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Ein österreichisches Memento

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Die Lage seit dem „deutschen Frieden“ 1 ist ernster denn je. Die Optimisten glaubten, daß wir ein Jahr Ruhe haben werden (und kommt Zeit, kommt Rat), die Pessimisten zählen die neue Atempause (oder Galgenfrist) nach Wochen. Wahrscheinlich haben diejenigen Recht, die behaupten, Österreich sei mehr denn je der Spielball von Faktoren, die außerhalb des Landes liegen. Sicher ist nur das eine, daß der Kampf nicht beendet ist, daß er vielmehr mit verstärkter Wucht in absehbarer Zeit aufs neue einsetzen wird und daß daher kein Tag zu verlieren ist, um die Vorbereitungen dafür zu treffen. '

Wir stehen seit dem 24. Februar gewissermaßen wieder dort, wo wir vor dem 12. Februar2 standen. Der Unterschied ist nur, daß wertvolle Wochen verflossen sind und wichtige Positionen geräumt wurden! Nachdem die NSDAP zwölf Tage lang der Meinung war, Österreich bereits sicher in Händen zu haben, ist ihre Enttäuschung und Erbitterung um so größer. Soll Österreich wirklich nur zwölf Tage lang nazistisch gewesen sein? Die Folgen sind mit Händen zu greifen. Entweder explodiert der Nazismus in diesen Tagen oder aber, wenn es für Deutschland zweckmäßiger ist, die Wut zurückzuhalten, so bleibt sie eben um so sicherer für eine kommende Zeit aufbewahrt.

Auf alle Fälle aber ist damit zu rechnen, daß der Kampf neu beginnt, daß er mit noch größerer Leidenschaft als bisher, aber auch mit verbesserter feindlicher Position geführt werden wird und daß daher, da es einen Frieden und ein Kompromiß für die andere Seite nicht gibt, auch für uns, wenn wir nicht einfach kapitulieren wollen, nur die Vorbereitung auf den neuen Kampf der Sinn dieser Atempause sein kann.

Wenn die österreichische Staatsführung dies alles weiß, dann wahrhaft „glückliches Berchtesgaden“ 1 Wenn sie sich jedoch über die wirkliche Lage mit großen Worten hinwegtäuscht, sich Illusionen macht über das. 'was kommen muß, dann ist Österreich verloren!

Vom 12. zum 24. Februar

Die Entrevue von Berchtesgaden wurde von der ganzen Welt und von ganz Österreich, von Freund und Feind, als Kapitulation Österreichs aufgefaßt. „Österreich gibt sich auf“, war die allgemeine Meinung im In- und Ausland. Nur noch die Form der Gleichschaltung blieb zweifelhaft. Die Rede Hitlers vom 20. Februar bestätigte

diese Auffassung, da sie jede Garantie der Unabhängigkeit Österreichs vermied. In Österreich hingegen hatte die Regierung eine Reihe einschneidender Wünsche Deutschlands im vorhinein erfüllt und den Nazis drei Tage lang „Straße frei“ gewährt, ihren Sieg zu feiern. Völlig überraschend kam daher für die ganze Welt und für ganz Österreich, für Freund und Feind, die Erklärung vom 24 Februar, die bei allem

Entgegenkommen und bei aller Anpassung im entscheidenden Punkt doch wieder dort anknüpft, wo wir vor Berchtesgaden standen.

Was in der Welt der großen Politik zwischen dem 12. und dem 24. Februar vorgefallen ist, wurde der Öffentlichkeit nicht bekannt. Es läßt sich nur vermuten, daß in diesen Tagen nicht bloß ein psychologischer Prozeß ausreifte, sondern offenbar neue Garantien für die Unabhängigkeit Österreichs gegeben wurden. Daß diese nicht von den im Augenblick eher schwächeren Westmächten, sondern von Italien stammen können, liegt auf der Hand.

Drei Möglichkeiten

Die weitere Entwicklung läßt drei Möglichkeiten offen:

1. Der negativste Fall wäre es offenbar, wenn die österreichische Staats

ührung den Begriff der .Unabhängig ;eit Österreichs als einen rein forma en betrachten würde, in den sich eieliebiger Inhalt gießen läßt, also ir .aufe der Zeit alles aufnehmbar isi vas Hitler auf den Gebieten de Außenpolitik, der Wirtschaftspolitik ind der Heerespolitik wünscht, bis ar inde ein „organischer Anschluß“ da ?ei herauskommt. In diesem Fall vären die bisherigen Formen des Ent ;egenkommens erst ein Auftakt. Di

entscheidenden Gleichschaltungsmaßnahmen kämen erst in der weiteren Entwicklung. Österreich hätte also tatsächlich kapituliert, wie alle Welt zwölf Tage lang glaubte. Die Rede Hitlers wäre stärker als die Erklärung vom 24. Februar. Viele Menschen im In- und Ausland fürchten diese Entwicklung Die Ungewißheit der zwölf Tage, die das österreichische Volk neuerdings schwer demoralisiert und i

der Welt vielfach den Glauben an uns genommen haben, läßt sich in ihren Auswirkungen eben keineswegs durch eine Rede (und wäre sie noch so meisterhaft) wiedergutmachen. Viele glauben daher, die Absage vom 24. Februar sei doch nur die Fassade, hinter der sich die Kapitulation vom 12. Februar verbirgt. Mit dieser Stimmung ist wohl zu rechnen. Erst Taten, die den Worten vom 24. Februar adäquat sind, können diese Stimmung überwinden. Bleiben die Taten aus, dann wird gerade diese Stimmung immer weitere Kreise ziehen.

2. Weniger schlimm, aber noch immer negativ genug wäre es, wenn zwar der gegenwärtige Stand der Unabhängigkeit gewahrt bliebe, der Einsatz der organisierten NSDAP in der VF jedoch eine allmähliche Aushöhlung und Verdünnung dieser Unabhängigkeit bewirken würde, der die österreichische Staatsführung kein Gegengewicht entgegenzusetzen wagen würde. Diese Gefahr der Aushöhlung ist gewiß nicht allzu schlimm. Einen Teil der Nazis freut diese Taktik nicht, ein anderer Teil ist dazu unfähig. Die Front wird also vermutlich mit der einbrechenden Etappe fertig werden. Schlimm wäre es nur, wenn sich die Führung bei diesem Abwehrerfolg beruhigen würde und damit schon alles getan glaubte. Denn auch wenn die Nazis als organisierte NSDAP in der VF nicht weiterkommen/ so werden sie doch auf alle Fälle in der Lage sein, Atmosphäre zu verbreiten. Sie werden zwar die Front nicht erobern, aber die öffentliche Meinung vergiften, da es kein organisiertes Gegengewicht gibt. Gefährlicher aber als die organisatorische Eroberung der Front durch die Nazis wird die von ihnen erzeugte Atmosphäre sein. Nicht bloß die Abwehr der Nazis in der Front ist die Aufgabe, vor der Österreich steht, sondern die Abwehr der deutschen Infiltration, durch die allein auf die Dauer eine Abwehr der deutschen For- dertogori möglich ist,'(die Österreich mrfa):jmd1mehriaushöhlen scdjen, „Bis hierher und nicht weiter“ müßte also bedeuten: keine neuen nationalen Minister, keine Notpolizei gegen den „Bolschewismus“, keine Nazis im Gewerkschaftsbund, keine Gleichschaltung der Presse und Verlage, keine Abschaltung von Prag, Paris und London, keine Wirtschafts- und Währungseinheit, kein Militärbündnis, ja nicht einmal die leiseste Konzession auf dieser abschüssigen Bahn, die, einmal betreten, notwendig zu den letzten Konsequenzen führen muß.

3. Der positivste Plan wäre es eben, wenn die österreichische Staatsführung (bei korrektester Erfüllung ihrer Verpflichtungen, bei allem Entgegenkommen und aller Anpassung) sich keinerlei Illusionen hingeben würde, daß der

Entscheidungskampf erst kommt, daß der „deutsche Friede“ für Hitler ein taktisches Manöver ist auf dem Weg zur unverrückbar festgehaltenen Gleichschaltung, daß der Irrationalismus der Nazis sie zu unberechenbaren Ver- handlungs- und Vertragspartnern macht, daß Ekstatiker Verträge niemals halten, daß wir daher auf der

ganzen Linie unsere Vorkehrungen treffen müssen.

Wenn Hitler trotz der Deklamationen und Drohungen von Berchtesgaden nicht erreicht hat, was er wollte, so ist er heute dreimal so, gefährlich als vor drei Wochen. Damals waren seine Drohungen Bluffs, heute kann seine Enttäuschung ihn zu unberechenbaren Dingen treiben. Auch wenn er im Augenblick aus politischer Räson stille hält und es duldet, vor der ganzen Welt, seine eigenen Anhänger eingeschlossen, als „blamierter Europäer" dazustehen, so kann daraus nur geschlossen werden, daß seine Revanche dafür um so hemmungsloser sein wird, wenn wir ihm dazu die Möglichkeit lassen.

Man kann annehmen, daß Hitler rasch handeln muß. Seine Chance ist vorbei, wenn England und Italien sich verständigen, ebenso auch, wenn sie sich endgültig nicht verständigen. Es wäre wohl merkwürdig, wenn er diese kurze Zeit, die ihm gegeben ist, nicht benützen würde.

Die europäische Lage

Der neue außenpolitische Kurs Englands ist kein endgültiger. Er wird über kurz oder lang wieder einer anderen Orientierung weichen, wenn sich nämlich zeigen wird, daß auch Italien ein unberechenbarer Faktor ist, mit dem England ohne Kapitulation sich nicht ausgleichen kann.

Chamberlain ist der Exponent jener City-Kreise, die ihre ostasiatische Kapitalsinvestition zu retten glauben, wenn sie in Europa mit der Achse einen Waffenstillstand schließen. Gleichzeitig wollen diese Kreise zwar die Unterstützung Amerikas in Ost- asien, nicht aber die notwendig gewordene Machtteilung mit Amerika im Bereich des ganzen britischen Reiches. Die gegenteilige Auffassung repräsentiert die nachrückende englische Generation, die „progressiv“ ist (wie die amerikanischen Intellektuellen). Ebenso repräsentiert den gegenteiligen Standpunkt die Creme der englischen Politiker von rechts bis links. Dazu gehören Eden, Churchill, Lloyd George, Attlee, Stafford Cripps. Nach deren Meinung entscheidet sich das Schicksal des Empire in Europa, nicht in Ostasien. Wesentlich für die Zukunft des Empire aber ist nach dieser Auffassung das Bündnis (und die Machtteilung) mit Amerika, so daß England und Amerika gemeinsam das britische

Reich verteidigen. Es gibt Anhaltspunkte zu glauben, daß auch der englische Generalstab dieser Meinung ist. Von seinem Standpunkt aus stellt sich die gegenwärtige Zwischensituation als ein Zeitgewinn dar. Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung der demokratischen Welt tun die Demokratien die äußersten Schritte, um den Frieden zu erhalten. Wenn der Friede nach diesem Entgegenkommen nicht mehr zu erhalten ist, werden sie den Krieg im Bewußtsein ihres guten Willens mit äußerster Rücksichtslosigkeit und mit dem Einsatz aller Kräfte führen. Vom Standpunkt der englischen Innenpolitik ist Chamberlain auch der letzte Versuch rein konservativer Interessenpolitik und Führung. Nach wenigen Wochen vielleicht schon wird in England, parallel zur „Union sacrė“ Frankreichs, eine Einheitsfront von rechts bis links am Ruder sein, die über die Ideen der Volksfront hinausgehen, sie jedoch einschließen wird. Damit kommt auch neuerdings die Kooperation mit Amerika, die durch die Wendung Chamberlains auf kurze Zeit unterbrochen ist. Die englische und die österreichische Politik ist merkwürdig verflochten, so paradox das auch klingt. Bei uns kann man oft den Standpunkt hören: Wir können uns gegen Deutschland nicht behaupten, weil England keine Garantien für uns übernimmt

und uns, wie sich jetzt wieder gezeigt hat, im Ernstfall nicht hilft. Dieser Standpunkt ist falsch. England kann niemals einem Staat helfen, der sich nicht bis zum Äußersten selbst hilft. Es ist aber umgekehrt sicher, daß öffentliche Meinung, Regierung und Generalstab in England zwangsläufig in einen Konflikt hineingezogen würden, in dem sich ein angegriffener kleiner Staat, der im Zentrum des europäischen Bündnissystems steht, selbst hilft. Auch England glaubt, das Österreich in Berchtesgaden kapituliert hat. So paradox es auch klingen mag: die Schlacht, die England dadurch verlor,

zwang dazu, Eden zurückzuziehen und Chamberlain vorzuschicken.

Für den Außenstehenden macht die Entwicklung vom 12. zum 24. Februar den Eindruck, als ob Italien zuerst England die Niederlage von Berchtesgaden bereitet hätte, dann aber, als in

England die von Italien gewünschte Wendung kam, sofort auch wieder Deutschland eine noch entscheidendere Niederlage bereitete, indem es neuerdings die Unabhängigkeit Österreichs garantierte. Was in Österreich zwölf Tage lang psychologische Unsicherheit war, stellt sich vom Standpunkt Italiens als bewußter Macchia- vellismus dar, dessen hin- und hergeschobenes Objekt allerdings Österreich ist.

Auch wenn im Augenblick Italien wieder ein aktiverer Garant Österreichs ist, als es die Westmächte im Augenblick sein können, bleibt Italien unzuverlässig. Italien hat gewiß kein Interesse, Deutschland in Österreich Fuß fassen zu lassen, solange es noch eine Diplomatie des Friedens in Europa gibt. Solange Italien von England und Frankreich etwas erreichen zu können hofft, wird es Österreich gegen Deutschland schützen. Ebenso sicher ist aber auch, daß Italien uns in dem Augenblick preisgeben wird, sobald es im Bunde mit Deutschland zum letzten Absprung antreten würde. Diese letzte Möglichkeit ist infolge der Unheilbarkeit des englisch-italienischen (und französisch-deutschen) Gegensatzes, sofern die Demokratien nicht kapitulieren wollen, überaus wahrscheinlich, darf jedenfalls von Österreich nicht außer acht gelassen werden.

Aber auch in der bis dahin verbleibenden Zwischenzeit wird Italien nicht immer ganz fest bleiben, wenn es sich um Schritte der innerpolitischen Anpassung und außenpolitischen Gleichschaltung Österreichs handelt. Beides versteht Italien macchiavellistisch, ohne zu beachten, daß der Österreicher solche Dinge ernster nimmt. Italien hat überdies gewiß nur ein Interesse an der formalen Unabhängigkeit Österreichs. An derjenigen Unabhängigkeit, welche die Freiheit gegen die Diktatur stellt, haben nur die Westmächte ein Interesse.

1 Diese Parole wurde nach der am 12. Februar 193 8 stattgefundenen dramatischen Begegnung Hitler-Schuschnigg in Berchtesgaden ausgegeben. (Die Red.)

2 Große Rede Bundeskanzler Schuschniggs vor dem Bundesrat, die mit dem zündenden Appell „Bis in den Tod — rotweißrot“ schloß. (Die Red.)

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