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Eurafrika, nicht Eurasien

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Im Vordergrund des politischen Zeitgeschehens stehen gegenwärtig die innerfranzö- sische Krise, die Gespanntheit des deutsch-französischen Verhältnisses und die labile Lage in der afrikanischen Mittelmeerzone. Nur ein Mangel an Atem und Kurzsichtigkeit, die wir Europäer uns gerade jetzt nicht gestatten sollten, Übersehen, daß im Hintergrund dieses Ringens sich wahrhaft große Horizonte eröffnen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine neue Einbeziehung Afrikas, infolgedessen auch um eine neue Selbstbestimmung der europäischen Nationen diesem Kontinent gegenüber, der an die Schwelle eines neuen Zeitalters tritt. Fiankreidi, England, Deutschland und Italien, letztere zunächst durch den Schuman-Plan, sind hier vor bedeutende Aufgaben und Arbeiten gestellt. Deren Erfolg, beziehungsweise Mißerfolg wird das künftige Gesicht Europas, eine Weltstellung mitbestimmen.

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Im Vordergrund des politischen Zeitgeschehens stehen gegenwärtig die innerfranzö- sische Krise, die Gespanntheit des deutsch-französischen Verhältnisses und die labile Lage in der afrikanischen Mittelmeerzone. Nur ein Mangel an Atem und Kurzsichtigkeit, die wir Europäer uns gerade jetzt nicht gestatten sollten, Übersehen, daß im Hintergrund dieses Ringens sich wahrhaft große Horizonte eröffnen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine neue Einbeziehung Afrikas, infolgedessen auch um eine neue Selbstbestimmung der europäischen Nationen diesem Kontinent gegenüber, der an die Schwelle eines neuen Zeitalters tritt. Fiankreidi, England, Deutschland und Italien, letztere zunächst durch den Schuman-Plan, sind hier vor bedeutende Aufgaben und Arbeiten gestellt. Deren Erfolg, beziehungsweise Mißerfolg wird das künftige Gesicht Europas, eine Weltstellung mitbestimmen.

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In der Weltpolitik sind Furcht und Hoffnung lebendige Kräfte, mit denen der verantwortliche Staatsmann rechnen muß. Furcht vor einem Ereignis zieht dieses herbei, und Hoffnung auf eine schöpferische Zusammenarbeit der Völker bahnt den Weg zum Frieden. Da6 neue Jahr hatte also gut angefangen. Die deutsche Ratifikation des Sdiuman-Plans gibt uns die Hoffnung, daß ein großes konstruktives Werk getan werden wird. Man kann es als eine Maschine bezeichnen, die die stärksten Energien der kontinentalen Wirtschaft aufnimmt, steigert und der Produktion zuführt. An dynamischen Kräften ist Europa nodi immer ebenso reich wie andere Teile der Welt. Aber wie die Kraft der weißen Kohle erst verwertbar wird, wenn man sie staut und lenkt, so auch die Energien Europas. Die Maschine, die bisher fehlte, ist nun in den Grundkonstruktionen errichtet und bald werden die Lenker dieser Maschinerie zu zeigen haben, daß sie sie auch richtig verwenden.

Im Besit?: eines solchen Gebildes können aber nun die produktivsten Völker von Westeuropa neues Vertrauen schöpfen. An Produktivität bleiben sie freilich noch weit hinter den Vereinigten Staaten zurück. Aber nichts rechtfertigt den defaitistischen Aberglauben, daß Europa, oder, leider, zunächst nur Westeuropa, nicht dasselbe leisten könnte wie die nach Amerika ausgewanderten Emigranten der Alten Welt. Das amerikanische „Wunder“ ist längst kein Wunder mehr, denn man kann es wiederholen, vielleicht sogar übertreffen, wenn man die gleichen Voraussetzungen schafft. Diese Voraussetzungen sind ein größerer, geschlossener Markt, als den europäischen Nationalstaaten zur Verfügung steht. Und dann werden wir sehen, ob die heutige, beschämende Relation lange fortbestehen wird, daß nämlich ein europäischer Arbeiter in 45 Stunden nur ein Fünftel von dem leistet, was ein amerikanischer in 40 Stunden zusammenbringt.

Freilich steht Europa noch unter dem Druck einer depressiven Einbildung. Auf der Landkarte sieht unser Resteuropa wie ein winziger Vorsprung des unermeßlichen Asien aus. Zwischen uns und Asien liegt Rußland, mit seinen in absehbarer Zeit 200 Millionen Einwohnern, dann folgt China mit seinen 470 Millionen — und diese ungeheure Menschenmasse könnte noch um hunderte Millionen vermehrt werden, deren Kampf gegen den Hunger der Bolschewismus für seine Zwecke verwendet. Ist da unsere Lage nicht hoffnungslos? Ganz anders sieht aber unsere Welt aus, wenn wir nicht in die falsche, sondern in die richtige Richtung schauen. Nicht horizontal nach Osten, sondern vertikal nach Süden. Warum sollten wir auch nach dem Osten blicken? Wir wollen Frieden mit allen Völkern der Erde und haben kein Recht und keine Möglichkeit, in diese Welt de Ostens einzugreifen. Auch wenn Europa ohntf einen West-Ost-Handel in seiner Produktivkraft verkürzt wird, hängt unser Schicksal von ihm nicht allein ab. Unsere Zukunft liegt weder im Osten noch, wie der unselige Wilhelm II. predigte, auf dem Wasser. Unsere Zukunft liegt in Europa, auf dem europäischen Kontinent und in Afrika. Nicht die eurasische, nur die eurafrikanische Konzeption verspricht uns Arbeit und Frieden.

Das afrikanische Hinterland Europas ist aber zu großen Teilen kein umstrittenes Gebiet. Der größere Teil dieses Kontinents steht unter der Souveränität kon- tinentaleuropäischer Staaten, in erster Linie Frankreichs. Und wenn diese Souveränität auch in höhere Formen der übernationalen Gemeinschaft umgewandelt werden soll, so besitzt Europa hier ein gewaltiges Schaffensgebiet. Rechnet man auch nur das Resteuropa de Schuman-Plans mit den Ländern, die ihm nicht angehören, ihn aber auch nicht bekämpfen, dazu, so sehen wir uns in ganz andere Dimensionen gestellt. Europa besitzt als Eurafrika eine Bevölkerung von etwa 240 Millionen Einwohnern, außerdem Rohstoffreserven und Anbaumöglichkeiten, die einfach unbegrenzt sind. Zählt man die Völker hinter dem Eisernen Vorhang dazu, so kommen wir auf 325 Millionen Einwohner mit einem gemeinsamen Produktions- und Konsumationsmarkt, der den amerikanischen, russischen und britischen weit übertrifft und alle echten Konflikte mit anderen Mächten ausschließt.

Afrika als Aufgabe des Schuman-Plan ist schon bei der Ankündigung des französischen Vorschlags als eine der wesentlichsten Konsequenzen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom französischen Außenminister bezeichnet worden. Das war weder ein Lockmittel noch eine Phrase, sondern schlichte Notwendigkeit. Man kann sie mit dem Worte ausdrücken: Frankreich ist nicht imstande, ohne deutsche und überhaupt ohne kontinentaleuropäische Hilfe die Quellen seines Reiches zu erschließen, es mit einer modernen Ausrüstung zu versehen, seine Bevölkerung zu entwickeln; aber Deutschland und alle anderen Länder des Kontinents können nur durch die Tore von Paris in diese ungeheuer reiche Welt der Zukunft einziehen. So ist es also auch ein eminent europäisches Interesse, die französische Souveränität über alle Gebiete, die heute als Französisch-Afrika bezeichnet werden, zu erhalten (das belgische und das portugiesische Afrika sind noch nicht bedroht) und keinen Bestrebungen Vorschub zu leisten, die die Union Franęaise zu zersplittern versuchen. Sollte Frankreich, nach Deutschland und Italien, seinen Kolonialbesitz auch noch verlieren, dann bliebe Europa freilich nichts anderes mehr übrig, als selbst Kolonialland mächtigerer Reiche zu werden, und dann hätte die letzte Stunde der europäischen Zivilisation geschlagen.

Eine Bedrohung Europas in Afrika liegt aber vor, denn Französisch-Afrika reizt Amerika ais Investitionsgebiet; es bildet für die alte Konzeption von Cecil Rhodes eines rein britischen Afrikas einen störenden Fleck auf der Landkarte; und die moderne abstrakte Tendenz, alle Kolonialgebiete in pseudounabhängige Staaten aufzulösen, spielt letzten Endes zugunsten der Stärkeren, das heißt der Angelsachsen. Eine russisch-bolschewistische Bedrohung steht demgegenüber heute noch im Hintergrund, und oft genüg ist von französischen Zeitungen, die me bolschewistische Tendenzen zugelassen haben, England als Gegenspieler Frankreichs in Nordafrika bezeichnet worden. Man hat in Paris nicht vergessen, daß Frankreich 1945 durch eine ultimative Forderung Churchills gezwungen wurde, Syrien und den Libanon zu räumen, und man erwartete seit damals, nicht vergeblich, daß die Arabische Liga, so viele Unannehmlichkeiten sie auch England bereiten mag, mit Vorstößen gegen Tunis, Algier, Marokko letzten Endes, bewußt oder nicht, im englischen Interesse handelt. Inzwischen hat der tunesische Nationalist Habib Bourguiba im britischen Rundfunk Anklagen gegen Frankreich auf Kurzwellen verbreitet; inzwischen hat England zur Nachfolge des trans jordanischen Operettenstaates Lybien „unabhängig“ gemacht und die italienischen Siedler vertrieben; inzwischen hat Südafrika den Aufstand in Madagaskar ausgelöst, den Frankreich mit der Brutalität, die immer ein Zeichen von Schwäche ist, niedergeschlagen hat.

Wie wenig diese erreichten oder angestrebten „Unabhängigkeiten“ von Staaten, die weder ökonomisch noch politisch reif sind, ihre Unabhängigkeit zu realisieren, der Weltlage entsprechen, zeigt ja gerade der Schuman-Plan. Was sollten wir von einem „unabhängigen“ Araberstaat halten, wo doch Frankreich, Deutschland, Italien Teile ihrer Souveränität auf eine gemeinsame neue Autorität übertragen, weil es keine unabhängigen National- oder Kleinstaaten mehr gibt, die alten wie die neuen unweigerlich in den Orbilus eines Imperiums hineingezogen werden, wenn sie nicht selbst in einem Imperium integriert werden? Wenn Frankreich seine Uberseegebiete n:cht in das kontinentaleuropäische Imperium’in Sicherheit bringen kann, werden sie unweigerlich der britischen, amerikanischen, chinesischen (Indochina) Imperialwirtschaft anheimfallen. (Rußland als fünfte Imperialmacht scheidet aus geographischen Gründen zunächst aus.) So könnte man die französisch-britischen Gegensätze in Afrika auf die Formel bringen: Beide Länder kämpfen diplomatisch gegeneinander, die Distinktion der afrikanischen Gebiete entweder für das europäische oder für das britische Commonwealth zu sichern. Ist diese Bestimmung einmal erfolgt, so ist sie nach menschlichem Ermessen für lange Zeit unwiderruflich. Die pseudounabhängigen Staaten geraten in das Magnetfeld der Sterlingoder sie bleiben im Gebiet der Francswährung (die später durch eine europäische Geldeinheit abgelöst werden könnte); oder aber gewinnt Amerika die Vorhand und beschlagnahmt für seine großen Investitionen die Rohstoffe Afrikas, wie zum Beispiel jetzt schon 87 Prozent des marokkanischen Kobalts, erhebliche Teile des Kupfers von Rhodesia, des südafrikanischen Goldes usw. nach den Vereinigten Staaten exportiert werden.

Die französische Bedrängnis, die Abhängigkeit. Englands vom Dollar und die Gegensätze zwischen dem Vereinigten Königreich und den unabhängigeren Staaten Afrikas wie Ägypten und Abessinien (das sich von England ab- und Amerika zuwendet) sind Symptome desselben Weltgese’ es, unter dem wir stehen: Nationalstaaten sind allein weder lebensfähig noch imstande, die zurückgebliebenen Gebiete allein zu entwickeln. In Afrika bereitet sich eine Interessenteilung vor, die sich gegen die Begehrlichkeiten der Mächtigeren durchsetzen wird. Die Kolonialgebiete der Kontinentalstaaten und die Englands lösen sich voneinander ab, um auf höherer Ebene zusammenzuarbeiten. Da die Kolonien nicht planmäßig verteilt, sondern in rohem Wettbewerb annektiert wurden, sind wechselseitige Abhängigkeiten übriggeblieben, die zu einer Zusammenarbeit von Eurafrika mit dem britischen Commonwealth zwingen. Nur mit britischer Zustimmung kann zum Beispiel Portugal Verbindungsbahnen zwischen Angola und Mozambique errichten, während wieder England in Rhodesien und Südafrika von den portugiesischen Häfen abhängen. Eine Frage, die allen Staaten Sorge bereitet, ist der Arbeitermangel. Wanderbewegungen der Neger zerreißen aber die alten Stammesbindungen und bedrohen den Afrikaner mit den unabsehbaren Folgen der Auflösung seiner kulturellen und hierarchischen Fundamente. Gerade deshalb ist Italien ein unentbehrlicher Faktor der afrikanischen Zukunft, denn es ist allen europäischen Staaten mit dem Angebot von zwei Millionen Auswanderern voraus, die afrikanische Wüsten in Fruchtgärten verwandeln könnten.

Die Menschenfrage wird in Afrika in absehbarer Zeit gelöst sein, wenn erst einmal die europäische Hygiene die Fruchtbarkeit der afrikanischen Völker zur vollen Auswirkung bringt. Heute braucht Afrika qualifizierte Arbeitskräfte, Kapital und einen gewaltigen industriellen Import zum Bau von Straßen, Eisenbahnen, Städten, Häfen, Energiewerken, zur Ausgrabung der Bodenschätze — Afrikas Rohstoffe sind unterirdisch. Daher braucht es die Industrie der Erz- Kohle-Union, das Kapital Amerikas, die Techniker und die Banken der Schweiz, es braucht Schweden, Holland und Belgien; es wartet auf die kolonisatorische Begabung Europas zur Realisierung eines eurafrikanischen Zehnjahresplans.

Ohne Afrika kann Europa seine Krisen nicht mehr überwinden; ohne Europa bleibt Afrika eine Wüste. Afrika kann verbinden, was in Europa getrennt ist. Und Europa, das wieder eine Weltmacht wird, ist ein Garant des Friedens. Wenn alle Völker Arbeit und Aufgaben haben, schwindet die Furcht, denn es gibt im Grunde nur zwei Kriegsgefahren: die Schwäche, die zur Aggression reizt, und die Stärke, der es an Betätigungsmöglichkeiten fehlt. In einer neu geordneten Welt ist unermeßlich viel zu tun; so werden beide Anlässe hinfällig.

Felix Stossinger

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