6646338-1958_26_04.jpg
Digital In Arbeit

Imre Nagys vergeblicher Kampf

Werbung
Werbung
Werbung

Wer ist für den grausamen Schlußpunkt im Leben Imre Nagys und seiner Schicksalsgenossen in letzter Konsequenz verantwortlich?

Die Beobachter und Kenner, die infolge der Reiseerleichterungen und sonstiger Maßnahmen der letzten Jahre immer zahlreicher geworden sind, zeigen sich bei Beantwortung dieser Kardinalfrage uneinig. Einigkeit besteht nur in einigen Detailfrageri. So etwa nimmt man als klar erwiesen an, daß die ungarischen Platzhalter selbst, das Führungsgremium um Kadar herum, in ihrer Mehrheit für ein wohl endloses Hinausschieben der Erledigung der Causa Imre Nagy plädierten und daß zwischen Kadar und Tito, die sich bekanntlich im April dieses Jahres an der ungarisch-jugoslawischen Grenze heimlich trafen, in diesem Punkt Einigkeit herrschte.

Die Spuren beginnen sich dort zu verwischen, wo man die sowjetrussische Sphäre betritt. Kann man die These, wonach eine noch immer mächtige, in geheimnisvollem Halbdunkel operierende „stalinistische Gruppe“ für die Gewaltakte der letzten Jahre allein verantwortlich sei, auch auf diesen letzten Fall anwenden?

Diese Frage kann heute niemand mit beruhigender Gewißheit beantworten. Als die sowjetischen Truppen trotz der gegenteiligen Zusicherungen, die Mikojan und Suslow in Budapest Imre Nagy gaben, durch die Ostgrenzen Ungarns in das Land hereinzuströmen begannen und in den letzten Tagen und Stunden vor dem verhängnisvollen 4. November 1956 die ungarische Hauptstadt umzingelten, da konnte man da und dort hören, dies sei eine Aktion unbotmäßiger Generäle, die um ihre strategischen Positionen besorgt sind und die deshalb die klaren Intentionen der Partei — siehe die Erklärung über den Truppenabzug aus den Satellitenländern vom 30. Oktober 1956 — einfach sabotierten. Man erwähnte in diesem Zusammenhang Marschall Schukow, der dann später auch Opfer seiner überhöhten Ambitionen wurde.

In den letzten Monaten ist wiederum in zunehmendem Maße von der wiedererstarkten stalinistischen Gruppe die Rede, die innerhalb des Parteipräsidiums in Moskau ein mächtiges Wort führt und die Politik, hauptsächlich aber die Außenpolitik des Riesenreiches — zusammen mit deren ideologischen Voraussetzungen — wesentlich bestimmt. Es hat oft den Anschein, daß der heutige „Alleinherrscher“ Chruschtschow, Parteichef und Ministerpräsident in einer Person, sich darauf beschränkt, Maßnahmen zu sanktionieren, die seinem ursprünglich klar definierten Konzept zuwiderlaufen — um noch überhaupt im Spiel zu bleiben. So war es bei seinem kürzlichen Besuch in Sofia, wo er sich plötzlich an die Spitze der neuen Kampagne gegen Jugoslawien stellte, die bislang in Moskauer Redaktionen anonym geführt worden war.

Es wäre unzureichend, bei all dem nur den von persönlichen' Rivalitäten diktierten, nicht endenwollenden Machtkampf sehen zu wollen. Es handelt sich dabei um etwas wesentlich Ernsteres: von einer Erscheinung von größter historischer Tragweite. Die Gegnerschaften innerhalb des Führerkorps in Moskau und anderswo mögen bestehen, und dies kann vereinzelt noch zu blutigen Auseinandersetzungen führen. Das wesentliche Merkmal der chru-schtschowschen Vorstöße — wie sie die staunende Welt erstmals anläßlich des 20. Moskauer Parteikongresses erlebte — und ihrer nachträglichen Applanierung und allmählichen Entkräftung ist, daß erstere von einer Einzelperson ausgehen, während die Phase der rückläufigen Bewegung auf anonyme, im Wesen des kollektiven Apparates innewohnende Kräfte weist, gegen welche die Kraft des einzelnen nicht ausreicht. In diesem Sinne kann man die historische Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung hervorheben, wobei der im Politischen wirkende Mensch fast immer unterliegen muß.

Kadar, dieser in Ungarn heute wohl meistgehaßte Mann, versuchte in der ersten Zeit zweifellos — es gibt viele unverdächtige Zeugen, die dies bestätigen —, unter Einhaltung gewisser humaner Gesetze zu handeln. Er hatte doch seine Erfahrungen mit den Gefängnissen Rakosis; so wollte er von der Polizei etwa die alten verbrecherischen Elemente fernhalten. Mit der Zeit kam er jedoch darauf, daß sich ihm niemand für Polizeidienste zur Verfügung stellte, außer gerade diese. Und so nahm wieder alles den gewohnten Lauf. „Die sozialistische Gesetzlichkeit“ wurde wieder zur Farce und die Beteuerungen der Regierungssprecher, die anderes versprachen, blieben bloß Lippenbekenntnisse.

Wie war es noch vor nicht ganz zwei Jahren? Es steht außer Zweifel — und es gibt dafür viele Zeugen auch aus den Reihen der schärfsten Gegner des ungarischen Parteisekretärs —, daß es Kadar bei seinen Worten über die Lehren der Revolution, als er sie am 1. November 1956 in das Mikrophon sprach, ernst war. Er sprach von dem Aufstand (laut Bericht des Ungarnausschusses der Vereinten Nationen), in dem „die kommunistischen Schriftsteller, Journalisten, Universitätsstudenten, die Jugend des Petöfi-Klubs, Tausende von Arbeitern und Bauern und alte Kämpfer, die unter falschen Anschuldigungen im Gefängnis gesessen hatten, zusammen in vorderster Linie gegen die Rakosi-Tyrannei und politisches Rowdytum gekämpft hatten“. Die neue (damals gegründete) Partei würde die Sache des Sozialismus und der Demokratie vertreten, „nicht durch sklavische Nachahmung fremder Beispiele, sondern dadurch, daß sie einen Weg geht, der den wirtschaftlichen und historischen Gegebenheiten unseres Landes entspricht“. Es ist erwiesen, daß Kadar bis zu diesem Zeitpunkt sehr eng mit Imre Nagy zusammenarbeitete. Aber selbst noch Monate später, nachdem die sowjetischen Truppen Ungarn wiedererobert und ihn als Ministerpräsidenten eingesetzt hatten, versprach Kadar Verhandlungen mit der Sowjetunion wegen des Abzugs der Truppen. In Wirklichkeit erwies er sich im Laufe dieser Monate allen sowjetischen Forderungen und Bedingungen gegenüber von einer vielleicht noch größeren sklavischen Nachgiebigkeit als seine Vorgänger, ■ die ihn, den „Nationalkommunisten“, in ihren Kerkern folterten. Diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten ist mit den Charaktereigenschaften eines Opportunisten allein nicht zu erklären.

Das entscheidende gemeinsame Erlebnis Kadars, Chruschtschows wie Imre Nagys war in jenen Oktobertagen das Schauspiel des plötzlichen Zusammenfallens des Parteiapparates. Die Partei, die sie zwar für reformbedürftig hielten, die aber für sie, auch für Imre Nagy, den eigentlichen Boden jeder konstruktiven Weiterentwicklung darstellen sollte, hielt der ersten wirklichen Belastung nicht stand, sie zerfiel in ihre Bestandteile: in Einzelmenschen und Gruppen, die alle nach ihrem Gutdünken oder nach der Stimme ihres Gewissens — für einen Kommunisten ein gräßliches Wort — mit der neuen Wirklichkeit fertig zu werden suchten. Man konnte damals in Ungarn für vieles Anhänger finden, nur die Kommunistische Partei hatte plötzlich keine Anhänger mehr, niemanden, der sie verteidigen wollte, denn selbst die Parteischergen, für welche die Partei eine Frage auf Leben und Tod war, trachteten nur, ihr bloßes Leben zu retten.

Aus diesem Erlebnis zogen die Kadars und Chruschtschows einerseits und die Imre Nagys anderseits Lehren, die ihre spätere Handlungsweise bestimmten. Die ersteren unterwarfen sich den mechanistischen Gesetzen des Apparates, der nur nach völlig einheitlichen Regeln funktionieren kann. Die Einheit der kommunistischen Parteien, die in der kürzlichen Kritik gegenüber der Partei Titos wieder mit allem Nachdruck gefordert wird, ist tatsächlich das Lebenselement des Kommunismus, und man kann sich vorstellen, welche absolute Geltung diese Forderung nach Einheit des Apparates besitzt, wenn im Interesse dieser Einheit solche schwerwiegende Taten, wie die Hinrichtung der ungarischen „Revisionisten“, gesetzt werden. Denn es mochte in Moskau und in Budapest niemand daran zweifeln, welch verheerende Folgen eine solche Gewalttat auf jede Koexistenz- und Befriedungspolitik haben mußte. Zur Zeit der großen Säuberungen der dreißiger Jahre lag die Sowjetunion noch außerhalb einer auch in sich mehrfach gespaltenen Gemeinschaft der Völker. Heute, nicht zuletzt auch infolge der jahrelangen „Schneeschmelze“, ist die Welt kleiner, übersichtlicher geworden. Justizmorde „hinten in der Türkei“ berühren heute viel unmittelbarer, ob man in Amerika, in Indien oder auf noch entfernteren Inseln sitzt. Es war das Gespenst des restlosen inneren Zerfalls, das diese Parteiführer, die sich gleichsam vor dem Nichts zu stehen wähnten, dazu bewog, das Steuer umzuwerfen und Schreckenstaten zu setzen. Die Schuld, die sie damit nicht nur in den Augen der ganzen gesitteten Welt, sondern wohl auch nach ihrer innersten Ueberzeugung auf sich luden, wird ihre weiteren Handlungen nach dem Gesetz krimineller Vorgänge mit beeinflussen. Von hier drohen neue Gefahren der ganzen Menschheit.

Geschah hier jedoch noch etwas wesentlich Neues? Die rebellierenden Schriftsteller und Journalisten um Imre Nagy wollten keinen neuen Apparat mehr errichten. Sie wären dazu auch kaum imstande, nachdem sie das mächtige

Wort ihres Gewissens, die Macht vergessener Gefühle, wie Scham oder die Sehnsucht nach Sauberkeit, wiederentdeckt hatten. Ueber diese Vorgänge, die sich in den Seelen abspielten und in den Geschehnissen jener Budapester Oktobertage nur ihren blassen und einigermaßen getrübten Ausdruck fanden, wurde schon oft berichtet. Das politisch zunächst Wesentliche war, daß Imre Nagy und seine Kameraden unter dem zwingenden Eindruck dieser Erlebnisse die Plattform der Ideologie und damit auch der Partei endgültig verließen. Und da schieden sich die Geister. Wenn man die damaligen Reden und seither im Druck erschienenen Aeußerungen Imre Nagys verfolgt, erkennt man mühelos die Trennungslinie, die auf alles weitere entschei-'dend werden sollte. Etwa nach dem 1. November ist die Sprache, selbst im wörtlichen, stilistischen Sinn, eine andere geworden. Von da an war die Möglichkeit einer Verständigung, eines Kompromisses mit den anderen, welche die zerbröckelte Fassade wiederaufrichten wollten, ausgeschlossen. Dem Ausschließlichkeitsstreben hypothetischer Werte stand die reale Macht der Wirklichkeit gegenüber.

Imre Nagy mußte diesen Kampf trotzdem verlieren, wie die physische Macht des Apparates über den einzelnen zuerst immer siegen muß. Es gibt jedoch Anzeichen, die darauf schließen lassen, daß hier das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde. Der „Revisionismus“ der Nagy-Anhänger — und derer gibt es heute gerade seit jenem. Trennungsstrich in Ungarn sehr viele — besteht nicht zuletzt darin, daß aus den Erfahrungen soviel Leides und menschlicher Unzulänglichkeit neue, vollkommenere Formen des Zusammenlebens der Menschen gesucht werden. Gerade Bluturteile, wie die gegen Imre Nagy und seine Leidensgefährten gefällten, zeigen die Ohnmacht der Apparate und die Kraft, die der menschlichen Seele innewohnt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung