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Neue Andockstelle?

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Selbst die glühendsten Europaideologen, die in den Europäischen Gemeinschaften den — noch — unvollendeten Bundesstaat sahen, müssen die Realität zur Kenntnis nehmen. Der Traum vom europäischen Reich ist für die nächste Zeit ausgeträumt. Die Europaföderalisten, die in der Wirtschaftsunion der ursprünglichen sechs, nun neun Staaten den Kern der Vereinigten Staaten von Europa, eine dritte Supermacht sahen, werden vom belgischen Ministerpräsidenten Tindemans, einem überzeugten Christdemokraten, und daher Europäer, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

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Selbst die glühendsten Europaideologen, die in den Europäischen Gemeinschaften den — noch — unvollendeten Bundesstaat sahen, müssen die Realität zur Kenntnis nehmen. Der Traum vom europäischen Reich ist für die nächste Zeit ausgeträumt. Die Europaföderalisten, die in der Wirtschaftsunion der ursprünglichen sechs, nun neun Staaten den Kern der Vereinigten Staaten von Europa, eine dritte Supermacht sahen, werden vom belgischen Ministerpräsidenten Tindemans, einem überzeugten Christdemokraten, und daher Europäer, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

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Als Beauftragter des Europäischen Rates, also der Staats- und Regierungschefs der neun Mitgliedsländer der Gemeinschaften, hat er ein ganzes Jahr die Möglichkeit der Weiterentwicklung der Europäischen Integration erkundet. Das Europäische Parlament, die Europäische Komis-sion In Brüssel, der Gerichtshof der Gemeinschaften in Luxemburg, sie alle haben ihre ausführlichen Stellungnahmen in schriftlichen Berichten vorgelegt. In umfangreichen Konferenzen mit den zuständigen Ministem in allen Mitgliedsstaaten hat Tindemans den Willen der Staaten ausgelotet, das Europa der Neun weiterzuentwickeln.

Das Fazit seiner Mission: der Europäische Gedanke lebt und ist kräftig. Ein geeintes Europa streben die Bürger Europas ebenso an, wie ihre Regierungen. Aber: ein Europäischer Bundesstaat ist nicht das nächste Ziel auf diesem Wege; die alte Europa-Doktrin ist tot, ein neuer Ansatz tut Not.

Die politische Macht der Europäischen Gemeinschaften wird wachsen, auch wenn die kohärenten Strukturen des Bundesstaates, und damit einfache Kriterien der Messung dieser Macht, fehlen.

Der problemlösungsorientierte Ansatz der Struktur der Europäischen Union, wie sie Tindemans vorschlägt, läßt aber für ein Land wie Österreich Möglichkeiten offen, die es zu nützen gilt. Da die europäischen Probleme nicht innerhalb von starren Strukturen und Institutionen zu lösen sind, sondern jeweils die Mittel dafür ad hoc bestimmt werden, und auch die Institutionen beauftragt werden sollen, ergibt sich für Österreich die Möglichkeit einer differenzierten und abgestuften Mitarbeit in einem ungleich stärkeren Maße als zuvor. Verbindet man diesen problemlö-sungsorientierten Ansatz mit der in Aussicht gestellten Möglichkeit der politischen Konsultation, das heißt also einer abgeschwächten Teilhabe an der europäischen politischen Zusammenarbeit, so ergibt sich daraus die Grundlage für eine neue Europapolitik unseres Landes. Daß es sich hier nicht nur um Hirngespinste oder Spekulationen handelt, kann aus Erfahrungen der letzten Jahre

belegt werden. Ein entsprechender problemlösungsorientierter Ansatz außerhalb der Institutionen der Gemeinschaft wurde ja bereits in mehrfacher Hinsicht exerziert. Ein Musterbeispiel hiezu bildet die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Technik (COST), die in formloser Weise beim Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft angesiedelt ist und an der auch Neutrale ebenso teilnehmen wie Jugoslawien und andere Staaten Zentraleuropas. Im Rahmen dieser formlosen Zusammenarbeit wurde eine neue internationale Organisation gegründet, die sich mit der mittelfristigen Wettervorhersage befaßt, und der auch Österreich angehört. Hier wurde klar vorgezeichnet, daß auf jenen Gebieten, an denen auch Nichtmitgliedsländer interessiert sind, und die nicht den politischen Kern der Gemeinschaft berühren, eine gemeinsame Politik verfolgt werden kann.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist zu berücksichtigen: der Europarat wurde im Tindemans-Bericht mit keiner Zeile erwähnt. Der Eingeweihte liest aber zwischen den Zeilen: durch die Ausdehnung der Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der oben angeführten Zielsetzungen wird eine weitgehende Substitution des Europarates erreicht, der bisher ein gewisses Monopol auf dem Gebiet des Umweltschutzes, der Rechtsvereinheitlichung und der Bildungspolitik hatte. Alle diese Aktivitäten, ebenso wie ein Menschenrechtschutz, sollen nun im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften betrieben werden. Verbindet man nun damit die Betrachtung, daß die Gemeinschaft der Neun bald eine Gemeinschaft der Vierzehn sein wird, daß auch Norwegen und Schweden früher oder später zu den Beitrittskandidaten gehören, so ergibt sich nahezu Deckungsgleichheit auf dem Gebiet der Mitgliedschaft und völlig auf dem Gebiet der Aktivitäten. Stellt man auch in Rechnung, daß das Europäische Parlament in Bälde direkt gewählt sein wird, eine entsprechende Struktur für die parlamentarische Versammlung des Europarates aber nicht in Aussicht steht, so bleibt zu erwarten, daß auch die parlamenta-

rische Versammlung des Europarates in den Hintergrund gedrängt wird. Damit wird aber der letzte Stützpunkt der derzeitigen Europapolitik Österreichs, der Europarat, unsicher.

Der ausgedehnteren Aktivität der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Außenbeziehungen, verbunden mit einer größeren Mitgliedschaft, wird auch die österreichische Diplomatie in den internationalen Organisationen, der wir ja große Bedeutung beimessen, erschweren. In all diesen Organisationen bestehen regionale Blöcke, wobei der europäische Block sicherlich im Rahmen der politischen Zusammenarbeit der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaften koordiniert werden wird.

Es scheint also unumgänglich zu sein, daß auf der Basis des Berichts von Ministerpräsident Tindemans und der definitiv gefaßten Beschlüsse des Europäischen Rates die österreichische Europapolitik neu definiert, die Ziele dieser Politik neu umrissen werden. Grundsätzliche Weichenstellungen sind dabei vorzunehmen: Will man an der bereits

jetzt bewußt oder unbewußt vorangetriebenen Ersatzlösung festhalten, die Europapolitik durch eine universale Weltpolitik im Rahmen der UN zu ersetzen, wobei ein Anschluß an das neutralistische Lager, die Grupr pe der 77 im Vordergrund steht, oder unternimmt man das Unterfangen, die lockeren äußeren Formen der politischen Union, wie sie skizziert sind, dazu zu verwenden, um hier eine Andockstelle zu finden?

Die Möglichkeiten scheinen vorhanden zu sein: hier gilt es nun, die Grundentscheidungen zu treffen, und

auch das politische Feld so zu bereiten, daß die freie Handlungsmöglichkeit Österreichs gewährleistet ist. Konkret gesprochen, bedeutet dies, daß auch die Ostpolitik, vor allem aber die österreichischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, deren Nachfolgekonferenz nächstes Jahr in Belgrad stattfindet, weiter ausgebaut werden. Eine Doppelstrategie tut not: Weiterer Ausbau der Ost-Politik, um an der europäischen Union besser zu partizipieren.

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