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Grenzüberschreitende Zu sammenarbeit wurde Wirklichkeit

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Bis vor einem halben Jahrhundert, in der Zeit des traditionellen Völkerrechts, waren die souveränen Staaten die fast ausschließlichen Träger der internationalen Beziehungen. Mit dem Völkerbund begann die Aera der Internationalen Organisationen. Diese haben nach 1945, unter der Ägide der Vereinten Nationen, eine unvorstellbare Entwicklung genommen. Aus Staatenbündnissen hervorgegangen, haben sie so viel an Eigenleben gewonnen, daß ihr Ursprung leicht in Vergessenheit gerät; ihr Aktionsfeld wird sachlich und räumlich immer umfassender, mit dem Effekt, daß heute ein wesentlicher Teil der internationalen Beziehungen über sie läuft.

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Bis vor einem halben Jahrhundert, in der Zeit des traditionellen Völkerrechts, waren die souveränen Staaten die fast ausschließlichen Träger der internationalen Beziehungen. Mit dem Völkerbund begann die Aera der Internationalen Organisationen. Diese haben nach 1945, unter der Ägide der Vereinten Nationen, eine unvorstellbare Entwicklung genommen. Aus Staatenbündnissen hervorgegangen, haben sie so viel an Eigenleben gewonnen, daß ihr Ursprung leicht in Vergessenheit gerät; ihr Aktionsfeld wird sachlich und räumlich immer umfassender, mit dem Effekt, daß heute ein wesentlicher Teil der internationalen Beziehungen über sie läuft.

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Einzelne von ihnen sind Regionalorganisationen nach Art. 52 der Satzung der Vereinten Nationen (Europarat, Organisation Amerikanischer Staaten).

Neben einem weiten Tätigkeitsbereich sollen diese, im Sinn der zitierten Satzungsbestimmung, vor allem auch der friedlichen Streitbeilegung dienen. Bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurden von vornherein die Grundlagen zu einer noch weitergehenderen Emanzipation gelegt. Sie hat den Charakter einer supranationalen Gemeinschaft angenommen.

Aber auch auf anderen Ebenen sind neue Formen von internationalen Beziehungen entstanden: Ich verweise auf die bi- und multilaterale „Außenpolitik“ der politischen Parteien, der Verbände und der Konzerne (vor allem der sogenannten „Multis“). Alle diese Tendenzen sind ausreichend bekannt. Sie sollen hier nur noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Die Staaten und deren Regierungen besit- zen jedenfalls nicht mehr das Monopol der auswärtigen Beziehungen.

Seit den sechziger Jahren sind wir in Europa mit einem neuen Phänomen konfrontiert, mit der Entstehung von grenzüberschreitenden oder transnationalen Regionen. Ausgangspunkt der Entwicklung war die Erkenntnis, daß eine Reihe von Problemen dies- und jenseits der Grenzen gleichgelagert ist und teils zweckmäßiger, teils überhaupt sinnvoll, nur in Zusammenarbeit, über die Grenzen hinweg gelöst werden kann, eine Zusammenarbeit, die sich auf der Ebene der unmittelbar betroffenen Einheiten oft leichter und harmonischer, jedenfalls menschennäher und, wenn man will, auch demokratischer gestalten läßt, als auf der Ebene der übergeordneten Staaten und ihrer - nicht nur geographisch - vielfach weit „entfernteren“ Regierungen. Damit hat das Subsidiaritätsdenken die Staatsgrenzen überschritten. Das vorhin Gesagte gilt vor allem für Fragen der Verkehrsverbindungen, der Raumplanung, des Umweltschutzes. Aber auch die Tatsache, daß die Staatsgrenzen in Europa weit gehend ehemaligen dynastischen, machtpolitischen, strategischen odertrotz ihrer historischen Erklärbarkeit - heute manchmal zufällig anmutenden Kriterien folgen, machte sich bemerkbar: Nicht selten zerrissen diese Grenzziehungen natürliche Wirtschaftsräume oder einheitliche Volksgruppen. Daraus resultierte das Bestreben, die verlorengegangene Wirtschaftseinheit wieder herzustellen oder auch die kulturellen Kontakte mit den Angehörigen der eigenen Volksgruppe jenseits der Grenze wieder anzuknüpfen.

Der Begriff der transnationalen Region gehorcht keiner einheitlichen Definition. Sie kann als der Zusammenschluß über die Grenzen hinweg von benachbarten Gebietskörperschaften auf der mittleren Ebene unterhalb des Staats, zur gemeinsamen Lösung gleichgelagerter Probleme, umschrieben werden. Alle Elemente dieser Beschreibung weisen eine große Bandbreite auf. So sind schon die Partner der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit keineswegs homogene Einheiten, und damit nach der Verfassung der Staaten, zu denen sie gehören, mit einer verschiedenen Kompetenzfülle ausgestattet: österreichische Bundesländer, deutsche Länder, schweizerische Kantone, italienische Regionen mit Normal- und mit Sonderstatut, französische Departments, belgische oder niederländische Provinzen, jugoslawische Teilrepubliken …

Durchwegs handelt es sich aber um Gebietskörperschaften auf der mittleren Ebene. Die in Vorbereitung befindlichen oder auch schon funktio-

nierenden Kooperationen auf der lokalen Ebene, also zwischen Grenzgemeinden, verfolgen andere Ziele: Diese gehen von der gemeinsam errichteten und erhaltenen Grenzbrücke bis zur gemeinsam betriebenen Mülldeponie, Autobuslinie, Sportstätte, und schließen das Gemeinschaftskrankenhaus oder das gemeinsame Kulturzentrum mit ein. Kooperationen dieser Art florieren vor allem an der deutsch-schweizerischen, der französisch-schweizerischen, der deutsch-französischen, der deutsch-belgischen und der deutsch-niederländischen Grenze, zwischen Grenzgemeinden der BE- NELUX-Staaten und der Nordischen Staaten.

Wegen der limitierten, im wesentlichen auf die gemeinsame Erledigung vornehmlich kommunaler Aufgaben beschränkten Zielsetzung, bilden sie grenzüberschreitende Zweckverbände aber keine transnationale Region im hier dargestellten Sinn. Das ist keine Abwertung, sondern nur eine aus sachlichen Gründen gebotene Differenzierung. Gewiß mögen die Übergänge fließend sein: so ist etwa die Regio Geneviensis (Kanton Genf, Departements Ain und Haute-Savoie) strukturmäßig zwischen einem regionalen und einem lokalen Kooperationsprojekt einzustufen. Ähnliches gilt für die Interessengemeinschaft Mittlerer Elsaß-Breisgau, mit Sitz in Colmar.

Aber auch der „Zusammenschluß“ kann von verschiedener Intensität sein: Gelegentliche Absprachen in einzelnen Fachbereichen oder gar nur die Abstimmung einzelner konkreter Maßnahmen, so wertvoll sie auch sein mögen, machen noch keine grenzüberschreitende Regionalpolitik aus. Von einer solchen kann man erst dann sprechen, wenn weite Bereiche von Tätigkeiten, deren Vornahme in die Zuständigkeit der Gebietskörperschaften der mittleren Ebene fallt,

oder deren Gestaltung seitens der Zentralregierungen von den Organen dieser mittleren Ebene zumindest beeinflußt werden kann, kontinuierlich koordiniert werden, wozu dann ein Minimum an Institutionalisierung unerläßlich ist.

Die Entstehung transnationaler Regionen geht im allgemeinen auf die Initiative weitblickender Landespolitiker zurück. So ist etwa die 1972 erfolgte Gründung der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (ARGE ALP), welche die Bundesländer Tirol, Vorarlberg und Salzburg, den Freistaat Bayern, die autonomen Provinzen Bozen und Trient, die Region Lombardei und den Kanton Graubünden umfaßt (letztlich hat auch der Kanton St. Gallen Beitrittsinteressen bekundet), und sich vornehmlich den drei Themen:

Verkehr, Berggebiete, Kultur, widmet, ein Verdienst des Tiroler Landeshauptmannes Wallnöfer. Die ARGE ALP besitzt keine juristisch einzuordnende Rechtsform. Sie stellt vielmehr ein Gentlemen’s Agreement, vornehmlich getragen vom Kooperationswillen der beteiligten Länderregierungschefs, dar. Ihre Geschäfte werden vom Amt der Tiroler Landesregierung (mit)geführt. Allgemein sind die transnationalen Regionen bemüht, mit einem möglichst kleinen Apparat auszukommen, und, das nicht nur aus begrüßenswerter Sparsamkeit, sondern auch im bewußten Gegensatz zur Hypertrophie der nationalen und der internationalen (EWG-Behörden!) Verwaltung.

Im Kernbereich der ARGE ALP gibt es eine Reihe noch engerer Kooperationen: Der auf dem Pariser Abkommen fußende, unter der Patronanz der österreichischen und der italienischen

Regierung stehende „Accordino“, der die Erleichterung des Warenverkehrs zwischen Tirol und Vorarlberg einerseits und den autonomen Provinzen Bozen und Trient anderseits, zum Gegenstand hat und somit eine wirtschaftliche Einheit Gesamttirols (zuzüglich Vorarlberg) im beschränkten Umfang wiederherstellt. Eine Tiroler Besonderheit bildet ferner das auf Absprachen der Landeshauptleute Wall- nöfer und Magnago zurückgehende Kontaktkommitee Nord-Südtirol. Dieses hat sich von Anfang an nicht nur als Forum einer gesamttirolischen Willensbildung „nach außen“, sondern auch als Einrichtung sachlicher Regionalpolitik verstanden. In den seit 1970 jährlich stattfmdenden gemeinsamen Sitzungen der Landtage von Innsbruck und von Bozen, hat das Kontaktkommitee eine Art von demokratischer Grundlage erhalten.

Die Regio Basiliensis hingegen (Basel-Stadt und Basel-Land, Südbaden, Dėpartement Haut Rhin) ist formell ein Verein schweizerischen Rechts mit ordentlichen Organen und mit dem Sitz in Basel. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt im Bereich der Raumplanung, allerdings im weitesten Sinn des Wortes.

Ansätze zu einer interessanten Kooperation zeigten sich im Ost- alpen-Adria-Raum (Bundesländer Kärnten und Steiermark, Region Friaul-Julisch Venetien, Teilrepubliken Slowenien und Kroatien).

Aus zweierlei Gründen war dieses Kooperationsprojekt von besonderem .Interesse: weil hier erstmalig versucht wurde, die Grenzen zwischen Demokratien westlicher und solchen östlicher Prägung zu überspringen; ferner weil das gesamte Gebiet der Region mit Minderheitenproblemen belastet ist. Den daraus resultierenden Spannungen war der vorgesehene Rahmen aber nicht gewachsen: Der zwischen Jugoslawien und Österreich ausgebrochene Konflikt um das Kärntner Minderheitenproblem hat diese Initiative wieder erschlaffen lassen. Vielleicht ist der zweite Anlauf, die in Vorbereitung begriffene Bildung einer ARGE ALP-OST, an der - neben den vorhin genannten Gebieten - auch das Land Salzburg und der Freistaat Bayern reges Interesse bekunden, erfolgreicher.

Mit dem Problem der transnationalen Region als einer neuen Form der Kooperation und Integration im europäischen Raum befassen sich seit vielen Jahren sowohl der Europarat als auch die EWG. Dabei sind sie vor allem bemüht, eine geeignete Rechtsform und Organisationsmodelle zu entwik- keln.

Die EWG sieht die transnationale Region als einen Aspekt der von ihr betriebenen Regionalpolitik zum Ausgleich regionaler Entwicklungsunterschiede, die vielfach gerade in Grenzräumen besondern augenscheinlich sind. Als Organisationsform für die transnationale Region schwebt ihr der EUROVERBAND, eine im Gemeinschaftsrecht verankerte öffentlich- rechtliche Körperschaft, vor.

Im Europarat sind mehrere Gremien mit dem Problem der transnationalen Region befaßt: Die Konsultativversammlung, die Europäische Raumordnungsministerkonferenz, die Europäische Konferenz der Minister für Gemeindeangelegenheiten und schließlich das Ministerkommitee als das Regierungsorgan des Europarats, und gleichzeitiger Sprecher der Zentralregierungen der Mitgliedstaaten. Auf Grund von Initiativen der zuerst genannten Gremien wird das Ministerkomitee voraussichtlich noch gegen Ende dieses Jahres eine Rahmenkonvention über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Regionen und Gemeinden zur Unterzeichnung auflegen.

Damit sind wir beim kritischen Punkt angelangt: Die europäischen Staatėn und deren Zentralregierungen verfolgen die Entwicklung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf der regionalen Ebene mit Argwohn, soweit sie nicht unter staatlicher Oberaufsicht steht. Auf dieser Linie liegt auch die Rahmenkonvention des Europarats. Mit diesem Instrument wollen die europäischen Staaten die grenzüberschreitende Kooperation nicht nur fördern, sondern offensichtlich auch in den Griff bekommen. Lediglich für die grenzüberschreitende Kooperation auf der kommun Eilen Ebene sehen die Konvention und ihre Anlagen freiere Gestaltungsmöglichkeiten vor (das Kontrollrecht der zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden bleibt aber auch hier ausdrücklich gewahrt).

Mit dem Schritt, den der Europarat sich hier zu tun anschickt, hinkt er der tatsächlichen Entwicklung (Beispiel ARGE ALP!) weit nach. Trotzdem ist er zu begrüßen: Die breite Diskussion des Problems in den verschiedensten Gremien des Europarats hat bewirkt, daß die an den europäischen Grenzen spontan entstEmdenen Bewegungen im Eillgemeinen Bewußtsein verankert wurden und seitens der europäischen Staaten offiziell zur Kenntnis genommen werden. Die grenzüberschreitende regionale und kommunale Zusammenarbeit ist in Europa jedenfalls zu einer Wirklichkeit geworden, die in den kommenden Jsihrzehnten noch an Bedeutung gewinnen wird. In dem Maß, in dem die Bevölkerung dies- und jenseits der Grenzen die ethnischen, sozialen und ökonomischen Gemeinsamkeiten erkennt und pflegt, wird der defensive Charakter, wird die Sperrwirkung der Grenzen zunehmend schwinden, und die durch die Grenzziehungen mancherorts geschlagenen Wunden werden vernarben. Von der Vision einer europäischen Regionalisierung, welche die traditionellen Staatsformen sukzessive überflüssig machen, oder zumindest in den Hintergrund drängen würde, sind wir allerdings weit entfernt, zumEil die transnationEilen Regionen in erster Linie Subsidiär- und Komplementärfunktionen anpeilen. In diesem Sinn stellen sie für das politische Leben Europas aber eine echte Bereicherung dar.

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