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Historische Feststellung

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Es werden noch immer Stimmen laut, welche der Meinung Ausdruck verleihen, daß ein bewaffneter Widerstand im Jahre 1938 Österreich Gutpunkte für den künftigen Staatsvertrag eingetragen hätte. Man scheint sich darüber nicht im klaren zu sein, welche Folgen solche Äußerungen für Österreich unter Umständen jetzt noch haben können. Es ist deshalb notwendig, zu dieser Frage eingehend Stellung zu nehmen.

Österreich verfügte über ein Heer von nur 70.000 Mann, dessen Bewaffnung und Ausrüstung in erheblichem Maße hinter den neuzeitlichen Anforderungen zurückblieb. Zudem überstieg der Munitionsvorrat kaum den Bedarf eines einzigen Tages. Nimmt man an, daß es überhaupt möglich gewesen wäre, die österreichischen Streitkräfte zu mobilisieren und sie noch rechtzeitig mit dem Schwergewicht in der schmälsten, achtzig Kilometer breiten Stelle des westlichen Einbruchraumes der Linie Enns—Aist, gegen den wohlvorbereiteten Uberfall bereitzustellen, nimmt man weiter an, daß man in die 400 Kilometer lange Alpenfront Bodensee— Enns nur 20.000 Mann und hundert Geschütze eingesetzt hätte, so wären für die Enns-Aist-Stellung 50.000 Mann und 300 Geschütze, also fünf schwadie Divisionen, verblieben. Nun können einer vollwertigen Division in der Verteidigung höchstens zehn Kilometer Breitenausdehnung zugewiesen werden, aber nicht fünf sdiwadien Divisionen eine 80-Kilometerstrecke, wobei überdies hinter den Divisionen erster Linie, Eingreifdivisionen zur Bereinigung von feindlichen Einbrüchen hätten bereitstehen müssen. Wie die Dichte der Besetzung, demnach die Widerstandskraft dieser Stellung ausgesehen hätte, kann sich jeder Laie ausmalen. Da sich überdies die Artillerie und die schweren Waffen der Infanterie schon im Verlaufe des ersten Schlachttages verschossen hätten, wäre der Truppe nur die Wahl geblieben zu sterben oder die weiße Fahne zu hissen. Ein Rückzug ohne Munition bedeutet die vollständige Vernichtung. Aber ohne Munition ist auch die Führung eines Kleinkrieges nicht denkbar. Man kann den Heldenkampf Tirols im Jahre 1809 nicht zum Vergleich heranziehen, denn Gewehre ohne Munition, Sensen und Dreschflegel sind keine geeigneten Waffen gegen Bomber und Panzer. Wir alle sind uns darüber einig, daß 1945 der Einsatz des Volkssturms für die ihm gestellten Aufgaben nicht nur ein militärischer Unsinn, sondern geradezu ein Verbrechen war. Solche Formationen kennen die Handlungen von militärischen Verbänden unterstützen, letztere aber niemals ersetzen. Überdies muß ein von nichtmilitärischen Verbänden geführter Kleinkrieg rechtzeitig organisiert und eingeschult, sowie alle Vorsorgen für die Bewaffnung, Ausrüstung, Munitionierung, Verpflegung, den Nachrichten- und Sanitätsdienst getroffen werden. Eine bloße Beteilung der aufgebotenen Männer mit Gewehren und einigen Patronen im letzten Augenblick kann nicht genügen. Die Nadelstiche, die dem Gegner durch solche Aufgebote zugefügt werden können, vermögen die feindlichen Operationen in keiner Weise zu beeinträchtigen. Sie haben aber für ihre Urheber schwere Folgen, man denke an Lidice! Überdies eignet sich der Donauraum wenig für die Führung eines Kleinkrieges.

Es wird auch der Meinung Ausdruck verliehen, daß ein bewaffneter Widerstand Österreichs den zweiten Weltkrieg verhindert hätte und so die durch diesen verursachten Verluste vermieden worden wären. Nun sind doch die Absichten Hitlers allgemein genau bekannt: Sie gipfelten in den beiden Forderungen:

Zusammenschluß aller deutschsprechenden Völker, Schaffung eines deutschen Siedlungsraumes im Osten.

Wie kann man glauben, daß ein eintägiger bewaffneter Widerstand Österreich Hitler in der Durchführung dieser weitgesteckten Pläne hätte hindern können?

Schließlich wurden auch Stimmen laut, daß man selbst bei voller Erkenntnis der Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Widerstandes, wenigstens den guten Willen zeigen und den Kampf hätte aufnehmen sollen. Aber alle Einsichtigen erklären es als Wahnsinn, daß Deutschland zu einem Zeitpunkte weiterkämpfte, in welchem ein Widerstand schon aussichtslos war und nur mehr zu weiteren Menschenverlusten und Verwüstungen des Landes führen konnte. Warum verlangt man dann von Österreich, daß es einen aussichtslosen Kampf mit allen seinen Folgen für Tausende von Familien hätte aufnehmen sollen, einen Ringkampf zwischen einem Zwerg und einem Riesen? Politisch hat es ja bis zum letzten Augenblick Widerstand geleistet. Alle 'auswärtigen Mächte mußten sich ja über die Folgen einer Besetzung Österreichs im klaren sein, und es wäre seit 1933 zweifellos möglich gewesen, eine europäische militärische Abwehr zu organisieren. Warum geschah das nicht? So konnte Hitler einen Stein nach dem anderen aus dem Gefüge der Ostfront herausbrechen und in weiterer Folge eine Front nach der anderen zertrümmern, bis ein gemeinsam geführter Gegenangriff sein Schicksal besiegelte. Man kann auch nicht die Lage Österreichs mit jener von Belgien und Holland vergleichen. Das äußerst schwach gerüstete Österreich stand vollständig allein, ohne Aussicht auf irgendeine Unterstützung. Die vollständig gerüsteten Länder Belgien und Holland stützten sich hingegen auf das Millionenheer Frankreichs, bildeten somit den Nordflügel der Westfront, mit England im Rücken.

Alle bisher angestellten Erwägungen fußen auf der Annahme, daß eine Mobilisierung und Bereitstellung der Kräfte zur Abwehr durchführbar gewesen wäre. Nun ist bei dem gegenwärtigen Stand der Nachrichtenmittel eine Mobilisierung unter keinen Umständen geheimzuhalten. Glaubt man ernstlich daran, daß Hitler diese Mobilisierung nicht sofort unterbunden hätte? Die Luftlinie Passau— Wien beträgt 230 Kilometer. Was hätte schon diese Strecke für Luftstreitkräfte und die schon einsatzbereit stehenden Panzerdivisionen bedeutet! Jedenfalls wären die deutschen Bomber am ersten Mobilisierungstag noch vor dem „Kuckucksruf“ über Wien erschienen. Dabei verfügte Österreich nicht einmal über ein Luftschutzgesetz, geschweige denn über irgendwelche Vorsorgen gegen diese Bedrohung.

Hitler hatte keine Zeit; er mußte rasch handeln und die Welt durch die Besetzung Österreichs verblüffen, damit er allen Eventualitäten begegnen könne. Er mußte die Ostfront hiezwingen, bevor die Westmächte in der Lage waren, entscheidend einzugreifen. Er wollte deshalb gleichzeitig mit Österreich die Tschechoslowakei besetzen. Diese Behauptung möge das von mir im März 1939 mit dem damaligen Oberst, später Generaloberst J o d 1, dem militärischen Vertrauensmann Hitlers in Österreich, geführte Gespräch erhärten. Auf meine Bemerkung, daß 500.000 Quadratkilometer, ungefährer Flächeninhalt Deutschlands, fünf Milliarden Quadratkilometer, Oberfläche der Welt, auf die Dauer nicht standhalten werden können, erwiderte Jodl wörtlich:

„Ja, Herr General, das wissen wir. Wir können aber nicht warten, bis uns das Seil, das um unsern Hals gelegt ist, zugezogen wird. Wir müssen es früher durchhauen. Der Führer wollte gleichzeitig mit det Einverleibung der Ostmark die Tschechoslowakei erledigen. Die Mehrheit der Generale war dagegen. Der Führer bedauerte, daß' er den Rat seiner Generale befolgt hat. Er habe dadurch ' dem Gegner Gelegenheit gegeben, seine Verteidigung weiter auszubauen. Der Führer sagte, daß er dem Rat seiner Generale nicht mehr folgen werde. Einige sind auch gegangen worden.“

Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß ein beabsichtigter bewaffneter Widerstand schon am ersten Mobilisierungstag im Keime erstid worden wäre. Zu den Verlusten und Zerstörungen des zweiten Weltkrieges wären jene des versuchten Widerstandes gekommen, wodurch, abgesehen von den sonstigen Folgen füt Österreich, das „deutsche Eigentum“ etwas umfangreicher ausgefallen wäre.

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