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Offene Geheimnisse

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Wollte man ehemals etwas geheimhalten, so hüllte man sich in tiefstes Schweigen. Heute erreicht man — oft ungewollt — das gleiche Ergebnis mit Hilfe von Veröffentlichungen und Reklame. Die Öffentlichkeit bekommt über eine Sache so viel zu hören und zu sehen, daß ihr Hören und Sehen vergeht. Die eingehende Beschreibung der eigenartigsten Details und die fachmännische Schilderung der kleinsten technischen Finessen haben dazu geführt, daß das Publikum, dės Wissens müde, bloß die Titel sehen will, um geschwind weiterzublättem. Der Aufklärung und der Unterrichtung müde, bildet sich die Öffentlichkeit eine oberflächliche und oft pessimistische Ansicht, keine .Meinung“, und läßt sich das Wesentliche entgehen.

Der Wirrwarr, in dem sich im vergangenen Jahr die Tätigkeit der Politiker und der Experten abgespielt hat, war der unbeabsichtigten Verschleierung besonders günstig. Drei Problemkreise dürften aufs Alltagsleben des Europäers empfindliche Auswirkungen haben: die Vereinten Nationen, die atlantische Allianz

— also die Verteidigung Europas — und schließlich die Einigung Europas.

Mit klagender Stimme sagte man noch vor wenigen Jahren, die Vereinten Nationen seien „der letzte Salon, in dem man plaudert". Heute wird das gleiche mit einem hoffnungsvollen Lächeln festgestellt. Mit der Verschärfung der Weltspannung, dem Übergang vom kalten in den etwas wärmeren Krieg — man denke an Korea — haben die Vereinten Nationen an Bedeutung zugenommen. Ihre Stellungnahme im Koreakonflikt trug dazu bei. Zum ersten Male bewies eine internationale Organisation, daß sie entschlossen war, und auch die Mittel dazu hatte, die von ihr vertretenen Prinzipien auch mit der Waffe zu verteidigen.

Die Stärke und die Schwäche der UNO wird eben an Hand des Beispiels Korea offenbar. Sie war bis heute immer erfolgreich, wenn es sich entweder um lebenswichtige Probleme oder um Fragen von geringer Tragweite gehandelt hatte. In Korea wurde durch ihr Eingreifen vielleicht der dritte Weltkrieg verhindert. Und was wäre ohne ihr Auftreten in Palästina, in Kaschmir und in Indonesien geschehen? Die zahlreichen „technischen“ Übereinkommen, die auf dem Gebiet der Meteorologie, des Postwesens und anderen unter ihrer Ägide zustande gekommen sind, loben den Sinn fürs Praktische, den die Organisation in vielen Fällen an den Tag gelegt hat. Leider blieb sie in Problemen von mittlerem Gewicht, wie etwa der Bekämpfung der Guerillas, der Informationen über Armeen und ähnlichen, erfolglos. Und eben diese bilden die Mehrzahl ihrer Aufgaben.

Die UNO wurde gegründet, um als Richter und als Vermittler, als Forum und auch als Polizei das friedliche Zusammen leben der Völker zu garantieren. Heute messen sich auf ihrem Boden Diplomatie, Doktrinen und Propagandathesen, während sich zur gleichen Zeit Soldaten auf dem Kampffeld gegenüberstehen. Diese weitere Perspektive gab dem Motto über der Bühne des als Sitzungssaales benützten Theaters des Palais de Chaillot seinen vollen Sinn: „Die dramatische Handlung bewegt diesen Schauplatz der menschlichen Gemeinschaft“ (L'action drama- tique anime ce lieu de communion hu- maine). '

Es wäre falsch zu glauben, daß die Handlung von den .Großen" monopolisiert wird, Hochzivilisierte Staaten und Länder, in denen der Analphabetismus herrscht, haben die gleichen Stimmrechte.. Blödes, wie jener der mohammedanischen Staaten oder jener der Lateinamerikaner spielen wichtige Rollen und lassen die Sitzungen nicht zu bloßen Treffen des Westens und der Sowjetunion werden. Der Vorsitzende der sechsten Generalversammlung in Paris war der Mexikaner Padilla Nervo. Ein Drittel der sechzig Stimmen gehören den süd- und mittelamerikanischen Delegationen — obwohl die Bevölkerungszahl jener Staaten weni ger als 10 Prozent der Bevölkerungszahl aller Mitgliednationen beträgt. Und was die vom Sowjetblock so oft verdammte „automatische Mehrheit" anbelangt, so ist sie eine recht hypothetische Angelegenheit: am 25. Jänner hat die politischen Kommission mit 21 Stimmen gegen 12 (und 25 Stimmenthaltungen) gegen die amerikanische Opposition einen Sowjetvorschlag zur gleichzeitigen Aufnahme sämtlicher Kandidaten in die UNO angenommen. Zur Vorlage an die Generalversammlung wären allerdings 40 Stimmen nötig gewesen.

Die letzte Generalversammlung stand im Zeichen des „Erwachens“ der kleinen und mittleren Staaten, die unter anderem die Abschaffung des Vetos verlangen. Diese Tendenz mag trotz der besprochenen wichtigen Fragen — wie Entwaffnung, deutsche Wahlen — als die wichtigste Erscheinung dieser Tagung betrachtet werden.

Vom Nordkap bis zur Ostgrenze der Türkei erstreckt sich das Staatsgebiet der Unterzeichner der atlantischen Alltanz. Es hört aber zur Zeit bei den Pyrenäen und an der Gemarkung der Eidgenossenschaft auf. Das gesamte Problem der Verteidigung Europas ist in diesen Sätzen enthalten.

Der Gegenstand der atlantischen Allianz ist die Verteidigung Europas, jener Staaten des freien Europa, die bereit sind, ihre Freiheit selbst zu verteidigen, und es erwirkt haben, daß sich die Vereinigten Staaten bereits in Friedenszeiten zu dieser Verteidigung mitverpflichtet haben. Die Verteidigung Europas ist deshalb nicht nur ein militärisches Problem, sondern auch ein wirtschaftliches und ein politisches. Ein Problem der Verhältnisse der einzelnen Staaten zueinander und ihrer Beziehungen zu den USA.

Was sind die wesentlichsten Züge der tage? Sowohl Europa wie auch Amerika haben ihre Probleme — und diesseits wie jenseits des Atlantik sind es Probleme, die man lösen kann. Die Stärke des freien Europa ist heute bereits ein militärischer Faktor und wird sich mit den Jahren immer mehr erhöhen. Ein Teil dieser Leistungen wurde durch die amerikanische Unterstützung ermöglicht. Das meiste aber ist der Arbeit der europäischen Völker selbst zu verdanken. Europa hat nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit, Großes zu leisten — eine Erkenntnis, die in Ubersee verbreiteter ist als bei uns ...

Die atlantische Allianz ist eine V e r- teidigungsorganisation, und im Hauptquartier Eisenhowers in Marly- le-Roi arbeitet, man an keinen Angriffs planen gegen Rußland. Der Westen will in Frieden leben, ist aber entschlossen, sich zu verteidigen. Die Sowjetunion verfügt noch immer über eine beachtliche Übermacht, aber das Kräfteverhältnis hat sich bereits etwas gebessert. Den in Ostdeutschland und in Polen stationierten 26 Sowjetdivisionen stehen heute 18 atlantische Divisionen in Westdeutschland gegenüber. Ein sowjetischer Uber- raschungsüberfall kann heute nicht mehr über Nacht zum Erfolg führen. Damit ist das Ziel des Westens erreicht. Eine Bedrohung werden seine Streitkräfte jedoch für die Sowjetunion nicht bedeuten, die auf ihrem Staatsgebiet noch an die 150 Divisionen in Reserve hat.

Ist ein einiges Europa — sei es als Föderation oder aber als Konföderation — eine Utopie? Wenn ja, dann sitzen heute in allen europäischen Ländern Utopisten in den Schlüsselpositionen. Denn kein europäischer Staatsmann, der etwas auf sich hält, hat im Laufe der sechs vergangenen Jahre erklärt, daß er gegen die Einigung Europas wäre.

Daß diese Einigung eine Notwendigkeit ist, wurde gerade in Wien, von Coudenhove-Kalergi, auseinandergesetzt. Seitdem wurde diese These von Politikern, Soldaten und Volkswirtsdiaftlem untermauert. Selbst die allgemeine gegenwärtige Krise des Parlamentarismus weist auf die Notwendigkeit der Einigung hin. Woher stammt jene Krise? In den nationalen .Parlamenten können heute keine wichtigen Beschlüsse gefaßt werden, da sie eben nicht von den nationalen Parlamenten beschlossen werden können. Seit dem zweiten Weltkrieg sind die Probleme über den nationalen Rahmen hinausgewachsen und vermögen deshalb unmöglich von nationalen Instanzen gelöst zu werden!

Einen charakteristischen Beweis hat dafür der langjährige Minister und führende französische MRP-Politiker Pierre-

Henri T e i t g e n geliefert, der sagte: .Wenn wir im Ministerrat auf die zu erledigenden Probleme zu sprėchen kommen, so muß die französische Regierung in acht Fällen von zehn beschließen, auf internationale Verhandlungen einzugehen, weil die Frage im eigenstaatlichen Rahmen nicht mehr erledigt werden kann.“ Diese Feststellung mag auf die kleineren Länder noch mehr zutreffen.

Was der Einigung im Wege steht, heißt Souveränität", die Summe jener Vorrechte, deren .Genuß heute kein einziger — noch freierer — europäischer Staat allein verteidigen kann. Die Verfassungen Frankreichs, Italiens und Westdeutschlands sehen die Übertragung von Souveränitätsrechten auf internationale oder übernationale Instanzen ausdrück lich vor. Andere Verfassungen sind weniger weitblickend. Sie aufeinander abzustimmen, ist eine heikle Aufgabe. Dies war im Falle der europäischen Montanunion (Schuman-Plan) noch verhältnismäßig einfach. Es bedurfte aber aller Geschicklichkeit der. Diplomaten, um bei den Verhandlungen um die Europaarmee für die Belgier einen „modus vivendi" zu finden, da ihr Oberster Kriegsherr verfassungsmäßig der König ist, in dessen .Bereich nicht eingegriffen werden durfte. Je mehr sich der europäische Gedanke seiner Realisierung nähert, desto mehr werden sich Problemstellungen solcher und ähnlicher Art ergeben. Für sie eine Lösung zu finden, ist eine langwierige und schwierige Aufgabe, aber keineswegs eine Unmöglichkeit.

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