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Der nächste Schritt

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Es geschah in München. Von der Welturaufführung der Oper Paul Hindemiths „Die Harmonie der Welt” wird verzeichnet, sie habe vor einer viel größeren Oeffentlichkeit stattgefunden, als es das festlich gekleidete Publikum im Münchner Prinzregententheater an diesem Abend gewesen sei. Durch die Rundfunkstatio- nen von Kairo bis Mexiko, von Prag bis Warschau seien es „Millionen in Ost und West” gewesen, die Hindemiths Oper miterleben gönnten.

Das Interesse der Radiostationen von Prag, Warschau oder Budapest an den großen kulturellen Veranstaltungen Wiens, Münchens oder Bayreuths ist weder neu noch unbekannt. Der Grund, warum jetzt Zeitungen in Deutsch-, land auf dieses Interesse besonders hinwiesen, liegt darin, daß die Kluft zwischen der. eine weltweite Harmonie vortäuschenden Zusammenarbeit der Rundfunkstationen und der rauhen Wirklichkeit schon lange nicht mehr so augenfällig war wie heute.

Diese Wirklichkeit ist durch die Lage in und um Deutschland, in Ungarn und schließlich bei der sich bedenklich langsam dahinschleppenden Londoner Abrüstungskonferenz gekennzeichnet. Nein: an der Welt von heute ändern gemeinschaftlich durchgeführte Radiosendungen nichts. Trotzdem muß die überaus heikle, weil gefährliche Zonen der Politik berührende Frage der fehlenden Kontakte mit den Oststaaten auch heute immer wieder untersucht werden. In Wirklichkeit bestehen nämlich „Kontakte” — ob man es will oder nicht - in der Propaganda durch die Aetherwellen und der geheimnisvollen Art, Halbwüchsige in Moskau und sogar in ferneren Gegenden über Kleider- und Haarmode, Sitten und Gewohnheiten anderer Halbwüchsigen in New York, London oder Wien zu orientieren…. Sollen diese Botschaften aus dem Westen die einzigen bleiben, welche die Menschen in den kommunistischen Staaten erreichen?

Es ist wohl in den letzten Jahren bekanntgeworden, daß es neben den westlichen Propagandasendungen durch das Radio, die man lange für die einzige Form der Einflußnahme auf die Bevölkerung der Ostblockstaaten wähnte, auch noch andere Wege und Kanäle gibt, die, ähnlich wie die endlosen Karawanenwege des Altertums und des Mittelalters, nur diesmal meist in verkehrter Richtung, Kulturgüter aller Art von West nach Ost weiterbefördern. Das ist die eine, und man könnte sagen, natürliche Art der kulturellen Beziehungen, die nicht geplant und kaum kontrolliert werden kann. Nun ist es gut zu wissen, daß es diese Wege gibt und daß durch sie manchmal auch „gute Ware” den „Konsumenten” in der Ferne erreichen kann. Es ist aber doch so, daß auf dem schwarzen Markt in Bukarest oder in Kiew nur selten literarische Neuausgaben aus dem Westen und meistens doch nur Illustrierte, Modejournale, Zigaretten, Getränke und höchstens noch Wildwestfilme gehandelt werden. Diese Sendboten des Westens kommen also der Neugier, der Sehnsucht nach der fernen und vielleicht besseren Welt und jedem noch höheren Interesse nur in sehr unvollkommener Weise entgegen.

Das gilt auch für die meisten nach dem Osten gerichteten Sendungen westlicher Radiozentren. Sie sind in ihrer Mehrzahl nicht die wahre Stimme Europas, während die Menschen, an die sie sich wenden, in ihrer Denkungsart und ihrem ganzen Wesen nach ausschließlich europäisch sind und etwas anderes gar nicht kennen. Eine alles vereinfachende Propagandatechnik tut ein übriges. Die daraus entstehenden Mißverständnisse haben schon oft Unheil gestiftet und sie können größeres noch anrichten. Aber selbst wenn das nicht eintrifft, werden die Hörer dieser Radiosendungen nach jahrelanger Beeinflussung nicht mehr imstande sein, die wahren, alles andere als einfachen und manchmal recht wenig „attraktiven” Probleme unserer Welt, vor allem unseres Europas, zu erkennen und ihre Erwartungen darnach abzustimmen. Dieses Bild einer doppelt fehlgeleiteten osteuropäischen Menschheit hat sich im Laufe der Ereignisse in Ungarn im vergangenen Herbst in wahrhaft erschütternder Weise als wahr erwiesen. Anderswo, etwa in Polen, war das Bild zufriedenstellender. Wieder anderswo ist die Rechnung noch offen. Es ist also spät, aber noch nicht zu spät, die Aufgaben. die der Westen nach der Niederlage aller westlichen Rundfunkpolitik im Lichte der Ereignisse in Budapest nach wie vor zu lösen hat, erneut durchzudenken.

Ignazio Silone. der bekannte italienische Romancier, der gegenüber dem Kommunismus eine sehr klare und wohldurchdachte Position bezieht und dessen offene Sprache seinen kommunistischen Gesprächspartnern schon ebensoviel Verlegenheit wie Aergernis bereitete, sagte auf Befragen durch eine französische Wochenzeitung vor kurzem: Der Kommunismus in den Oststaaten verdanke seine geistige Monopolstellung allein dem Eisernen Vorhang. „Diejenigen, die sich bei uns der Aufnahme kultureller Beziehungen mit den Völkern des Ostens widersetzen, müssen wissen, daß sie der geistigen Monopolstellung der Diktatur einen großen Dienst erweisen. Glücklicherweise weht der Geist wo er will…”

Diesen Worten Silones ist nichts hinzuzufügen, bloß der letzte Satz, das Bibelwort, bedarf noch der Fortsetzung. Es ist nämlich auf kurze Sicht, die jedoch von einer von humanitären Gesichtspunkten geleiteten Politik nicht vernachlässigt werden darf, keinesfalls gleichgültig, ob die Menschen von drüben, statt wertvoller Zeugnisse europäischer Selbstkritik in Wort und Schrift, bloß die letzten Schall- platten berühmter Jazzsänger und die Witzeleien oder Schimpftiraden verschiedener Kommentatoren kennenlernen. Es ist nicht dasselbe, sie mit den schmerzlichen, fast unlösbar scheinenden Problemen unserer immer kleiner werdenden Welt vertraut zu machen oder ihnen Patentlösungen, deren Verwirklichung angeblich nur die Russen verhindern, vorzugaukeln. Es ist der reiflichen Lieberlegung wert, welches Bild vom Menschen, von der freien Welt ihnen als nachahmenswert hingestellt wird, welche Instinkte, Erinnerungen und intellektuelle Denkmechanismen dabei angesprochen werden. Und es ist schließlich notwendig, zu wissen, daß, während das Einströmen guter Einflüsse — nicht zuletzt auch durch Maßnahmen westlicher Instanzen — auf ein Minimum abgeschnürt wird, die schlechten Einflüsse erfahrungsgemäß ungehindert durchkommen und ihr Zerstörungswerk in den Seelen, in ungewollter Partnerschaft mit den kommunistischen Einflüssen, fortsetzen.

Die Lösung d:eses Problems kann aber nicht von einer staatlichen Kulturpolitik allein kommen, besonders dann nicht, wenn diese irgendwo noch nationalistisch orientiert sein sollte oder sonst noch von Traditionen und Traditionsfloskeln der einstigen Machtpolitik, deren Handlangerin sie war, zehrte. Es ist vielmehr notwendig, in Gesprächen und Diskussionen, die in letzter Zeit erfreulicherweise auch in Oesterreich, besonders in der jüngeren Generation, allenthalben stattfinden, neue Wege zu suchen. Es gilt vor allem, vor jeder — zeitweilig noch von den Kommunisten kontrollierten — Begegnung mit den Mitmenschen von drüben die Grundelemente freizulegen, auf welche die Begegnung letztlich hinzielen muß. Diese Grundelemente, werden sie richtig gewählt, beziehen sich alle auf den Menschen selbst, der in seinem ganzen Gefährdetsein und zugleich mit seinen ihm von Gott gegebenen Möglichkeiten, sein Schicksal zu formen und zu meistern, dargestellt werden soll. Die Mittel dazu können so vielfältig sein wie die Kunst und die Literatur es selbst sind.

Konkret gesprochen: Wenn ein Theater aus London oder aus Wien nach Prag oder nach Warschau fährt, uni dort Gastspiele zu geben, dann ist es notwendig, das aufzuführende Stück gut zu wählen — wie dies in diesem Frühsommer die unter anderem auch in Belgrad und Warschau gastierende Shakespeare Memorial Theatre Company mit „Titus Andronicus” getan hat —, sonst wäre es besser, wenn die Reise unterbliebe. Die Skala der seelischen Wirkungen, die etwa von dem genannten shakespearischen Frühwerk ausgehen, von dem meisterhaften Griff des Dichters, mit dem er den Menschen in seiner Anfälligkeit den „Schrecken und Aengsten der Zeit” gegenüber schonungslos bloßlegt, oder die sich bei den „zeitlosen”, weil nie aktuell gewesenen Konversationsstücken und Lustspielen, mit denen andere berühmte Theater auf Gastspiele zu reisen pflegen, unweigerlich einstellen, diese guten oder weniger erstrebenswerten Wirkungen können schön an Hand der Pressemeldungen meistens wahrheitsgetreu registriert werden.

Die Möglichkeit, die Menschen von drüben wirklich ergreifend anzusprechen — und damit ihnen zu helfen, sich selbst zu finden —, wird also selbst bei den sporadisch stattfindenden Gastspielen westlicher Theater in Ostblockländern zu selten genützt. Der Austausch von Büchern, Kunstausstellungen könnte vielleicht nachhaltiger, in einem breiteren Kreis wirken. Der Hunger nach westlicher, besonders nach geisteswissenschaftlicher Fachliteratur ist in Akademikerkreisen in den Oststaaten riesengroß. Und man hat dabei den Eindruck — und auch drüben haben viele den Eindruck —, daß gerade auf diesem Gebiet von uns noch manches versucht werden könnte und müßte.

Die Franzosen schickten in diesem Jahr kistenweise Bücher an Bibliotheken in die Oststaaten. Wie man es aus guter Quelle hört, sind diese Bücher für Interessenten zugänglich. In Oesterreich i t die Meinung noch weit verbreitet, daß jede solche Sendung und überhaupt jede Fühlungnahme ,,das dortige Regime stärkt” und „den Menschen, die unter diesem Regime leiden, in den Rücken fällt”. Diejenigen, die solchen Behauptungen Glauben schenken, scheinen zu vergessen, daß das Leiden unter einem Regime viele Stufen und Offenbarungsformen haben kann und daß dabei der Mensch und somit auch sein Geist nicht aufhörten zu leben und ihre Bedürfnisse dem Heute anzumelden. Nur besonders veranlagte Menschen, denen in bestimmten Fällen freilich Achtung gebührt, sind gewillt, auf jeden geistigen Kontakt mit der westlichen Welt zu verzichten, nur damit der eigenen Regierung daraus Schaden erwachse. Und wie unbedeutend dieser „Schaden” ist, im Vergleich zu dem Nutzen, der aus dem Ende der durch Silone zitierten geistigen Monopolstellung des Kommunismus für alle erwachsen würde I Für Oesterreich könnte das vielleicht eine letzte Möglichkeit sein, auf Grund einer fortdauernd erwiesenen Solidarität geachtetes und gern gesehenes Mitglied bei einer freien Partnerschaft von Staaten des Donauraumes zu werden …

Die Lehre der tragischen Vorgänge des Vorjahres wurde von FranęoiS Mauriac in einem Satz zusammengefaßt: Der Mensch widerstand dem System. Die Politiker — und zwar auf beiden Seiten — versagten, der Mensch, dieses unbekannte Wesen, gab Zeugenschaft von seiner Größe und von seiner Schwäche. Er wurde von seinen kommunistischen Führern offensichtlich nicht erfaßt. Es kommt nun ausschließlich auf die andere Partei an, ob er in seinem Wesen überhaupt erfaßt oder einer dann unvermeidlich weiter fortschreitenden langsamen oder raschen geistigen und seelischen Versteppung preisgegeben wird.

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