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Die weißen Flecken verschwinden ganz

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Die politische Wende in Osteuropa hat auch der zeitgeschichtlichen Forschung neue Impulse verliehen: siehe Ungarnaufstand 1956.

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Die politische Wende in Osteuropa hat auch der zeitgeschichtlichen Forschung neue Impulse verliehen: siehe Ungarnaufstand 1956.

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Seit 1990 existiert in Budapest das „Institut für die Geschichte der Ungarischen Revolution 1956”. Dieses Institut hat im Jänner 1993 das sogenannte „Jelzin-Dossier” in ungarischer Sprache publizierte. Es handelt sich dabei um jene 62 sowjetischen Dokumente, die Jelzin anläßlich seines Staatsbesuches im November 1992 i'n Ungarn, bei dem er sich im Namen seines Landes für das Ungarn angetane Unrecht von 1956 entschuldigte, dem ungarischen Präsidenten Göncz überreicht hatte. Diese Dokumente stammen aus den Staats-, Partei-, Militär- und KGB-Archiven und geben einen exzellenten Einblick in die Denk- und Handlungsweise Moskaus über 1956. Was ergibt sich aus diesen Dokumenten?

In Ungarn befand sich

1956 ein sowjetisches Armeekorps zu besonderer Verwendung. Es umfaßte vier Divisionen. Oberbefehlshaber war Generalleutnant Laschtschen-ko, später Chefberater des ägyptischen Präsidenten Nasser in militärischen Belangen. Da in Ungarn die politische Gärung bereits im Sommer 1956 begonnen und die Re-gierung auf ungarischem Gebiet den Eisernen Vorhang an der Westgrenze entfernt hatte, überkam das sowjetische Militär ein Unbehagen.

Geros „Einladung”

Jurij Andropow, Botschafter der UdSSR, hatte bereits im Sommer 1956 mit KGB-Chef Iwan Serow über die Lage in Ungarn in Budapest verhandelt und General Lascht-schenko wurde angehalten, Pläne auszuarbeiten, was von sowjetischer Seite zu tun wäre, wenn in der ungarischen Hauptstadt (wo keinerlei Sowjetgarnisonen waren) ein Aufruhr stattfinde.

Aus den Jelzin-Dokumenten wissen wir heute, daß am 24. Oktober 1956 in Moskau ein geheimes Gifpeltreffen aller Ostblock-Parteiführer stattfand. Ungarns Parteichef Ernö Gero wagte jedoch infolge der zugespitzten Lage in Budapest nicht, das Land zu verlassen. Als sich am 23. Oktober 1956 in Budapest die friedliche Studentendemonstration zu einem bewaffneten Aufstand gegen das Regime ausweitete, wandte sich Gero mit der dringlichen Bitte an den Militärattache der UdSSR in Budapest, er möge die Sowjetführung dazu bewegen, die Ordnung wiederherzustellen.

Dieser unterrichtete unverzüglich Marschall Schukow, den SU-Verteidigungsminister. Und dieser sprach noch in der Nacht vom 23. Oktober mit Parteichef Chruschtschow. Inzwischen waren aber schon etliche Sowjetgarnisonen in Ungarn aufgeboten worden und General Lascht-schenkos Panzereinheiten näherten sich Budapest. Chruschtschow aber zögerte, den Eingreifbefehl zu erteilen. Erst als auch Boschafter Andropow wegen Budapest in Moskau Alarm schlug, war Chruschtschow bereit, der Bitte Geros zu entsprechen - vorausgesetzt, daß eine diesbezügliche offizielle schriftliche Aufforderung seitens der ungarischen Regierung präsentiert werden könne. Gero sagte ja dazu und die Sowjetarmee begann bereits am Morgen des 24. Oktober mit ihrem Einsatz.

Dokumentarisch steht also heute fest, daß nicht Imre Nagy, sondern Ernö Gero derjenige war, der die Sowjets zu ihrem militärischen Eingreifen in Ungarn „einlud”. Die schriftliche Bitte hatte schließlich am 26. Oktober - rückdatiert - der bereits in der Nacht vom 23. auf 24. Oktober abgesetzte ungarische Premier Andräs He-gedüs unterzeichnet.

Die Sowjetführung dachte keine Stunde daran, Ungarn als „sozialistische Volksdemokratie” aus dem Sowjetblock zu entlassen. Im Lichte dieser Dokumente ist heute klar, daß die KPdSU-Präsidiumsmitglieder Mikojan und Suslow, die ab 24. Oktober in Ungarn weilten, mit Imre Nagy ein unehrliches, ja schmutziges Spiel getrieben haben.

Popularität, um Zeit zu gewinnen, die außenpolitische Konstellation zu prüfen und die nötigen militärischen Vorkehrungen zu treffen. Aber schon ab 29. Oktober begannen Mikojan und Suslow, eine neue Garnitur ungarischer KP-Politiker zu suchen, die man - im geeigneten Moment - anstelle von Imre Nagy für ihre Pläne einsetzen könnte.

Am 28. Oktober hatten Mikojan und Suslow Imre Nagy freie Hand gegeben. Dieser, in fester Überzeugung, daß Moskau ihn nicht hintergeht, führte in den nächsten 24 Stunden eine Verständigung mit den Aufständischen herbei und vermochte auf der Basis eines künftigen unabhängigen, neutralen, aber sozialistischen Ungarn auch mit den nichtkommunistischen politischen Kräften des Landes zu einer Einigung zu kommen. Mikojan und Suslow gaben zu all dem weiterhin ihren Segen, obwohl sie bereits am 30. Oktober in den Abendstunden nach Moskau telegraphierte: „In Budapest werden massenhaft Kommunisten getötet...

Spielball des Kremls

Wir schlagen vor, Genosse Konjew unverzüglich nach Ungarn zu schicken.” Marschall Iwan Konjew war da-mas der Oberbefehlshaber des 1955 gegründeten Warschauer Paktes. Konjew traf am 1. November 1956 in der ungarischen Provinzstadt Szolnok ein, wo sich eine starke sowjetische Militärgarnison befand. Er sollte innerhalb von drei Tagen bereit sein, den Gegenscnlag zu führen. Schukow drängte ihn dabei zur Eile: „Wenn Du dann nicht rasch mit der Konterrevolutiauf, dann kannst Du gegen die Amerikaner kämpfen.” Eine Drohung, die jeder Realität entbehrte, denn die USA akzeptierten voll und ganz die europäischen Interessengrenzen nach den Jalta-Potsdam-Abkommen.

Der Ungarn-Aufstand sollte im Schatten des Nahostkrieges niedergeschlagen werden. Imre Nagy als Ministerpräsident mußte verschwinden. Marschall Tito schlug als neuen ungarischen Premier Jänos Kädär vor und nahm es auf sich, Nagy - zu gegebener Zeit - in die jugoslawische Botschaft zu locken und dort zu isolieren.

Die sogenannte Kädär-Regierung war am Nachmittag des 3. November in Moskau durch das KPdSU-Präsidium aus der Taufe gehoben worden (die „Revolutionäre Ungarische Arbeiter- und Bauernregierung” hatte sich also nicht in Ungarn formiert). Und damit hatten die Sowjets Probleme mit Nagy. Zwar war dieser in Budapest ab 4. November in der jugoslawischen Botschaft isoliert (man hat ihn und seine engsten Mitarbeiter nach dem Ansturm der Sowjetarmee in das Gebäude gelockt und ihnen politisches Asyl gewährt), auf Dauer konnte jedoch Nagy nicht bei den Jugoslawen bleiben.

Chruschtschow und seine Ratgeber schlugen Nagy vor, offiziell als Ministerpräsident zurückzutreten. Kädär konnte sich damals noch vorstellen, Nagy als Landwirtschaftsminister in seine Regierung zu nicht gewillt, Spielball des Kremls zu sein. Er verweigerte die Demission und verlangte freie Ausreise aus Ungarn. Er hatte das Doppelspiel Titos nicht durchschaut und wollte ins Exil nach Belgrad. Die Sowjets sahen ein, daß Nagy nicht mehr der folgsame Genosse war. Sie lockten ihn aus dem Botschaftsgebäude, ließen seine Gruppe von KGB-Männern verhaften und verschleppten sie nach Rumänien. Nagy und seine Mitarbeiter gelangten erst im Frühjahr 1957 nach Budapest zurück - und zwar als Gefangene des Kadär-Regimes.

Das ungarische Politbüro, an der Spitze Jänos Kädär, entschloß sich 1957, mit Nagy und anderen blutig abzurechnen. Im Dezember 1957 wurde die Genehmigung zu einem politischen Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit erteilt. Das Ergebnis kennen wir: am 16. Juni 1958 wurden Nagy, General Pal Maleter und der Redakteur Miklos Gimes in Budapest hingerichtet.

Der Befehl dazu kam nicht von Moskau, obwohl klar ist, daß die Sowjetführung über die Todesurteile rechtzeitig informiert wurde.

Die schrecklichen Repressalien zwischen Dezember 1956 und März 1961 gehen auf Rechnung der ungarischen Machthaber. Hingerichtet wurden in dieser Zeitspanne über 400 Personen; schwere Kerkerstrafen erhielten an die 20.000 Männer und Frauen, die Zahl der Internierten betrug zeitweilig 1 n nnn d—„™™

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