkerungswachstum scheint auch dieser Pioniergeist ein bißchen dazu beizutragen, daß der Stadt ihre Kirchen längst schon zu klein geworden sind. Die beiden historischen Kirchen der Stadt waren ja berechnet auf weitaus kleinere Gläubigenzahlen, als sich jetzt drängen, wenn man von den Dauereinrichtungen für Feldmessenbetrieb auf ihren Gebrauch schließt.

Auch zuweilen ausfallende Autobuslinien als einziges öffentliches Verkehrsmittel der Stadt geben ihr ein etwas östliches Gepräge. Polen aus den Zentren mögen sich hier schon halb wie in Rußland fühlen. Die Versorgungslage scheint dagegen nicht schlecht zu sein, ist doch rundum Agrarland, das im Frühling die im polnischen Obstkonsum nicht wegzudenkenden Ananaserdbeeren liefert.

In den Bilanzen der Planwirtschaft schlagen die Erdölfelder im Süden der Stadt freilich viel schwerer zu Buche, in das Stadtleben greift dagegen die Flugmotorenfabrik am Ufer des Wislok ein, dieselbe, von der schon mein Vater erzählt hat, noch aus der Zeit, als die Nazis den Namen der Stadt zu „Reichshof eingedeutscht hatten. Wenn dort ein Düsenmotor einen Probelauf hat, muß die Hochschule am anderen Ufer den Unterricht kurzfristig einstellen.

In Rzeszow zu Gast zu sein, bedeutet ein Schwelgen in Gastfreundschaft, in deren Genuß freiheh meist nur Germanisten aus DDR-Hochschulen kommen, mit denen, so wie etwa mit Güstrow, ein Austauschabkommen besteht. Obgleich Rzeszöws österreichische Schwesterstadt Klagenfurt ist, und durch seine Pädagogische Universität zu einem Austausch wie geschaffen, wollen die Kontakte dorthin nur langsam in Gang kommen.

Dissertationsarbeiten über Ingeborg Bachmann oder über Herzma-novsky-Orlando, dessen Vater im benachbarten Tarnöw geboren wurde, könnten erste Anknüpfungspunkte im Studienprogramm der galizischen Germanistik bieten, die sonst auf die sehr viel leichter beschaffbaren ostdeutschen Autoren angewiesen ist.

österreichischen Partnern bieten die Rzeszöwer weniger ihre Stadt selber als ihre Umgebung, das Gebirge mit beinah unberührten Wanderwegen im Süden, alte Städte wie Zamosc oder das seiner Orgel wegen berühmte Lezajsk im Norden, in der näheren Umgebung das wunderschöne Lubomirski-Schloß Lancut mit einem Wagenmuseum, Schau-

„Sollten einst die Touristen kommen, wird vielleicht ein handliches Büchlein jüdischer Rzeszöwer Witze tunlich sein“ räumen und einer trotz Verlusten reichhaltigen Bibliothek, die schon der Autor der „Handschrift von Saragossa“, Jan Potocki, benutzt hat und die auch eine Menge Viennensia birgt, denn seit der ersten polnischen Teilung 1773 war ja Wien ein bestimmendes Zentrum für die galizische Adelskultur.

Auch Rzeszow selbst hat ein Schloß, ebenfalls einst den Lubo-mirskis botmäßig, nun freilich weniger als Lancut auf den Touristenzustrom ausgelegt - es ist jetzt das Gefängnis. Die wie in Lancut intakte Anlage, ein barocker Festungsstern mit intaktem Graben und Wall, kommt da noch einmal zu Ehren.

Außerhalb hegt, unscharf begrenzt und vor Zeiten im Kriegsfall wohl unverteidigt, die Altstadt aus niedrigen, einstöckigen Häusern, eingesprengt Kirchen, ein historisierendes franzisko-josefinisches Rathaus quer über den Marktplatz. Rundum zum Teü arg verfallene jüdische Bürgerhäuser mit manchmal noch ans Empire gemahnenden Fassaden, die man jetzt durchgreifend zu renovieren beginnt.

Der moderne Stadtverkehr weicht ihnen aus und bahnt sich an den Grenzen der außerhalb einsetzenden modernen Wohnstadt bequemere Wege. Erst wenn die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sein werden, wird sich abschätzen lassen, wieviel vom alten Geist dieser Fassaden sich in die neue Stadt hat hinüberretten lassen. Sollten einst die Touristen kommen, wird vielleicht ein handliches Büchlein jüdischer Rzeszöwer Witze tunlich sein, um ihn zu beschwören.

Etwa nach der Methode von Reb' Rojtschwanz, der im Eisenbahnabteil von Krakau nach Rzeszow nach langen Überlegungen einen ihm unbekannten jüdischen Fahrgast mit dem Namen und Titel ganz richtig anspricht und auf die Frage, woher er ihn kenne, triumphierend zur Antwort gibt: „Wos haißt do schon kennen, ausgerechnet hob ich Sie mir.“

Wien, die Hauptstadt jener nur mehr imaginären Landschaft, könnte der noch realen dabei allenfalls Geburtshilfe leisten.

Der Autor ist Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Wroclaw (Breslau).

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