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Europa der Technokraten?

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Gemeinsamer Markt ... Freihandelszone ... Großeuropäische Möglichkeiten. Drei Stichworte der vergangenen Woche e i n Thema. Kein Zweifel: man spricht in Oesterreich wieder von Europa. Man spricht sogar in den letzten Wochen sehr viel davon. Kaum hatte Sir Reginald Maudling, seines Zeichens britischer Generalzahlmeister und Vorsitzender des inter-gouvernementalen Rates der OEEC, nach seinen Gesprächen das Flugzeug bestiegen, war Professor Hallstein, nunmehr Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zu einem Vortrag nach Wien gekommen.

Europäische Gespräche, europäische Initiativen ... Wie gleich die Worte, wie anders ihr Inhalt im Vergleich mit jenen der „Europajahre“ 1947, 1948 und 1949, von denen uns jetzt schon wieder ein Jahrzehnt trennt. Man schelte ihn nicht, den etwas naiven „Europäis-mus“, dem eine aus dem Krieg und der Verpflichtung auf immer fadenscheiniger werdende Ideale entlassene junge Generation damals huldigte. Für nicht wenige war die Emotion, mit der landauf, landab grüne Europafahnen gehißt, europäische Zeitungen gegründet und Grenzpfähle verbrannt wurden, der letzte Strohhalm vor dem Versinken in die Flut des geistigen Nihilismus und einer rein pragmatischen Lebensauffassung. Man schelte nicht, man lächle auch nicht nachsichtig und überlegen — man registriere aber nüchtern: das Europa; an dem 1958 die Wirtschafter und Technokraten zimmern, hat mit dem Europa der idealistischen Stürmer und Dränger von 1948 (der Gleichklang der Jahre 1848 und 1948 drängt sich einem unwillkürlich auf) nicht viel mehr gemeinsam als den Namen. Das muß noch kein Nachteil sein, soll aber doch einmal ausgesprochen werden.

Es geht uns hier keineswegs um eine Heroisierung der vor allem in ihren Ausläufern mitunter in reine Betriebsamkeit und oft auch Geschwätzigkeit ausartenden Kampagne in den .Jahren der schönen Not“ — wie ein deutscher Journalist die Zeit nach dem Krieg zu nennen beliebte —, in der noch alles in Gärung war und viele Möglichkeiten offenstanden.

Die Möglichkeiten haben sich inzwischen eingeschränkt. Die große Hürde quer durch den Kontinent erwies sich auch für die zähesten Europaenthusiasten als unübersteigbar. Aber auch westlich von ihr kam es zu Differenzierungen, die ihren Anfang mit der englischen Weigerung nahmen, die vielfältigen Verflechtungen mit dem Commonwealth zugunsten eines kontinentalen Engagements zurückstellen. Die skandinavischen Staaten folgten ebenfalls ihren geographischen und historischen Traditionen, als sie ihren Platz am Rande markierten. Zurück blieb das „Europa der Sechs“, wie die zunächst durch die Montanunion gebundene Deutsche Bundesrepublik, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten bald genannt wurden-Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie der Tod Alcide De Gasperis, dessen letzte Tage und Stunden von düsteren Gedanken über die Zukunft des mit Schuman und Adenauer begonnenen Werkes umwoben waren, beschlossen die zweite, schon etwas realistischere Epoche europäischer Hoffnungen und Enttäuschungen. Die konventionelle Straße

der Politik erwies sich als steinig und zur Stunde kaum passierbar, also begann man den Seitenpfad der Wirtschaft auszubauen. Er wurde in der Zwischenzeit zur Hauptverkehrsader aller europäischen Bestrebungen.

„Die Politik ist unser Schicksal.“ Napoleon hat es gesagt. Würde er um die Mitte des 20. Jahrhunderts leben, müßte er diese Maxime variieren. Die Wirtschaft ist unser Schicksal geworden. Allüberall auf der Welt und nicht zuletzt auf unserem Kontinent, dem Iten. Vor allern in jener Hälfte, die frei üjer ihr Geschick verfügen kann. Wirtschaft und Technik sind in Wirklichkeit die großen Zwei geworden, die in unser aller Leben unsichtbar, aber nicht weniger nachdrücklich eingreifen. Die von der Politik mehr als einmal verführten Menschen, ja die Politiker selbst, ordnen sich immer mehr der neuen Herrschaft, die ihre Gesichtszüge nur selten entschleiert, ohne große Hemmungen unter. Sie verspricht nicht nur Brot für alle. Sie gibt es auch. Ja sie gibt — zumindest bisher — auch noch die Butter dazu. Und nicht zu vergessen, die Spiele: den knatternden Motor, den Plattenspieler, den Fernsehempfänger ... Wo haben die Politik und ihre Männer dies in der Vergangenheit fertiggebracht? Kein Wunder, wenn sie in einem Anflug von Selbstbescheidung, was die Uebung der Macht betrifft, ins zweite Glied zurücktreten — mögen sie auch nach wie vor für die Massen vorne auf der Tribüne agieren. Diese letzten Endes undankbare Aufgabe wird ihnen auch in der Gegenwart nicht streitig gemacht.

AUfällige Schadenfreude, an dieser Stelle von linksaußen bekundet, kommt zu früh. Das hierfür vorhandene Denkklischee, nach welchem Politiker der westlichen Welt an den Fäden des mit den Symbolen seiner Klasse — Zigarre und Zylinder — unzweifelhaft versehenen Kapitalisten zappeln, gehört natürlich in den Trödelladen der Weltgeschichte. Den „Kapitalisten“ — mit oder ohne Zigarre und Zylinder

— gibt es nämlich in unseren Breiten nicht mehr. Wirtschaft und Kapital sind auf dem besten Wege, anonym zu werden.

Und hier sind wir auch schon wieder bei unserem Hauptthema. Die Männer, die gegenwärtig Hand anlegen an dem gigantischen Werk, Klammer auf Klammer zwischen den Volkswirtschaften der europäischen Staaten schmieden und dieselben — wie es in der Fachsprache heißt

— „integrieren“, leisten eine historische Aufgabe. Ihr Werk soll nicht geschmälert werden. Allein es ist etwas Eigenartiges mit Ideen, die man unbeaufsichtigt auf die Straße läßt... Manchmal sind ihre Eltern dann entsetzt, wenn sie sie nach langer.— nach zu langer Zeit der Trennung

— wiedersehen. Mitunter leugnen sie dann sogar die Vaterschaft. Dieses bittere Schicksal möchten wir den „Europäern der ersten Stunde“ und uns allen gerne ersparen.

Der Versuch, zur Ueberwindung der unheilvollen europäischen Zerrissenheit vergangener Jahrzehnte den Weg über die Wirtschaft zu nehmen, ist gut und zum Beschreiten einladend. Man wird aber gut tun, ihn nur mit hellwachen Augen zu begehen und dem Primat der Politik nicht den Abschied zu geben. Der Politik als der schöpferischen

Gestaltung von Freiheitsräumen, die auf ihre Einwohner und ihre Nachbarn anziehend wirken. Primat der Politik, der schöpferischen Freiheit, was nicht gleichbedeutend ist mit einem Primat des Politisierens — und, möglicherweise, des Verwirtschaftens großer, offener Möglichkeiten. Die Gefahr, daß sich heute die Politiker und die durch sie vertretenen Völker in die Abhängigkeit einer internationalen Techno-kratie und Bürokratie begeben, ist nicht von der Hand zu weisen. Neue, vielfach anonyme Mächte sind im Entstehen. Das Geld kennt noch immer nicht das Wort Vaterland, und nirgends steht es geschrieben, daß über Orwells grausiger Zukunftsvision von 1984 die rote Fahne des Kommunismus wehen muß.

Haben wir kein besseres Wort des Weggeleites für das Europa, an dem nach dem Versagen der Politik die Wirtschaft und ihre Männer bauen? Nicht der ist ein Freund des Wander;rs, der ;hm vor dem schwierigen Aufstieg auf einen Gipfel

einen gefahrlosen, schattigen Weg verheißt, statt ihm auf der Karte zu zeigen, wo Abgründe drohen und wo man sich vor Steinschlag in acht nehmen muß.

Oesterreich rüste't sich, an der europäischen Freihandelszone teilzunehmen. Die ersten Gespräche werden den dafür verantwortlichen Männern die Chancen, aber auch die Risiken für unsere Volkswirtschaft sowie für die delikate politische Situation unseres Staates vor Augen geführt haben. Und doch dürfte es zunächst nur die über dem Wasser sichtbare Spitze des Eisberges gewesen sein, die sich den Männern auf der Kommandobrücke zeigte. Der Kurs ist klar. Von ihm soll nicht abgewichen werden. Allein es wird sich empfehlen, die Maschinen zu drosseln und vorsichtig zu manövrieren. Die Sicherheit des Staatsschiffes, das Wohl seiner Menschen in naher und ferner Zukunft steht auf dem Spiel.

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