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Europa Ja oder Nein

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Nachdem das europäische Parlament in Straßburg dem Verhandlungsergebnis zugestimmt hat, ist das österreichische Wahlvolk aufgerufen, am 12. Juni über den Beitritt zu entscheiden. Pro und Kontra der Mitgliedschaft werden seit Wochen in den Medien behandelt, aber auch in der Bevölkerung eingehend diskutiert. Wer heute noch behauptet, er wäre in einem unverschuldeten Informationsnotstand, wird sich mit der Beweisführung schwertun.

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Nachdem das europäische Parlament in Straßburg dem Verhandlungsergebnis zugestimmt hat, ist das österreichische Wahlvolk aufgerufen, am 12. Juni über den Beitritt zu entscheiden. Pro und Kontra der Mitgliedschaft werden seit Wochen in den Medien behandelt, aber auch in der Bevölkerung eingehend diskutiert. Wer heute noch behauptet, er wäre in einem unverschuldeten Informationsnotstand, wird sich mit der Beweisführung schwertun.

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Daß die Regierung, die bekanntlich den Beitrittsantrag gestellt hat, im Vergleich zur Opposition über eine propagandistisch stärkere Stimme verfügt, ist demokratiepolitisch zu beklagen, ändert jedoch nichts an der Qualität der für und wider vorgebrachten Argumente.

Es gibt wirtschaftliche und -mindestens ebenso wichtige -politische Gründe, die für oder gegen die Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union sprechen, i

Import

Die Vorteile engerer Auslandsbeziehungen liegen auf der Hand: Durch erleichterte Importe kann der Konsument mit großen Preisvorteilen rechnen. So wird erwartet, daß Nahrungsmittel im Durchschnitt um 15 % billiger werden. Nach einer Studie der steirischen Landwirtschaftskammer kostet ein Kilo Mehl in Österreich derzeit S 14,50, in Deutschland S 4,90, ein Viertel Kilo Teebutter in Wien S 22,30, in München S 13,20, Preßschinken (25dkg) hierzulande S 32,30, in Bayern lediglich S 17,30. Die Preissenkungen werden vor allem für die Bezieher kleiner Einkommen von Bedeutung sein, da Nahrungsmittel in dieser Gruppe noch ein wichtiger Ausgabenfaktor sind. Aber auch Unterhaltungselektronik, Autos, Kleidung und medizinische Geräte werden billiger.

Export

Im Export würde die österreichische Wirtschaft bei einer EU-Mitgliedschaft wesentlich günstigere Bedingungen vorfinden. Derzeit befindet sie sich in einer Sandwich-Position. Sie steht im Wettbewerb zwischen dem hochtechnologischen Westen und den Billiglohn-Ländern mit niedrigen Umweltstandards im Osten. Um dieser Doppelmühle zu entrinnen, sind große Anstrengungen erforderlich, die in jedem Fall unternommen werden müssen, ob wir nun in der EU sind oder nicht. Die Voraussetzungen, daß diese Bemühungen zum Erfolg führen, sind jedoch wesentlich günstiger, wenn Osterreich Mitglied der Europäischen Union ist.

Dies ergibt sich unter anderem aus der besonderen Attraktivität einer Wirtschaftsunion für ausländische Investitionen. So mußte bereits in den letzten Jahren eine deutliche Zurückhaltung amerikanischer und ostasiatischer Investitionen in europäischen Ländern außerhalb der Brüsseler Gemeinschaft festgestellt werden. Und der Leiter des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitutes ist sogar der Überzeugung, daß im Falle der Ablehnung des Beitritts mit einem eher abrupten Abzug der direkten und Portfolio-Investitionen aus Österreich gerechnet werden muß.

Zulieferindustrie

Aber auch Unternehmen, die zum Ausland keine direkten Kontakte haben, ziehen aus der Integration Nutzen. Zahlreiche Klein-und Mittelbetriebe sind Zulieferer für die Exportindustrie. Ebenso begründen erfolgreiche Firmen durch gute Geschäfte mit dem Ausland den Wohlstand ganzer Regionen.

Beschaftigungspoutik

Daß die Nichtteilnahme an der europäischen Wirtschaftsintegration auch beschäftigungspolitisch bedenklich ist, hat der Schweizer Staatssekretär Blankart deutlich gemacht. Er sagte bei einem Vortrag in Luzern, „daß ein länger andauerndes Verharren der Schweiz in ihrer frei gewählten Isolation zu einer schleichenden Abwanderung der produktiven und innovativen Kräfte führt und damit letztlich die wirtschaftliche Substanz der Schweiz verringert. Arbeitsplätze, die einmal abgewandert sind, kehren nicht mehr zurück.” Man könnte zynisch hinzufügen, daß Unternehmer notfalls mit ihrer Produktion ins Ausland ausweichen können, Arbeitnehmer in der Regel nicht.

Forschung

Auch der unerläßliche Ausbau transnationaler Kooperation in Forschung und Entwicklung unter voller Inanspruchnahme der zahlreichen Brüsseler Programme der gemeinsamen Bildungs-, Forschungsund Technologiepolitik setzt die Mitgliedschaft voraus. Ebenso besteht die Gefahr des Ausgesperrtwerdens im nicht unwahrscheinlichen Fall von Überschüssen auf dem europäischen Markt. Schließlich muß die handelspolitisch schwache Stellung eines relativ kleinen Landes in Rechnung gestellt werden.

Kosten/Nutzen

Sicherlich würde auch die EU von den vier neuen Mitgliedern profitieren. Dabei spielen die Nettozahlungen der verhältnismäßig reichen Beitrittswerber eine gewisse, wenn auch oft überschätzte Rolle: Die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel und auch die Geberländer ziehen aus ihrer Mitgliedschaft keinen geringen Nutzen. Deutschland ist der bedeutendste Nettozahler der Union, hat dabei aber auch zahlreiche Export- und Investitionschancen gewonnen. Es wurde berechnet, daß der Beitritt Österreichs, Finnlands, Schwedens und Norwegens mit 26 Millionen Einwohnern das Wohlstandsniveau in der Union insgesamt um 2,2 % heben würde. Die neue Gemeinschaft von 16 Mitgliedern hätte dann ein höheres Bruttoinlandsprodukt als die Nordamerikanische Freihandelszone mit den USA, Kanada und Mexiko erreicht.

Schließlich würde die Erweiterung mittelfristig auch engere Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa ermöglichen. Schweden und Rnnland könnten ihre traditionellen Handelskontakte mit dem Baltikum in die EU einbringen, Österreich für Ungarn, Slowenien, Tschechien und die Slowakei eine Brücke nach Brüssel darstellen.

Wettbewerb

Allen diesen Chancen steht allerdings auch ein erhöhter Wettbewerbsdruck durch Unternehmen aus der Europäischen Union gegenüber, die erleichterten Zugang zu unserem Binnenmarkt haben werden, sobald Österreich Mitglied ist. Diese Herausforderung stellt sich dem Außenseiter zunächst nicht. Wer aber draußen bleibt, ist auch von den Möglichkeiten des großen Marktes durch viele Umstände (aufwendige Grenzkontrollen, Diskriminierung bei Drittlandswaren, die mit österreichischem Vormaterial hergestellt werden, und zahlreichen anderen Behinderungen) ausgeschlossen. Dadurch ginge mittelfristig die internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren, die bekanntlich die Grundlage unseres Wohlstandes ist.

Die Europäische Union ist eine politische Realität. Es wäre eine verhängnisvolle Illusion zu glauben, daß eine Integration unseres Kontinents außerhalb der Brüsseler Gemeinschaft auch nur vorstellbar wäre. Wenn dies aber so ist, kann über die europäischen Spielregeln und ihre Weiterentwicklung nur mitentscheiden, wer Mitglied ist. Nur dann ist auch eine Teilnahme am europäischen Friedenswerk denkbar, das jahrhundertealte Feindschaften im Herzen Europas begraben hat.

Wahrung der Interessen

Aber auch in Verfolgung seiner Einzelinteressen hat ein Staat als Mitglied der Union wesentlich bessere Möglichkeiten. Er kann seinen Standpunkt in den maßgebenden Gremien (Rat, Kommission, Gerichtshof, Europäisches Parlament) vertreten. Die Alternative, als Drittland mit Brüssel zu verhandeln, wäre - wie die „Neue Zürcher Zeitung” schreibt - „harte Knochenarbeit”, die letztlich kaum erfolgversprechend ist. Das zeigen die bisher völlig mißlungenen Versuche der Schweiz, hinsichtlich ihrer 16 bilateralen Anliegen mit Brüssel auch nur ins Gespräch zu kommen, nachdem die Eidgenossen im Dezember 1992 gegen die Annahme des EWR-Vertrages gestimmt haben. Ein Schweizer Parlamentarier brachte dieses Faktum auf einen einfachen Nenner: „Wir müssen in Europa mitwirken, um überhaupt noch wirken zu können.” Dazu kommt, daß die Europäische Union als Verhandlungspartner für Außenseiter extrem schwierig ist: Brüssel muß ständig bemüht sein, die oft sehr widersprüchlichen Interessen der Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auch ist es völlig unmöglich, von der Union eine Konzession zu erhalten, die sich die Mitglieder nicht untereinander zugestanden haben. Als besonders wichtiges Beispiel ist hier die supranationale Überwachung von Gemeinschaftsregeln zu nennen.

Nur die Mitgliedschaft sichert den Zutritt zu einem hochentwickelten Beziehungsnetz in Brüssel und den Hauptstädten der Europäischen Gemeinschaft. Eine erfahrene Lobby, der Zutritt zu den Verantwortungsträgern und die verläßliche Einschätzung realer Machtverhältnisse sind Voraussetzung für eine erfolgreiche Vertretung der nationalen Interessen durch ein erfahrenes Verhandlungsmanagement.

SlCHERHEITSPOUTIK

Die Außen- und Sicherheitspolitik der mittel- und westeuropäischen Länder erfordert im ausgehenden 20. Jahrhundert eine engere Abstimmung und darüber hinaus ein einheitliches Vorgehen in Kernfragen. Dazu zwingen die unsichere Lage in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die ethnischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der postkommunistischen Reformländer, die unlösbar scheinenden Schwierigkeiten der Dritten Welt, die Herausforderung durch den islamischen Fundamentalismus und die langfristigen politischen und ökonomischen Veränderungen im Fernen Osten.

Unter diesen Bedingungen ist auch - ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der österreichischen Interessen - der veränderte Stellenwert der Neutralität zu sehen. Welchen Schutz bietet sie vor Infiltration bei Konflikten in der Nachbarschaft, vor international organisiertem Verbrechen, vor Umweltkatastrophen etwa nach Unfällen in Kernkraftwerken? „Die Überzeugung vom hohen sicherheitspolitischen Wert der Neutralität gehört zum festen Bestandteil der Lebenslügen dieser Republik”, schrieb Lingens im „Standard” Anfang des Jahres. Und der Schweizer Bundesrat Delamuraz vergleicht die Neutralen mit Hauskatzen: Jeder streichelt sie, niemand will sie zum Feind. Wenn es brennt, kümmert sich keiner um sie.

Sicherlich ist die Europäische Union sowohl in ihrer gegenwärtigen Verfassung als auch in ihren Entwicklungsvorstellungen kein unproblematisches Gebilde. Die EU-Gegner weisen mit Recht auf das demokratiepolitische Defizit der Brüsseler Institutionen hin. Wer hier Abhilfe schaffen, das Europäische Parlament stärken, Kommission und Bürokratie besser kontrollieren und den Einfluß der Mitgliedsstaaten verringern möchte, kann dies nur innerhalb der Union tun. Wer draußen bleibt, verliert jede ernsthafte Mitgestaltungsmöglichkeit, ist aber von den Entscheidungen der EU im großen und kleinen unmittelbar oder indirekt betroffen. Dadurch verringern sich die Optionen der Außenseiter in erheblichem Maße.

Es wäre falsch, die europäischen Einigungsbestrebungen im Rahmen der Brüsseler Gemeinschaft ausschließlich nach wirtschaftlichen oder tagespolitischen Gegebenheiten zu beurteilen. Eine tiefere Sicht der Dinge führt zwangsläufig zu dem Ergebnis, daß wir in einer Zeit außergewöhnlich umfassender und rascher Veränderungen leben, die zu einer großen Orientierungsunsicherheit geführt haben. Tradierte Werte werden nicht mehr gelebt, neue haben sich noch nicht durchgesetzt. Neuzeitliche Hoffnungen, mit der Erforschung der Natur, mit den ungeheuren wissenschaftlichtechnisch-ökonomischen Eingriffsund Verfügungsmögiichkeiten seien zugleich humaner Fortschritt verbunden, erweisen sich zunehmend als naiv. Da aber die Zwangsordnung der Natur und alle darauf aufbauenden Traditionen und Ordnungen gesprengt worden sind, ist eine tiefe Orientierungsund Maßlosigkeit entstanden.

Zusammenfassung

Hier nach neuen Wegen zu suchen, ist die große Aufgabe Europas am Ende des 20. Jahrhunderts. Für die dazu notwendigen wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen und nicht zuletzt kulturellen Entwicklungen sind größere Gestaltungs- und Entwicklungsräume erforderlich als Nationalstaaten bieten können. Dabei ist die Gefahr einer neofeudalen Expertenbürokratie und der damit verbundenen Gleichgültigkeit der Bürger auch in der Europäischen Union durchaus gegeben. Um dem entgegenzuwirken, muß an einen mehrstufigen Aufbau im Sinne des Subsidiaritätsprinzips gearbeitet werden, der der nächstgrößeren Einheit nur jene Kompetenzen zuweist, die die untere Ebene überfordert. Aus dem ethischen Grund-verständnis muß der Mensch in praktizierter Solidarität der Mar-ginalisierung großer Gruppen von Menschen (Arbeitslose, Notleidende in der Dritten Welt und in Osteuropa) entgegenwirken. Hierin liegt eine Aufgabe jenseits von Angebot und Nachfrage, die nur in einer engen Zusammenarbeit aller europäischen Staaten gelöst werden kann. Der Kern dieser Kooperation aber ist die Europäische Union. Österreich ist aufgerufen, sich als Mitglied der EU dieser wirtschaftlichen, politischen und moralischen Herausforderung zu stellen.

Wirtschaftlich bietet der Beitritt optimale Entfaltungsmöglichkeiten, nicht zuletzt auch eine verstärkte internationale Arbeitsteilung, die Wettbewerbsregeln zum Nachteil für die Konsumenten und zu Lasten von Effizienzsteigerungen außer Kraft setzt.

Politisch wird durch die Mitgliedschaft verhindert, daß Österreich als Außenseiter institutionell wieder an den Rand gedrängt wird, nachdem es erst seit kurzem, nach dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus im Osten, seinen zentralen Platz in Europa wieder erlangt hat. „

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