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Ungarn ohne Feuer

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„Wissen Sie, was man auf den Sockel schreiben müßte, wenn man zum Beispiel dem .Unbestechlichen' ein Denkmal errichten wollte? Das Wort Legeslegmegvesztegethetelen- ebbeknek. Zum Glück findet es hier nicht sehr häufig Verwendung ..

Unser Gesprächspartner, ein in Budapest lebender Franzose, hat seine Versuche, das Ungarische zu lernen, aufgegeben. Ungarisch kann aber auch eine herrliche Sprache sein. „Shakespeare und Racine sind“, hat er sich sagen lassen, „in der magyarischen Übersetzung noch schöner als der Originaltext.“

Das Volk der Ungarn Ist heute nicht mehr größer als das der Belgier, lebt in einem kleinen Land, bildet mit seiner ethnischen Eigenart und seiner schwierigen Sprache eine einzigartige Menschengruppe innerhalb seiner vorwiegend slawischen Umgebung. Wie sollte man da staunen, wenn es sich isoliert vorkommt.

Und mehr noch: sogar ein wenig mißhandelt! Seit das Land in den zwei Weltkriegen sieben Zehntel seines Gebietes verloren hat, lebt jeder dritte Ungar auf fremdem Boden: im rumänischen Siebenbürgen, in der tschechischen Slowakei, in der jugoslawischen Batschka.

Heimweh nach einst

Im Grunde waren sie nur unter den verlästerten Habsburgern und Wiener Bürokraten wirklich glücklich. Zumindest besaß das alte Donaureich eine der magyarischen Seele angemessene Großartigkeit. Budapest ist noch immer von ihr geprägt. Wer könnte den Ungarn aus ihrer unbewußten Sehnsucht nach der Vergangenheit einen Vorwurf machen? Die Gegenwart hat so wenig Verlok- kendes für dieses Land der großen Aristokraten, deren Reichtum einst die Rache der Götter herausforderte: Fürst Esterhäzy raubte mit seinen 300 Schlössern und 230.000 Hektaren Land dem Markgrafen von Pallavi- cini, der tausend Hektar weniger besaß, den Schlaf. Und die Kirche verfügte noch über weit mehr Güter als sie beide zusammen

Hier erhält die kommunistische Terminologie einen Sinn. Die ungarische Landwirtschaft war wirklich „feudal“. Die Landarbeiter waren wirklich die „drei Millionen Bettler“ der Legende.

Doch wie in Spanien besitzt auch in Ungarn selbst der Ärmste noch eine gewisse Vornehmheit. Es gibt in der so reichhaltigen ungarischen Sprache eine gemeinsame Anrede für den kleinen Mann und den großen Herrn. Keine Angst, diesmal ist es ein ganz einfaches Wort: Ur.

Auch für Budapest läßt sich nur ein passendes Adjektiv finden: „vornehm.“ Es ist im Bereich der Volksdemokratien die einzige wirklich große Hauptstadt. Schon die Zahlen

allein — 2,500.000 Menschen wohnen in Budapest, ein Viertel der Gesamtbevölkerung Ungarns — beweisen, daß es nicht für ein Land vom gegenwärtigen Umfang Ungarns geplant worden ist und sein Parlamentsgebäude, das größte Europas, nicht für eine Diktatur des Proletariats.

Mokka und Paprika

Vor allem aber ist Pest noch immer die Stadt, die wienerischer ist als Wien, die Stadt des Cafės im Stile „Lustige Witwe“, der Strauß-Walzer, der Verzierungen und Vergoldungen, der Spiegel mit geschliffenen Rändern, der goldbehangenen Leuchter, der Säulen, Gipsgirlanden und Kapitelle aus der Zeit, da Karl Marx noch ein unbekannter deutscher Emigrant im Lande König Edwards VII. war.

Noch immer spielt sich heute wie damals das eben im Cafė ab. Die Alten nippen an ihren Mokkas und lauschen dem Schluchzen der Geigen. Die Jungen diskutieren bei Barack, dem Aprikosenlikör, oder bei Stierblut, dem schweren Rotwein, unermüdlich über Camus, Miller und Brecht. Mögen auch der Strip-tease importiert worden sein und in gewissen Kellern die politische Satire blühen, Budapest ist nur in diesen paar Dutzend Kaffeehäusern wirklich Budapest, in denen alles von Zigeunermusik gewürzt wird: das Gulasch, das Poulet mit Paprika, die Karpfen, die Suppe mit Fischen aus dem Balatonsee und das auf Kohlen gebratene und auf Holzplatten servierte Rindfleisch.

Kurz: auf den ersten Blick scheint die Volksrepublik Ungarn noch immer dasselbe Leben zu führen wie vor 30, vor 60 Jahren. In den Straßen begegnet man würdigen Männern mit Kniehosen und Frauen mit den Schnürschuhen der kleinen Mädchen von einst.

Wenn man jedoch das Geschäftszentrum verläßt, die Wohnquartiere und die Vororte durchquert und schließlich in den äußersten Gürtel der Stadt gelangt, verliert man diesen Eindruck sehr rasch. 4000 Fabriken bilden hier am Rande der Puszta, dieser großen ungarischen Ebene, eine riesige industrielle Zone. Hier, nicht in den Budapester Kaffeehäusern, lernt man die ungarische Wirklichkeit kennen. Sie ist weniger fröhlich

Das heutige Ungarn ist in zu enge Grenzen eingezwängt. Und die Tatsache, daß es gerade deswegen der Außenwelt so nahe ist, läßt die Atmosphäre des Landes nur noch erstickender werden. Radio und Fernsehen sind streng zensuriert und die ausländischen Zeitungen — von „Prawda“ und ,JIumanite“ selbstverständlich abgesehen — verboten,

Budapest je nach Einstellung Revolution oder Gegenrevolution genannt, aber man kann jederzeit Radio g0 spricht man im allgemeinen vor- Wien einschalten. Die Ungarn erhal- gichtshalber nur von den „Ereignis- ten selten Ausreisevisa, aber sie sen“.

begegnen in Budapest Scharen von obwohl die „Ereignisse“ in Buda- ausländischen Touristen und Ge- pest keine äußerlichen Spuren schäftsleuten. Der Kapitalismus wird zurückließen, obwohl die Killiän- von offizieller Seite mit unvermin- kaserne, das Bollwerk des Wider- derter Heftigkeit gehaßt, aber Standes, in einen Arbeiterblock ver- 60 Prozent des Außenhandels fallen wandelt worden ist und man hier auf Westdeutschland. Und überdies auch nirgends sicher weiß, ob die

gibt es dieses Motorboot auf der Donau, diese tägliche Verbindung zwischen Budapest und Wien

Stärker als jedes andere Element weckt die schmerzliche Nähe von Wien die Wehmut immer wieder von neuem. Mit ein bißchen mehr Glück hätte Ungarn werden können, was Österreich heute ist: neutral und wohlhabend.

Aus den Wahlen des Jahres 1945 war eine deutliche bürgerliche Mehrheit hervorgegangen. 1946 erhielten die Kommunisten nur 17 Prozent der Stimmen. Trotz der völlig zerrütteten wirtschaftlichen Situation, trotz der Inflation — im Jahre 1946 erhielt man für einen Dollar eine Million Pengö, im Jahre 1948 bereits Quinquillionen — blieb Ungarn eine Oase der Kultur und der Freiheit mit einem ausgezeichnet funktionierenden parlamentarischen System. Doch Roosevelt hatte es in Jalta an Stalin ausgeliefert. Noch immer war das Land von einer Million russischer Soldaten besetzt.

Es hätte in der Tat so wenig gebraucht Begreiflich, daß die Ungarn mit neidischen Blicken nach Wien sehen

Man spricht in diesem Land, das so lange um die Befreiung vom „Joch“ des österreichisch-ungarischen Reichs gekämpft hat, heute wieder vom Gedanken einer Donauföderation. Mit jenem großen Emst, mit dem nur die Ungarn von Mythen sprechen können.

Spuren der Vergangenheit

Die Erhebung von 1956 wird in

Löcher in den Fassaden von türkischen, deutschen oder russischen Geschossen stammen, hat sich Ungarn nie von jenen schrecklichen Tagen, jener so hart unterdrückten Rebellion, die mit einem Massaker und mit der Flucht von beinahe 300.000 Ungarn ins Ausland geendet hat, erholt.

Die in ganz Osteuropa zu beobachtende kulturelle Entwicklung, die Anpassung an die neuen Strömungen, die Liberalisierung, werden dadurch verlangsamt.

Vielleicht war, vom kommunistischen Standpunkt aus gesehen, eine beinahe ad absurdum geführte ideologische Verhärtung genauso unvermeidlich wie die Berliner Mauer, wenn die Flamme des leidenschaftlichsten Nationalismus, des ungarischen, erstickt werden sollte. Doch nun sind bereits mehr als zehn Jahre vergangen seit dem Aufstand, und noch immer sind die Ungarn eingeschlossen. Man erhält keine Devisen, um tos Ausland zu reisen. Zu viele Wissenschaftler und Techniker sind von internationalen Kongressen nie mehr zurückgekehrt Bauern unter 55 Jahren gibt es beinahe keine mehr. In bezug auf die Städter sind sich die offiziellen Soziologen einig: „Die Zahl der Scheidungen hat. jedes vernünftige Maß überschritten.“ Diese Situation wird offiziell mit den Lebensbedingungen, dem Wohnungsmangel, den zu niedrigen Löhnen erklärt. Man müßte aber blind sein, um das Überhandnehmen der Prostitution und dar Halbprostitution nicht zu erkennen. Überall sieht man in Budapest Paare mit einem Altersunterschied von 40 Jahren. Für zu viele junge Frauen, die sich nach ein wenig von jenem für uns selbstverständlichen Komfort sehnen, ist die Versuchung zu groß geworden.

Und sogar bei den Bevorzugten des sozialistischen Systems sieht es nicht •vM anders aus. „Zuerst eine Wohnung, dann ein Auto, dann ein Kind“, sagt die junge Frau eines hohen Beamten zu uns.

Der Wunsch nach einem Auto ist dominierend. In höherem Maße noch als bei uns. Wie bringen die Leute es fertig, eins zu bekommen? Man antwortet uns unbestimmt, jedermann habe zwei Berufe. Man arbeitet während vier Wochentagen zehn Stunden an einem Arbeitsplatz, während der zwei oder drei übrigen Tage in einer anderen Werkstatt, einem anderen Büro. Der Arzt läßt sich für die unentgeltliche Konsultation je nach den Verhältnissen des Patienten 20 bis 100 Forint zahlen, damit sie „persönlicher“ wird. Man kann heute in Ungarn einen Opel, einen Tatra, einen Volkswagen besitzen, wenn sie einem von im Ausland wohnenden Familienangehörigen geschenkt werden und wenn man eine hohe Einfuhngebühr zahlt. Kurz: es scheint eine ganz unmögliche Sache zu sein.

„Wie bringen sie es fertig?“ Der hohe Regierungsbeamte, dem wir diese Frage stellen, sagt resigniert: „Das möchten wir selbst gerne wissen “

Der leidenschaftliche Wunsch nach einem höheren Lebensstandard ist im Ungarn von heute zur bestimmenden Triebkraft geworden. Aber die Preise steigen mehr als die Löhne, und mit dem Blick auf die Preise macht ein bissiges Wort die Runde:

„Wir wissen ja, daß wir die Vereinigten Staaten eines Tages einholen werden.“ Als auch die Fahrpreise der öffentlichen Verkehrsmittel stiegen, fügte man an: „Wie die Dinge heute liegen, werden wir es jedoch zu Fuß tun müssen “

Zwar ist Jänos Kadär, der 1956 aus den stalinistischen Gefängnissen zurückkehrte, um nach der Unterdrückung des Aufstandes die Ordnung wiederherzustellen, dieser Jänos Kädär, dem es gelang, das ungarische Volk mit den Worten „Wer nicht gegen mich ist, stellt sich hinter mich“ um sich zu scharen, zweifellos der am wenigsten umstrittene Mann Ungarns.

Aber wie könnte man in Ungarn nach all den überstandenen Säuberungen, deren Initianten immer selbst wieder Säuberungen zum Opfer gefallen sind, nach Räkosi Nagy. Rajk noch zu irgend jemandem Vertrauen haben? Niemand ist mehr imstande, zu verehren, was er verbrannt, oder zu verbrennen, was er verehrt hat.

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