6601288-1953_40_10.jpg
Digital In Arbeit

Hoffnungen in Budapest

Werbung
Werbung
Werbung

Vor etwa zwei Monaten verglich die „New York Times“ den im Anfang Juli von der neuen ungarischen Regierung angekündigten neuen Kurs mit jener „Neuen ökonomischen Politik“ (NEP), die in der Sowjetunion zwischen den Jahren 1921 und 1928, wie es sich später herausstellte, eine bloß vorübergehende Phase bedeutete, nach den Leninschen Absichten: einen Schritt zurück, um dann zwei Schritte vorgehen zu können. Die unabhängige Pariser Zeitung „Le Monde“ teilt diese Meinung der „New York Times“ über die große Aehnlichkeit der beiden „taktischen Maßnahmen“ und der „hinter ihnen steckenden Schwäche“ nicht unbedingt; statt dessen wird es sowohl hier wie in den meisten Pariser und Londoner Blättern hervorgehoben, daß es sich hier diesmal um Entscheidungen vor allem politischen Charakters handle. Ungarische Emigrantenpolitiker sprachen von einem „Versuch, die Völker hinter dem Eisernen Vorhang zeitweilig zu beschwichtigen“. Die Meinungen gehen also, wie man sieht, ziemlich auseinander.

Nun gibt es Argumente, die zur Annahme berechtigen, daß den Planern in Moskau ein politischer Methodenwechsel mit all den außenpolitischen, ja globalen Aspekten einer solchen Entscheidung vorschwebte. Einer solchen Vermutung war schon gleich zu Anfang in diesen Spalten Ausdruck verliehen worden. Heute weiß man mehr — in den Details. Gäbe es ihrer noch mehr, und weniger widerspruchsvolle, dann wäre die Moskauer „Dialektik“ in der Praxis etwas leichter zu entziffern, ja, dann könnte man versuchen, einmal „das Ganze“ zu enträtseln ...

Einen Kommentar lasen wir allerdings, der in sehr bestimmtem Ton gehalten worden war: den des jugoslawischen Präsidenten Marschall Tito. Er erklärte bereits vier Tage nach der programmatischen Rede des ungarischen Ministerpräsidenten, am -8. Juli, daß die Schwenkung, die die sowjetische Politik gegenwärtig und insbesondere in Ungarn durchmache, echt sei. Tito reagierte also prompt — und entsprach damit wohl den in ihn gesetzten Hoffnungen. Seither macht Moskau im Balkanbereich Avancen auf Avancen, in der Triestfrage wird dem jugoslawischen Standpunkt ein halblauter Flankenschutz gewährt. Den „Kettenhund der Imperialisten“ löste nunmehr auch in der ungarischen Presse „der jugoslawische Staatspräsident“ ab.

Ja, der Hauptfeind Titos war Ungarn, das Räkosi-Regime, gewesen. Seither wurde auf Geheiß Ungarns die Beilegung von Grenzzwischenfällen an der Drau, wo zeitweilig die einstige Türkenzeit wiederentstanden, war, geregelt. Vor allem aber: seither wurden die Stalinisten in Budapest weitgehend ausgeschaltet, Exponenten der Nationalen Bauernpartei und bäuerliche Kommunisten in die Regierung mit hereingenommen, seither verkündete man die Förderung der selbständigen Bauernwirtschaft, die „Liberalisierung“ der landwirtschaftlichen Genossenschaften: was ist das alles, wenn nicht ein zwangsläufiger oder auch gewollter — oder mit in die Rechnung gestellter — „N e o-T i t o i s m u s“?

Alle, später auch in den anderen Volksdemokratien und zuletzt auch in der Sowjetunion selbst angekündigten umfassenden agrarpolitischen Maßnahmen, weisen auf einheitliche, langfristige Planung hin. Die jüngste Rede des ersten Sekretärs der KPSU, Chruschtschew, weicht in nichts ab von der des ungarischen Ministerpräsidenten Nagy am 4. Juli, nur in einem: Nagy stellte den Kolchosenbauern frei, zur privaten Landwirtschaft zurückzukehren, wie dies vorher nur noch Tito seinen Bauern erlaubte. Indessen,

die Zeit lehrt uns, daß auch in Ungarn nicht alles gar so heiß gegessen wird ...

Nach neuesten Bestimmungen soll nämlich jener Bauer, der von dem neuen Recht Gebrauch machen will, nicht etwa seine früheren Ackerfelder, sondern andere, sogenannte „Reservefelder“, bekommen. Er soll mit verschiedenen Zahlungsverpflichtungen belastet werden. Seine Tiere und Geräte soll er zurückbekommen, aber er soll für sie die Preise bezahlen, die auf dem freien Markt üblich sind. Ein Regierungssprecher gibt zu, daß es trotz alldem „Genossenschaftsmitglieder gibt, die künftig doch allein wirtschaften wollen“. Ja, sie dürfen es. Aber da die optische Wirkung einmal erreicht ist, bemüht man sich jetzt auch in Ungarn, allmählich zur Generallinie zurückzustoßen, um so mehr, als man mit der mächtigen Reaktion der sonst so stillen, passiven Bauernschaft, die nach dem 4. Juli den eingeschüchterten kommunistischen Dorfpaschas gleich den Garaus machen wollte, nicht die besten Erfahrungen gesammelt hatte.

Noch andere Dinge gibt es, die selbst dem unpolitischen Straßenpassanten zeigen, wenn auch nicht wieviel, aber doch, d a ß es geschlagen hat: Westeuropäische Filme — nicht zu verwechseln mit „Wildwest“! — zogen ein in die Budapester Kinos. Es begann mit „Fahrraddiebe“ und „Oliver Twist“. Heute spielt man „Fanfan, der Husar“ gleichzeitig in fünf, „Oliver Twist“ noch immer in vier Kinos, in dem einen schon seit über neun Wochen! Man kann aber auch zwischen italienischem „Neoverismo“ und — Eiße Meyerhofer wählen. Im Radio spielte man ein Kinderhörspiel von dem Westdeutschen Erich Kästner. Ein neuer Espresso heißt nicht „Friede“ oder „Befreiung“, sondern schlicht „Savoy“ ... In „Magyar Nemzet“, in dieser vormals bürgerlichen Zeitung — man könnte sie, wenn auch zwischen Gänsefüßchen, fast wieder so nennen —, werden statt der „Prawda“ die französischen Stimmen eines Neutralismus zitiert. In der Sonntagsnummer: neue und sehr schöne Gedichte des Dichters Gyula Illyes, die einem Parteisekretär nurmehr Verachtung abgewinnen könnten. Ebenda wurden die Protagonisten des zitier-

ten französischen Films, Gerard Philipe und Gina Lollobrigida — nach einigem zaghaften Zögern freilich — auf einmal in einem dreispaltigen Monsterartikel gewürdigt und gelobt — drei Wochen, nachdem der Film angelaufen war. Sind diese fast rührenden Anläufe bloß Lappalien? Die Budapester, die vor jenen Kinos Schlange stehen — oder nicht einmal mehr Schlange zu stehen brauchen —, die in ihrem Leibjournal alte Namen entdecken, von Redaktionsmitgliedern, die um 1948 verschwunden worden waren, die den französischen, den schwedischen Sportlern applaudieren — die Reihe ließe sich noch fortsetzen —, diese Budapester also sind anderer Meinung. Und — vielleicht nicht nur sie.

In der genannten Zeitung, wo noch nebenbei in der Bücher-Ecke der literarische Essay eines ungarischen Stalin-Preis-Trägers wegen „Linksflunkerei“ („Baloldaliaskodäs“), wegen „einseitiger weltanschaulich-politischer Darstellungsweise“, wegen „der Unmenge von Revai-Zitaten“ gerügt wird, erschien am 13. September ein Artikel aus der Feder des römisch-katholischen Diözesanbischofs von Györ (Raab), Monsignore Papp, unter dem Titel „Facta loquntur“. Der Autor, der, nebenbei gesagt, kein „Friedenspriester“ ist und auch nicht sein könnte, bezeichnet das Regierungsprogramm vom 4. Juli als „den sehr erwünschten und heilsamen Beginn einer ehrlichen seelischen, religiösen und materiellen Befriedung und Versöhnung“. Er fährt fort:

„Die Verordnungen, die sich auf die Auflösung der Internierungslager, auf die Ueberprüfung der unbilligen richterlichen Urteile, auf die Heimlassung der Deportierten, auf die Erleichterung der Lasten des bäuerlichen Volkes, auf die Nachtragsinskriptionen zum Religionsunterricht und auf die Preissenkungen hinzielen, sind Tatsachen, die für sich selbst sprechen.“ Der Artikel schließt mit den denkwürdigen Sätzen: „Die Wirtschaftsanordnungen und die Preissenkungen machten das schwere Leben des ganzen ungarischen Volkes leichter und freudenvoller. Es wäre eine Unterlassung, diese edlen Gesten der Befriedung und der Versöhnung auch von kirchlicher Seite unbemerkt zu lassen und sie nicht vertrauensvoll zu pflegen. Wir wissen, daß eine jede Geburt mit Schmerzen verbunden ist. Auch die Geburt und Gestaltung einer neuen Gesellschaft und Lebensform. So wollen wir denn die Ucbergriffe der Fanatiker und die unglücklichen Verfügungen mißlungener Maßregeln niemandem vorwerfen. Wir möchten aber darauf vertrauen und diesem unseren Vertrauen auch offen Ausdruck verleihen, daß aus den Schmerzen Gutes geboren werden wird und die edlen Gesten der Regierung der Beginn einer neuen, gesunden Entwicklung sein werden im Leben des ungarischen Volkes.“ ■

Im bereits zitierten Artikel der „New York Times“ heißt es: „Wenn die ungarische NEP ernsthaft betrachtet werden sollte, müßten erst zwei Bedingungen erfüllt sein: das Verschwinden Mätyäs Räkosis und die Oeffnung des Eisernen Vorhangs.“ Wurden diese und noch andere, nach unserer Meinung vordringlichere und wesentlichere „Bedingungen“ erfüllt? Nein. Aber viele „Unpolitischen“ und viele Gläubigen und Hoffenden in Budapest fügen hinzu: Noch nicht!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung