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Europa und die Kriegsgefahr

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Besteht ernstlich die Gefahr eines neuen Krieges in nächster Zeit? Daß diese Frage heute, drei Jahre nach dem zweiten Weltkriege, alle denkenden und tätigen Menschen Europas und Amerikas in Atem hält, ist eine bedrückende und beschämende Tatsache. Fast noch bedenklicher erscheint uns dabei die Tatsache, daß die europäische Presse — oder sagen wir: ein namhafter Teil der europäischen Presse — sich mit dieser Lage der Dinge in einer Weise beschäftigt, als wäre das Verhängnis nicht aufzuhalten und als wäre es illusorisch, mit dem Geiste und der Feder dagegen zu kämpfen, ja, zuweilen sogar mit jenem vermessenen Unterton, als hätte man heute nur mehr zwischen einem Ende mit Schrek- ken und einem Schrecken ohne Ende zu wählen. Wenn nun auch die beängstigenden Rüstungen zweier gewaltiger Reiche jenen Schwarzsehern recht zu geben scheinen, die einen dritten Weltkrieg innerhalb der nächsten Jahre für unvermeidlich halten, so ist in Wirklichkeit die Situation noch lange nicht so hoffnungslos, wie sie allzuhäufig dargestellt wird. Gewiß ist es klug, bestehende Gefahren im richtigen Ausmaß beizeiten zu erkennen und sich nicht ein falsches Bild von den Verhältnissen zu machen, unter denen man zu leben und zu wirken hat. Aber sind denn die Menschen unseres Erdteils noch nicht genug geschreckt, haben sie nicht schon an ihren persönlichen Pflichten und an den Sorgen um ihre Nächsten so schwer zu tragen, daß es noch notwendig wäre, ihnen jeden Morgen de»

Teufel an die Wand zu malen und sie mit Darstellungen zu entmutigen, die über eine nützliche Warnung vor einem unbegründeten Optimismus weit hinausgehen?

Der Gang der Ereignisse war in den letzten Wochen gewiß nicht erfreulich, aber gerade in einer solchen Phase halten wir es für eine publizistische Pflicht, auf jene Kräfte hinzuweisen, die der Gefahr eines neuen Krieges entgegenwirken. Jeder Versuch, sich Rechenschaft von diesen Kräften zu geben, ist zugleich ein Beitrag zur Beruhigung der erregten öffentlichen Meinung.

Vor allem steht eines fest: Europa, das innerhalb eines Menschenalters zweimal die Schrecken und Verheerungen eines langen und schweren Krieges mit allen nachfolgenden Kümmernissen erlitten hat, ist kriegsmüde, ja politikmüde im höchsten Maße. Die Völker dieses gemarterten Erdteils lehnen daher den Krieg als Lösung welcher Probleme auch immer entschieden ab. Es kann keinem aufmerksamen Beobachter entgehen, daß die europäischen Nationen die Mitarbeit an dem großzügigen Marshall- Plane mit dem Wunsche begleiten, dadurch nicht in einen politisch-militärischen Block hineingezogen zu werden. Dies wird auch bei aller Werbung für eine europäis’che Union deutlich. Daß im Frühjahr der von Churchill angeregte Europakongreß in Den Haag mit einem enttäuschenden Ergebnis abgeschlossen wurde, hatte hauptsächlich seinen Grund in diesem Argwohn vor einer politischen Präjudizierung gegenüber der Möglichkeit eines neuen Weltkonflikts. Um es offen auszusprechen: es gibt in dem außerhalb des Ostblocks liegenden Europa kaum eine Regierung, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit ihren Sympathien nicht auf Seite der Vereinigten Staaten stünde; aber es gibt hier keine einzige Nation, die nicht den lebhaften Wunsch hegte, in einem äußersten Falle neutral zu bleiben, wenn dies nur irgendwie möglich wäre. Der schwedische Außenminister erklärte schon im vergangenen Winter im Stockholmer Parlament, Schweden wünsche sich an einer westeuropäischen Union nicht zu beteiligen, da es sich nicht der Möglichkeit berauben wolle, in einem künftigen Kriege seine Neutralität zu bewahren. Die Schweiz ist in der glücklichen Lage, sich auf ihre historische und international verbriefte Neutralität berufen zu können, und hat kürzlich beschlossen, die Teilnahme am Marshall-Plane nur mit dem Vorbehalte zu ratifizieren, daß das Land dadurch in keinen politischen Block gezogen werde. Warum sollten übrigens nicht auch andere Regierungen, die nicht das alte Vorrecht der Schweiz besitzen, ähnliche Vorbehalte durch ihre Parlamente aussprechen lassen?

Im ersten Stadium des Marshall-Plans trat der amerikanische Wunsch, Westeuropa in das Rüstungspotential der Vereinigten Staaten hereinzunehmen, in der Anregung einer Einbeziehung Spaniens — wegen der spanischen Erze — und in dem Vorschlag, Westdeutschland als selbständigen Staat zu organisieren — wegen der Bodenschätze der Ruhr — besonders auffällig in Erscheinung. Dem europäischen Sozialismus ist es gelungen, die Ausschaltung Spaniens durchzusetzen; der westdeutsche Sozialismus zeigt bis heute wenig Neigung, die Hand zu bieten, daß die westdeutsche Industrie ausschließlich als Lieferant der amerikanischen Rüstungen herangezogen werde. Hierin erweist sich der starke Einfluß des demokratischen Sozialismus Europas zugunsten des Friedens. In der Tat wäre dieser Sozialismus, der glücklicherweise im Begriffe ist, sich von früheren dogmatischen Bindungen loszusagen, unter den ersten Leidtragenden eines neuen Krieges. So entschieden er sich auch gegen jedes Diktat aus Moskau auflehnt, so wenig ist er bereit, einem kapitalistischen Imperialismus den Steigbügel zu halten.

Wenn hier von den Kräften gesprochen wird, die gegen die Entfesselung eines neuen Krieges wirken, muß auch des mächtigen Einflusses der katholischen Kirche gedacht werden. Gleich seinem zweiten Vorgänger Benedikt XV., dessen Friedensbemühungen während des ersten Weltkriegs zu den hellsten Seiten der Geschichte dieses Kriegs gehören, ist Pius XII. unermüdlich in seinen Ermahnungen an die Regierungen der Mächte, ihre Ansprüche zu mäßigen, von den Methoden der Gewalt abzulassen, auf der Suche nach Wegen der Verständigung nicht zu erlahmen und die Menschheit vor den unabsehbaren Folgen eines neuen Krieges zu bewahren. Dieses Wirken des Oberhauptes der katholischen Kirche wird auch von den protestantischen Kirchen, wie sich dies vor kurzem auf der Konferenz in Amsterdam zeigte, mit leidenschaftlichem Eifer unterstützt. In den starken religiösen Strömungen, die heute einen großen Teil der europäischen Jugend in ihrem Verhalten zu den öffentlichen Angelegenheiten und den Forderungen des Tages bestimmen, liegt eine weitere Gewähr dafür, daß die Fürsprecher gewaltsamer Lösungen immer mehr aus dem Felde gedrängt werden und der passive Widerstand gegen alle Versuche, die europäische öffentliche Meinung mit dem Gedanken einer solchen Lösung vertraut zu machen, sich immer stärker und bewußter ausbilde.

Man mag gegen eine zuversichtliche Auffassung dieser Art sagen, über Krieg und Frieden werde in letzter Instanz ein verschwindend kleiner Kreis von Menschen in Washington und Moskau entscheiden, trotz allen Schönredereien über demokratische Kontrolle, und die öffentliche Meinung in jenem Teile Europas, der dann noch als freies Europa würde bezeichnet werden könne, würde auf diese Entscheidung keinen Einfluß haben. Aber gerade das Gewicht dieser öffentlichen Meinung vorzeitig zu unterschätzen, wäre ein gefährlicher, schwerer Fehler der europäischen Regierungen, Parlamente und Gewerkschaften wie aller kirchlichen und intellektuellen Körperschaften, die gegenwärtig noch in der Lage sind, ihre politische Haltung gegenüber der internationalen Krise klar zu definieren, sie womöglich auf eine einheitliche Linie zu bringen und auch für nachdrückliche Kundgebungen zu sorgen. Man kann dem politischen Geiste des europäischen Abendlandes doch gewiß eine große Schule, Erfahrung und Reife nicht absprechen. Daher steht ihm wohl angesichts einer Gefahr, die dieses Europa noch einmal zum Schauplatz eines mörderischen Kampfes zu machen droht, das Recht auf Mitsprache und Mitbestimmung zu.

Es bedarf wahrlich nicht erst der Organisation von Rundfragen nach Art des Gallup-Instituts, um festzustellen, daß die öffentliche Meinung Europas einen Krieg ablehnt, ihm das Kompromiß vorzieht, daß sie von der Möglichkeit einer Verständigung über die heute die Welt in Spannung haltenden Probleme überzeugt ist, daß sie dagegen die Entfesselung des Atomkrieges nicht als ein wirksames oder gar als das einzige wirksame Mittel gegen eine geistige

Bewegung welcher Art auch immer ansieht. Sie wird sich einem Widerstand anschließen, der einem bewaffneten Angriffe auf die Freiheit des noch freien Europas entgegengesetzt werden müßte, aber sie hält es nicht für notwendig, daß ein solcher Widerstand gleich zu einem allgemeinen Kriege erweitert werde, vielmehr scheint es ihr geboten, daß man beizeiten die politischen und geistigen Voraussetzungen für eine Lokalisierung eventueller Kampfhandlungen schaffe." Unter allen Umständen weist die europäische öffentliche Meinung den Gedanken eines Präventivkrieges entschieden zurück, über den Bismarck, der gewiß nicht ein Mann der sanften Hand war, im Jahre 1887 in einem Augenblick der gefährlichsten Spannung zwischen den Regierungen von Wien und St. Petersburg an den deutschen Botschafter in Wien schrieb: „Wir würden einen Krieg niemals aus dem Grunde führen, weil es früher oder später wahrscheinlich doch zu einem solchen kommen würde. Niemand kann der göttlichen Vorsehung so weit vorgreifen, um dies mit unbedingter Sicherheit zu behaupten. Es können sich im Laufe der Zeit allerhand unberechenbare Vorfälle ereignen, die den Ausbruch des Krieges verhindern.“

Die amerikanische und die russische Regierung haben wiederholt ihre friedlichen Absichten erklärt. Diese Versicherungen verdienen uneingeschränkten Glauben. Wenn trotzdem von einer Kriegsgefahr gesprochen wird, so wäre die öffentliche Meinung dieses zunächst betroffenen Europas doch in erster Linie berufen, den Umfang und die Art der notwendigen Maßnahmen zu beurteilen, die gegen diese Gefahr zu er“ greifen wären. Danach müßte man es für die weitere Entwicklung als wesentlich mitbestimmend ansehen, daß sich die europäische öffentliche Meinung gegen jede kriegerische Lösung sträubt, sofern die Lage in Mitteleuropa zum Anlaß eines so fatalen Entschlusses genommen werden sollte.

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