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Der rote Balkangürtel

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FERNERSTEHENDE STELLEN sich noch immer die Zonen des sozialistischen osteuropäischen Blocks als ein gesamtes monolithisches Gebilde vor. Auch Touristen unterliegen leicht diesem Eindruck, sobald sie ihre voreiligen Schlüsse aus einzelnen Details ziehen. Gewiß steht eines fest, was abzuleugnen sinnlos wäre: Zwischen Ost- und Westländern besteht heute noch, wenn auch nach Stufen abzuordnen, ein bemerkenswerter Unterschied des Lebensstandards.

Der Westen, Europa und die USA, hat es leicht, überzeugende Elemente des täglichen Augenscheins in die Waagschale zu werfen und als Argumente der „Freiheit“ auszudeuten: tadellose Hotels, Nylonwäsche zu niedrigsten Preisen, Waschmaschinen und Kühlschränke, auch für den kleinen Mann erschwinglich, um bei banalen, jedoch bedeutsamen Details zu beginnen ...

Demgegenüber stellt der Osten andere Argumente, auf die wir noch eingehen müssen. Um jedoch die handgreifliche Überlegenheit des Westens zu entkräften beziehungsweise auszugleichen, bleiben zwei Wege offen: entweder zum Ausgleich des Niveauunterschiedes aus eigenen Kräften so viel zu produzieren und eine solche Qualität zu erreichen, daß dem Gegner der Wind aus den Segeln genommen wird, oder aber die Idee absoluter Autarkie aufzugeben, die Tore zu öffnen und praktische Koexistenz zu üben. Dem Reisenden kann es heute nicht mehr entgehen, daß Jugoslawien von allen Ostländern am radikalsten den zweiten Weg eingeschlagen hat.

Wir „dringen“ im orangefarbigen Tourenwagen von Budapest gegen Süden „vor“. An der jugoslawischen Grenze fällt die nonchalante Ge- habung mit unseren Pässen auf. Es ist übrigens bezeichnend, daß Jugoslawien von allen Oststaaten der einzige ist, dessen Konsulate einfach das Visum in den Paß stempeln, ohne ein Extrablatt mit Photographie für Eintritt und Ausgang auszustellen. Der Führer des offiziellen Reisebüros Putnik („Reisender“) bewillkommnet uns in schallendem Amerikanisch. Er war, so werden wir später hören, vor nicht langem in den „Staaten“; er bittet uns, ihn bei seinem — amerikanisierten — Vornamen „Mike“ zu nennen und versäumt keine Gelegenheit, unsere Reisenden auf die Verbindung seines Landes mit den USA hinzuweisen: „Diese Lokomotive ist eine Diesel- maschine, made in US, sehen Sie diese amerikanische Reklame: sagt Ihnen das nichts? Nein, wir haben in unserem Land keine russischen Flugzeuge und auch keine russischen Truppen stationiert...: Sehen Sie es selbst; unsere Planwirtschaft. In Ungarn haben Sie nicht diese gepflegten großen Felder... Nein, wir sind kein kommunistisches Land; wir haben den Sozialismus... Wir können ins Ausland fahren; wir dürfen tun, was wir wollen.“

WIR HALTEN MIKE DIE LETZTEN politischen Prozesse vor, die Säuberungsaktionen, eine Rede Titos gegen die abstrakte Kunst, aber unser Führer zieht sich immer mit großer Übung aus der Schlinge; wir sind bereits im Herzen Belgrads, auf breiten, gepflegten Boulevards:

„Sehen Sie diesen Park; Ihr Hotel ist gleich daneben; morgen können Sie hier Spazierengehen; Sie werden Modelle modernster Plastiken finden, die zunächst zur Probe ausgestellt werden; unsere Künstler sind frei... Und was Djilas und seine Freunde angeht... es sind Verräter, die Staatsgeheimnisse dem Ausland preisgiegeben haben.“

Sonntag: dasselbe Bild wie irgendwo anders in Europa in den großen Städten:- Ketten von Ausflüglem im Auto, sonnenüberflutete Parks; seit der Grenze bemerkten wir den Unterschied in der Landschaft gegenüber Ungarn; gestern sahen wir die Sonne wie einen großen Feuerball im Absinken hinter einem Wald, in einer von Feuchtigkeit gesättigten Luft... ein italienisches oder französisches Bild des 16. Jahrhunderts. Die orthodoxe Sarikt-Markus-Kathe- drale hallt von altserbischen Chören wider. Ein Gottesdienst, dessen Hauptteil sich unter Ausschluß des Publikums der Gläubigen im Chor abspielt, getrennt durch eine von Ikonen geschmückte Wand: Abbild einer ins Spirituelle projizierten feudalen Ordnung einer uns unverständlich gewordenen Epoche, die im Westen niemals einen solch scharfen Ausdruck angenommen hat: Gott für die Priesterschaft unterschieden vom Gott für das Volk. Im übrigen bemerken wir vor allem die Abwesenheit des „Volkes“. Wir wohnen einem Hochamt bei, jedoch die hohen Wölbungen der Kathedrale hallen über einem fast leeren Kirchenschiff wieder.

Ist die religiöse Übung bedeutungslos geworden? Wir sprechen mit einem Lehrer in zufälliger Begegnung: Er lädt uns zu einer Gesangsprobe ein; ein auch im Ausland berühmt gewordener Chor, spezialisiert auf serbische alte Liturgie, bereitet ein Konzert vor und empfängt uns, die Ausländer, mit spontaner Gastlichkeit. Wir erfahren in einer Stunde mehr als durch eine Reihe von Büchern:

Mit sechs Republiken, fünf Völkern und drei Sprachen ist unser Jugoslawien ein polyvalentes Gebilde; dies gilt auch für seine Religionszugehörigkeit.

Welches ist die prozentuelle Aufteilung der Konfessionen?

Dies ist schwer zu sagen; Staat und Kirche sind getrennt; offizielle Statistiken existieren nicht; die stärkste Gruppe sind wohl die Orthodoxen, Serbier, Montenegriner und Mazedonier, dann folgen die Katholiken, Kroaten und Slowenen vor allem, weiter Mohammedaner in Bosniėn, Herzegowina und in Mazedonien... Endlich etwa 20 weitere religiöse Splittergruppen.

Jedermann kennt die dramatischen Konflikte zwischen Kirche und Staat seit 1945. Soweit wir im Ausland hören, hat sich heute, besonders seit dem Abkommen vom 25. Juni 1966, die Lage gebessert, und man kann sogar von einem Beginn ökumenischer Bestrebungen sprechen.

Unser Gesprächspartner lächelt höflich, ehe er uns antwortet: Gewiß, ich will aber offen sprechen; die Vergangenheit läßt sich nicht ohne weiteres begraben: Während des Krieges ermordeten die Banden der

Oustaschis drei orthodoxe Bischöfe, viele Priester, sie zerstörten Kirchen und zwangen Tausende von Orthodoxen, den katholischen Glauben anzunehmen; bei Übernahme des neuen Regimes zögerte die katholische Kirche bis 1966, ein Klima der

Verhandlungen zu schaffen ... Sie sehen also die Schwierigkeiten... Natürlich ist die Lage heute anders.

WIR NEHMEN DIESES „PROFESSION DE FOI“ zur Kenntnis, glauben jedoch, daß theoretische Unterscheidungen dort keinen Sinn haben, wo die Kirchen sich leeren und das Bedürfnis nach dem Sakralen im Schwinden begriffen ist... Es ist sicher für den Mittel- und Westeuropäer nicht leicht, sich in die jugoslawische Geschichte und Mentalität hineinzudenken: ein Land, in welchem seit Jahrtausenden jede nationale und politische Verschiebung von unglaublicher Härte und

Grausamkeit begleitet war. Nach ein paar Tagen sehen wir im Süden des Landes Zeugen davon: Zwischen Dubrovnik, dem ehemaligen Ragusa, einem Stück „Klein-Venedig“, und Titograd, vorbei an dem bezaubernden neu errichteten Touristenparadies, der kleinen Insel „Sveti-Ste- fan“, stoßen wir auf Häuser, auf Dörfer, die in Ruinen liegen. Opfer der Kriegsereignisse, der Partisanenkämpfe, der Besetzung, sollen diese Mahnmale unglaublicher Geschehnisse, die jenseits des menschlichen

Fassungsvermögens liegen, für immer unberührt bleiben. „Was der Mensch zerstörte, soll der Mensch nicht aufbauen.“

Es ist Hochsommer; ehe wir die Berge Montenegros hochklimmen, streicht unser Bus an der Meeresküste entlang, an Städten vorüber, die schwer von Geschichte sind. Um uns fluten Ströme von Touristen und überschwemmen den Strand; Tausende aus dem Land selbst, viele aus anderen sozialistischen Staaten, große Herden von „bezahlten Urlaubern“, die „sozialen Tourismus“ machen, nicht recht wissend, wie sie sich zu benehmen haben, und Männer, die es für selbstverständlich halten, alte stilvolle Paläste und Kirchen mit nacktem Oberkörper zu besuchen...

Was immer wieder überrascht, ist in diesem Land die resolute Hinwendung zum Westen auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Kinder, die noch vor ein paar Jahren den Fremden um einen Bleistift baten, besitzen Kugelschreiber; Rechenmaschinen, Hunderte von Übersetzungen ausländischer Literaturwerke der Gegenwart, tausend Dinge vom „billigen Luxus“ des Kleinverdieners überfluten jetzt die Geschäfte. Das Flugzeug ist kein Luxus; zwischen Titograd und Belgrad sitzen wir mit Bauern und Arbeitern in der Kabine der zweimotorigen Maschine und landen endlich auf einem bezaubernd schönen Flughafen, dem Werk eines weiblichen Architekten. Luxus und unbeholfene Nachahmung davon, Komfort und Primitivität wechseln um uns, jedoch scheint alles in ständigem Fortschritt begriffen, besonders, wenn wir es mit anderen Jahren vergleichen. Lange Strecken im Bus stehen uns noch bevor, abgelegene Straßendörfer mit bemalten Holzhäusern, wo ein Brautpaar, von den Nachbarn umringt, auf der Straße tanzt. Meine amerikanischen Reisegefährten wollen den Kodak zücken, werden jedoch barsch abgewiesen. Wir erfahren später den Grund: In ausländischen Zeitungen, behaupten die Leute, wurden Bilder aus Jugoslawien veröffentlicht, welche die Volkskunst lächerlich machten ... Man fürchtet, wir seien Journalisten ... Weitere endlose Felder, der bulgarischen Grenze zu; ein Dorf, berühmt durch seine Teppichkunst, wo doppelseitige Teppiche hergestellt werden; im allgemeinen aber, hier in Jugoslawien wie in den umliegenden Ländern, treffen wir von Jahr zu Jahr auf einen ständig steigenden Verfall dessen, was alte Volkskunst war: steigende Preise, für die Touristen zurechtgemacht, und minderwertige Arbeit, serienmäßig zu tausenden Exemplaren hergestellt, ob es sich um Stickerei, um die schnabelförmigen Opanken oder um kupfernes Kaffeegeschirr handelt.

EIN VOLKSTANZABEND IN EINER kleinen Stadt, wo wir uns der Mannigfaltigkeit der Nationen bewußt werden, welche dieses Land bevölkern: ein tragisch anmutendes getanztes Duell um eine Frau, bacchantische Fröhlichkeit der Weingegenden, ernste, wir würden sagen „altgriechische“ Reminiszenzen mazedonischer Schwertertänze.

WIR ROLLEN DER BULGARISCHEN Grenze zu; der Ausgang aus Jugoslawien ist dem Eintritt ähnlich: kurze Paßkontrolle im Bus, einige Höflichkeitsformeln ..., das ist alles. Bald darauf werden wir gewahr, daß wir nicht nur in ein anderes Land eintreten, in welchem die Uhr um eine Stunde vorgeschoben ist, sondern auch in einen anderen Lebenskreis.

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