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Hitler-Einmarsch war die Mahnung

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Allerheiligentag 1956. Nach altem christlichem Brauch steht ein Besuch an den Gräbern der verstorbenen Angehörigen auf dem Tagesprogramm. Da läutet um 9 Uhr das Telefon, und es kommt die Mitteilung, daß Bundeskanzler Julius Raab für 10 Uhr einen außerordentlichen Ministerrat einberufen hat.

Es sind die Ereignisse in Ungarn, die auf der Tagesordnung stehen. Russische Truppen marschieren seit 24 Stunden in Ungarn ein, um den Aufstand des Volkes blutig niederzuschlagen.

Wir waren über die sowjetischen Truppenbewegungen bereits informiert, und das aus einem Grunde, der gar nicht uninteressant ist: Das österreichische

Bundesheer verfügte seit kurzem über eine technische Einrichtung, die es ermöglichte, Truppenbewegungen auf große Entfernungen festzustellen.

Das Kommando des Bundesheeres war dadurch zu einem Zeitpunkt darüber informiert, was sich an der ungarischen Grenze abspielte, als diese Ereignisse diesseits der weltpolitischen Demarkationslinie noch nicht bekannt waren.

Die Frage, die die Bundesregierung beschäftigen mußte, war die, welche Haltung Österreich für den Fall der Verlagerung der Kampfhandlungen über die österreichisch-ungarische Grenze einnehmen sollte. Diese Frage war aus zwei Gründen unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse eine ajtißerordent-lich schwerwiegende.

Einmal verfügte Österreich ein Jahr nach dem Staatsvertrag begreiflicherweise noch nicht über ausreichende militärische Kontingente und Waffen. Zum anderen war die Frage, wie sich Österreich für den Fall verhalten sollte, daß nicht nur bewaffnete ungarische Staatsbürger, sondern auch yhiilitärische Gruppen oder Einheiten die österreichische Grenze überschreiten sollten, eine politische.

Natürlich ist jedes Land nach Völkerrecht berechtigt, seine Grenzen gegen bewaffnete Ubergriffe zu verteidigen. Aber es bedarf wohl keiner Begründung, daß eine allfällige Konfrontation mit sowjetischen Militäreinheiten ernste politische Folgen für unser Land haben konnte.

Die Stimmung im Ministerrat, der den ganzen Tag über andauerte, war dementsprechend ernst, ganz abgesehen davon, daß das erst im Aufbau begriffene österreichische Bundesheer kaum ernstzunehmende Chancen für eine tatsächliche Verteidigung gehabt hätte. Andererseits war es die im Ministerrat völlig unwidersprochene Meinung aller Regierungsmitglieder, daß die Unverletzlichkeit österreichischen Bodens verteidigt werden müsse, auch wenn die militärischen Möglichkeiten sehr gering waren.

Zu dieser Entscheidung verhalf uns eine historische Erinnerung, die’eingehend diskutiert wurde. Es war die Tatsache, daß Österreich am 11. März 1938 den einmarschierenden deutschen Truppen keinen militärischen Widerstand entgegengesetzt hat. Diese Entscheidung wurde bekanntlich von Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg getroffen, der in seiner erschütternden Abschiedsrede den Österreichern mitteilte, daß unnützes Blutvergießen vermieden werden sollte.

Es ist später viel über diese Entscheidung diskutiert worden. Schuschnigg und die Kommandostellen des damaligen österreichischen Bundesheeres waren der Meinung, daß ein militärischer Widerstand in wenigen Stunden von der Deutschen Wehrmacht gebröchen sein würde. Spätere, von Historikern angestellte Erkenntnisse gehen allerdings dahin, daß das Bundesheer in der Lage gewesen wäre, etwa drei Tage erfolgreichen Widerstand zu leisten.

Aber ich weiß aus späteren Diskussionen mit Schuschnigg, daß er auch unter solchen Umständen nicht zu einem militärischen Widerstand bereit gewesen wäre.

nicht zuletzt deshalb, weil er für einen solchen Fall blutige Aktionen der illegalen Nationalsozialisten, vor allem in der Steiermark, befürchtet hatte.

Daß die Haltung Schuschniggs eine rnęnschlich verständliche und höchst ehrenwerte gewesen ist, bleibt unbestritten. Wir müssen uns selber fragen, ob wir eine andere Entscheidung getroffen hätten, wenn sie uns auferlegt worden wäre. Trotzdem war es, politisch gesehen, eine falsche Entscheidung.

Im Ministerrat vom 1. November 1956 fiel denn auch die Entscheidung, alle verfügbaren militärischen Einheiten so schnell wie möglich an die österreichisch-ungarische Grenze mit dem Befehl zu transferieren, daß grenzüber-

schreitende bewaffnete Personen, gleichgültig ob Ungarn oder Russen, wenn nötig unter Einsatz der Schußwaffe sofort zu entwaffnen seien. Es war eine der schwersten, aber auch der wichtigsten Entscheidungen dieser Zeit.

Dann ereignete sich folgendes: Zahlreiche, die Grenze überschreitende bewaffnete Ungarn legten auf Anruf sofort ihre Waffen nieder und wurden entweder zurückgeschickt oder vorläufig interniert. Mit einer Ausnahme: Als eine drei Mann starke russische Patrouille auf einen solchen Anruf nicht reagierte, sondern auf österreichische Soldaten schießen wollte, schössen diese zuerst und töteten dabei einen russischen Soldaten.

Das hatte sechs Monate nachher ein Nachspiel. Im März 1957 machte der sowjetische Stellvertretende Ministerpräsident Anastasius’ Mikojan einen offiziellen Staatsbesuch in Wien. Bundeskanzler Raab und fast alle Minister saßen zum ersten Arbeitsgespräch im Kongreßsaal des Bundeskanzleramtes der sowjetischen Delegation gegenüber, und Mikojan begann die Verhandlungen mit einer schweren Anklagerede wegen dieses Vorfalles. Neutralitätsbruch, feindseliges Verhalten gegenüber der Sowjetunion und viele andere Beschuldigungen waren der Inhalt des Statements von Mikojan.

Als er geendet hatte, herrschte für einige Augenblicke eisiges Schweigen im Räume. Dann neigte sich Julius Raab über den Tisch, setzte ein freundliches Lächeln auf und begann seine Antwort mit der lapidaren Feststellung: „Aber Herr Ministerpräsident, das war doch nur eine läßliche Sünde!" Mikojan, der offensichtlich gut Deutsch verstand, aber nie ein deutsches Wort sprach, wußte zunächst mit der „läßlichen Sünde" nichts anzufangen, ließ sich die Sache genau übersetzen und brach sodann in helles Gelächter aus. Und kein Wort mehr wurde über die Sache gesprochen. Österreich war wieder einmal gerettet.

Vizekanzler a. D. Fritz Bock war 1956 Minister für Handel und Wiederaufbau in der Regierung Raab II.

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