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Zitadelle des Westens

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Zu der fatalen Ähnlichkeit, die der jetzige west-östliche Disput mit der Auseinandersetzung zwischen den Nationalsozialisten upd den Anhängern parlamentarischer Staats- und abendländischer Lebensformen angenommen hat, gehört ein Gefühl, daß der Osten — wie voyihm die Deutschen — im Grunde genommen klarere Vorstellungen habe, daß seine Antworten weniger unterschiedlich, weniger tastend und zögernd, kurz, viel einprägsamer seien.

„Man kann sagen, was man will“, hört man manchmal bemerken. „Aber diese Leute wissen wenigstens, worum es geht!“

Als auf der Breslauer Konferenz Julian Huxley als Vorsitzender, ohne Glocke oder sonstige Mittel, sich Gehör zu verschaffen suchte, die endlosen, alle Zeitvereinbarungen brechenden Tiraden Ilja Ehrenburgscher Dialektik über sich ergehen lassen mußte, hatten manche der Anwesenden das Gefühl, daß dies’ für den Stand der Dinge kennzeichnend sei. Man muß sich nun darüber klar werden, daß eine solche Überlegenheit immer dann anzu treffen ist, wenn eine relativ junge „Ideologie“ gegen eine alte Ordnung antritt, deren Werte längst in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wenn im Verlauf des Kampfes gegen das Dritte Reich -und seine Verbündeten der Versuch gemacht wurde, die „westlichen Werte“ dem Verständnis der Massen nahezubringen, so geschah dies nicht aus dem Erkennen, daß die Phraseologie der Schulungskurse den tiefen Bindungen einer in Jahrhunderten gewachsenen Gemeinschaft überlegen sei; es handelte sich vielmehr darum, die Zögernden und Zaudernden auf der ganzen Welt zu überzeugen. Man wollte Missionäre heranbilden, nicht auf der eigenen Insel konvertieren. Im Zeitpunkt der größten Schwäche, nach Dünkirchen, wurde daher von den „westlichen Werten“ am wenigsten gesprochen. Der Bucherfolg dieser Monate war „This above all", der Roman eines Deserteurs, in dem weder die sozialen noch die militärischen Zustände Großbritanniens in einem sehr anziehenden Licht geschildert wurden. Erst mit der Besserung der Lage wuchs das Interesse. Indes hielt man die Gewalten des Dritten Reiches für eine Ausdrucksform des Bösen schlechthin, ihren Repräsentanten gegenüber den britischen Standpunkt zu vertreten, konnte man getrost den Leuten vom Informationsministerium und B. B. C. überlassen.

Als sich jedoch zeigte, daß die Kraft des Westens auch in der Nachkriegswelt gegen einen Damm fluten muß, hinter dem sich andere Ideen und Werte, verbergen, wurde die Beschäftigung mit ihrer Eigengesetzlichkeit ine Angelegenheit der Nation. Welch weiter Bogen überspannt daher in der Diskussion über „Western values“ die Unterschiede der Herkunft, des Talents, der Ausdrucksform und des sozialen Konzepts! Mit Charles Morgans kostbaren Essays Reflections in a Mirror weht ein Hauch von Tradition und Besinnlichkeit in den Alltag, der die Erinnerung an altenglische Landsitze erweckt, Arthur Koestler spricht in knappen, atemlosen Sätzen, als riefe er einem etwas über den Stacheldraht von Le Vernet zu, in F. A. Hayeks Schriften kommt die nüchterne Sprache der „London School of Economics“ zum Durchbruch, dazwischen klingt wie die Klage eines dreiundzwanzigjährigen Lebens, das in den Luftkämpfen über Großbritannien hart und gläubig geworden, Richard Hillarys „The Last Enemy" auf, oder wie ein Gongschlag archaisch-einfach ein Churchill-Wort.

Dabei zeigt es sich, daß jene Schriftsteller die größte Resonanz finden, die auf dem trennenden Damm gestanden sind und wenigstens einen Blick in das Land totalitärer Staats- und Gesellschaftsformen geworfen haben. Ihnen traut man zu, vollgültige Vergleiche zu ziehen und die Gewalten auf beiden Seiten messen zu können. Lord Vonsittarts „Events and Shadows" fasziniert durch die aristokratische Kom- promißlosigkeit, aber die Tatsache, daß man in der internationalen Brigade gekämpft oder die Hungerjahre der Ukraine aus eigener Erfahrung schildern kann, schafft ein anderes Vertrauensverhältnis, und man muß sich nicht erst um einen Beweis bemühen, daß man nicht liebt, weil man besitzen will.

Koestler hat zur Popularisierung westlichen Gedankengutes durch eine Reihe von Essays beigetragen. Für ihn ist die gegenwärtige Spannung der Ausdruck eines sich ständig erneuernden Konflikts. Bereits im Jahre 1942, als das Problem Ost-West noch keinesfalls aktuell war, schrieb er:

„An einem Ende des Spektrums, es ist offensichtlich das Infrarote, sehen wir den Kommissar. Er glaubt an Veränderung von außen. Alle Plagen der Menschheit… können und werden, seiner Ansicht nach, durch Revolution, das heißt durch radikale Veränderung des Produktion- und Verteilungssystems behoben. Diese Ziel heiligt alle Mittel. Logische Erwägungen sind ein unfehlbarer Kompaß, dasUniversum ein.riesiges Uhrwerk, in dem eine große Anzahl von Elektronen für immer in vorauszusehenden Bahnen rotieren müssen, so man sie einmal in Bewegung setzt.

Am anderen Ende des Spektrums, wo die Wellen kurz werden und eine hohe Frequenz annehmen, finden wir im Ultraviolett schmelzend den Joghl. Er erhebt keine Einwendung, wenn man das Universum mit einem Uhrwerk vergleicht, seiner Ansicht nach könnte man es ebensogut einen Leierkasten oder einen Fischteich nennen. Br ist der Ansicht, daß nur die Mittel zählen. Gewalt lehnt er unter allen Umständen ab. Er ist der Überzeugung, daß logisch Erwägungen ihre Kompaßfunktion gerade dann einbüßen, wenn man sich dem magnetischen Pol der Wahrheit oder dem Absoluten nähert. Er ist fernerhin der Ansicht, daß nichts durch äußere Organisation, alles aber durch aus dem Inneren stömende Kräfte geschehen kann.“

Während sich Koestler im wesentlichen mit den Kräften beschäftigt, die die westliche Welt von außen her aufzulösen drohen in dieser Hinsicht wäre er also den Kommissaren zuzuzählen, setzt sich ein anderer Schriftsteller, fder ebenfalls von jenem linken Flügel kommt, den der weite Mantel der Labour-Party eben noch bedeckt, mit der Gefahr einer inneren Sepsis auseinander. Der Name dieses Joghis ist Victor G o 1- knez. Schriftsteller, Humanist, Angehöriger der von den Deutschen so grausam verfolgten Rasse und einer der ersten, der sich mit überwältigendem Elan um Hilfsaktionen für die Menschen des Trümmer- staates bemühte, hat ler in seiner Schrift „Our threatened Values“, „Unsere bedrohten Werte", ein Werk geschaffen, das einer großen Zahl von Europäern zu einem demokratischen Brevier geworden ist.

Gollancz stellt in den Mittelpunkt seiner Betrachtung die Achtung vor der Persönlichkeit — und durch die Herzkammer dieses Begriffes gehen ja auch wirklich alle Blutlinien abendländischen Denkens.

Nachdem er die religiösen Voraussetzungen gestreift hat, versucht er die Frage noch aus dem kantisch-leeren Raum zu beantworten:

„Ich erkenne würde ein nicht religiös gebundener Mensch sagen mit einem von logischen Erwägungen unabhängigen Gefühl Zwingender Notwendigkeit, daß die Welt nichts mir wirklich Gleiches kennt, ich fühle mich als ein Lebewesen ,in Ins own right. Eine innere Zitadelle gibt es in mir, die immer unverletzlich bleiben muß. Aus dieser Erkenntnis verstehe ich durch die Vorstellungskraft des Mitgefühls, daß diese Wahrheit nicht nur für mich, sondern auch für andere gilt: jedes Menschenwesen ist einzigartig und umschließt eine heilige Zitadelle. Ich muß also unter allen Umständen das in anderen achten, was ich, aus dem Urgrund meines Seins, in mir geachtet wissen will.“

Ein wenig später aber setzt Gollancz einen Satz hinzu, der den fundamentalen Unterschied zu dem kollektivistischen Denken andeutet:

„Die ideale Gesellschaft ist jene, in der vollentwickelte Persönlichkeiten, die in sich einen inneren Kern unangreifbarer Einsamkeit tragen, auf der Basis der Freiwilligkeit Zusammenarbeiten“.

Nach solchen Klarstellungen werden die Verfehlungen gegen den Persönlichkeitsbegriff, die von der westlichen Welt selbst begangen werden, dem Leser unterbreitet. Da? Material macht im ersten Augenblick den Eindruck der Zufälligkeit, verdichtet sich aber immer mehr. Niemand wird geschont, kein Aspekt scheint übersehen worden zu sein. Aussprüche Montgomerys werden aufgegriffen, die Unmenschlichkeit im Verfahren gegen Laval wird notiert, die Brandmarkung französischer Frauen, die während der Okkupation deutsche Freunde gehabt, entgeht ebensowenig seiner Aufmerksamkeit wie die unkultivierte Gewohnheit von „Hunnen“ zu sprechen oder das schlechtverhohlene Triumphieren über den Untergang der englischen Renegaten Joyce und Amery. Schließlich, und hier scheint die anklagende Stimme an Wucht zu gewinnen, kommt er auch zu dem langen Verschweigen all ‘dessen, was Hun- derttausenden in den Nachfolgestaaten an Unmenschlichkeit geschehen ist. Wenn Koestler an einem Ende des Spektrums den Joghi, am anderen den Kommissar sieht, so gebraucht Gollancz ein ähnliches Bild, in dem die Gegenpole jedoch St. Franziskus und Streicher sind. Aber auch Streicher, so insistiert Gollancz, hat eine innere Zitadelle, die nicht verletzt werden darf;’ wenn wir nicht auch noch in ihm die Persönlichkeit achten, dann wird eines Tages auch unsere eigene innere Zitadelle überflutet- werden.

Es ergibt sich die Frage nach Vorteil und Gefahr einer solchen Popularisierung westlicher Werte. Das Positive liegt in der Tatsache, daß man die Werte einer Welt licht hcrausarbeiten- kann, ohne gleichzeitig dem Gefühl von Verpflichtung einen mäht.;en Auftrieb zü verleihen.

Die Gefahr ist verwickelterer Natur: sie liegt in den Irrtümern und Mißverständnissen, die sich mit einer solchen Popularisierung immer einzustellen drohen. Zunächst Mißverständnisse über die allgemein abendländische, dann Mißverständnisse über die englische Geschichte im besonderen. Die westlichen Werte sind natürlich ebensowenig dem konstanten Bemühen und einheitlichen Wollen abendländischer Staatsmänner und Politiker zu verdanken, wie- die Überwindung der „inneren Einsamkeit" eines der Ziele der russischen Revolution war. Die Geschichte Mittel- und Westeuropas läßt vielmehr den Schluß’ zu, daß sie sich meist trotz dem Wirken der Staatskanzleien, wie eine kristallklare Ursubstanz, durch immer wiederkehrende Mirakel .erhalten habe. Dis besondere englische Mißverständnis aber besteht in einer Neigung, das britische Eingreifen in die europäische Geschichte, besonders seit den Befreiungskriegen, allzusehr nach seinen wohlmeinenden Absichten und allzuwenig nach seinen Folgen zu beurteilen. In Wahrheit haben englische Staatsmänner seit dem Sturz Castlereaghs dem Todfeind der inneren Zitadelle in Europa, Nationalismus war ein Name, immer wieder in den Sattel geholfen. Zur Zeit Cannings war hinter diesem Versuch wenigstens noch ein großes Konzept zu verspüren, und die liberalistische Maske des Nationalismus saß noch sehr fest. Allerdings hat sie weder Goethe, der von der „noch unschuldigen Vorform — etwas Schrecklichen" sprach, noch Grillparzer, der das Wort „Von der Humanität Zur Nationalität und von der Nationalität zur Bestialität" prägte, täuschen können.’ Später verflachte das Niveau immer mehr, und mit. Männern wie Widdum Steed war es auf die Geisteshöhe verhetzter Dorfschullehrer herabgesunken. Während also in England die westlichen Werte durch die Zeit der industriellen Revolution bewahrt wurden, an sich eine große Leistung, ja sich bald noch klarer herauskristallisierten, trüg man dazu bei, sie auf dem Kontinent zu zerschlagen. Tragischer Gegensatz zwischen den nach außen und innen strömenden Impulsen.

Aus ,den geschichtlichen Mißverständnissen, aber leitet sich eine weitere Gefahr ab:, die der Vermischung der verschiedensten Strö-. mungen. Man dient der abendländischen Sache nicht, wenn man etwa die Unterschiede zwischen der rein christlichen und rein humanistischen Auffassung leugnet. Es besteht kein Bedarf für eine „Ges. m. b. H. westlicher Werte", in deren Aufsichtsrat Freimaurer neben Geistlichen und Anhänger der Oxfordbewegung neben Presbyterianern und Stei-. nerschen Theosophen sitzen. Solidarität, nicht Gleichschaltung tt die e i n z i g m ö g 1 i c h e L ö s u n g. Man soll Geistestraditionen, die klaren Quellen, zu vergleichen sind, fassen, sie aber nicht zu einem trüben Sammelbecken leiten wollen. Da Verbindende der Persönlichkeit allein soll und kann die notwendigen Querverbindungen herstellen. In einer atlantischen Dogmenwelt würden sich die „west-, liehen Werte“ schneller zersetzen als vereinen.

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