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Europas soziale Dimensionen

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Die EU hat längst erkannt, daß ohne sozialen Ausgleich die Akzeptanz der Bürger für die wirtschaftliche Integration schwinden wird.

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Die EU hat längst erkannt, daß ohne sozialen Ausgleich die Akzeptanz der Bürger für die wirtschaftliche Integration schwinden wird.

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Je mehr sich der europäische Binnenmarkt seiner Vollendung nähert, desto mehr rückt eine Frage in den Mittelpunkt des Interesses, die lange Jahre für viele nur nachgeordnete Bedeutung hatte: Welchen Einfluß hat die Europäische Union auf die sozialen Errungenschaften, angefangen von der Bewältigung von Notfällen (Arbeitslosengeld, Krankenversicherung ...) bis hin zur Sicherheit des Lebensabends (Pensionsvorsorge ...). Auch in Osterreich weckt dieses Thema Emotionen, herrschen Unsicherheit und Skepsis. Kein Wunder, haben doch die EU-Gegner besonders gern mit den Angstparolen vom „Sozialabbau” und „Sozialdumping” gearbeitet. Das gipfelte in Horrorszenarien der Marke „Brüssel wird unser hohes Niveau auf das der Portugiesen herunterharmonisieren” oder „Billige Arbeitskräfte aus Südeuropa nehmen uns die Arbeitsplätze weg”.

Dabei weiß man auch in Brüssel längst, daß ohne soziale Ausgleichsmaßnahmen die Akzeptanz für die wirtschaftlichen Integrationsbemühungen schwinden wird. Die Schwierigkeit dabei ist, daß sich die Sozialpolitik (Lohnniveau, Arbeitszeit, Systeme der sozialen Sicherung, Tarifpolitik, Bolle der Sozialpartner, Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer...) in den einzelnen Ländern verschieden entwickelt hat und daher schwer auf einen Nenner zu bringen ist.

Ein Vertragsziel

In der Gründungsphase der EG ging es natürlich zunächst einmal darum, die wirtschaftliche Potenz der Gemeinschaft zu steigern. Denn wer nichts erwirtschaftet, kann bekanntlich auch keine angemessene Sozialpolitik finanzieren. So wird zwar „sozialer Fortschritt” in den Gründungsverträgen als eines der Vertragsziele genannt; nach damaliger Auffassung sollte aber nur dort angesetzt werden, wo es um die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen oder den Ausgleich marktbedingter Fehlentwicklungen ging. Ein darüber hinausgehendes sozial- und arbeitsmarktpolitisches Konzept war noch nicht vorgesehen.

Erst in den siebziger Jahren regte die Kommission eine Beihe von sozialpolitischen Bichtlinien an, die vom Ministerrat nach dem Einstimmigkeitsprinzip verabschiedet wurden; die Einheitliche Europäische Akte brachte 1987 weitergehende sozialpolitische Regulierangsmöglichkei-ten (zum Beispiel Mindestbedingun-gen für Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer). 1989 verabschiedete der Europäische Bat - ohne Mitwirkung Großbritanniens - die „Sozialcharta” als eine Absichtserklärung. Sie führte zum „Aktionsprogramm', das Einzelvorhaben in 47 Bereichen vorsieht. Deren Umsetzung soll einen Grundbestand von sozialrechtlichen Normen schaffen, um neben der wirtschaftlichen auch die sozialen Effekte der Integration zu wahren.

Das Vertragswerk von Maastricht brachte 1992 den nächsten Schub mit neuen Rechtsgrundlagen für die Sozialintegration. So gibt es zum Vertrag ein „Protokoll” über die Sozialpolitik. Dieses legt fest, daß elf von zwölf Mitgliedstaaten (ohne Großbritannien) die Institutionen der EG für sozialpolitische Begelungen in Anspruch nehmen können. Mit qualifizierter Mehrheitsentscheidung -also ohne das Vetorecht eines einzelnen Staates - werden künftig Beschlüsse auf folgenden Gebieten gefaßt: Verbesserung des Arbeitsumfeldes, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, Arbeitsbedingungen, Informationsund Konsultationsrecht der Arbeitnehmer, Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie Wiedereingliederung von Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Nur in hochsensiblen Bereichen wie etwa Arbeitsbedingungen für Beschäftigte aus Drittländern, die Finanzierung von Förderungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt die Einstimmigkeit der elf Unterzeichner erforderlich.

Diese neuen Bestimmungen sind, wie die Sozialcharta, von wichtigen gesellschaftspolitischen Grundsätzen der Europäischen Union bestimmt. Die beiden wichtigsten sind „Solidarität” und „Subsidiarität”.

1. Solidarität: die reicheren sollen den ärmeren Begionen und Mitgliedstaaten helfen, um eine ausgewogene Entwicklung zu fördern. Es geht dabei nicht um bloße Transferleistungen, sondern verschiedene

Fonds leisten Hilfe zur Selbsthilfe bei der nationalen Struktur- und Wirtschaftspolitik. Das sind vor allem der Europäische Sozialfonds, der Regio-nalfonds sowie der in Maastricht beschlossene Kohäsionsfonds. Da es aber unterschiedliche nationale Traditionen gibt - die nicht nivelliert werden sollen, weil das der Erhaltung der Vielfalt widersprechen würde - wird noch ein Prinzip betont:

2. Subsidiarität: es besagt, Selbstverantwortung hat Vorrang vor Eingriffen „von oben”. Dementsprechend haben etwa auch die nationalen Sozialpartner Vorfahrt gegenüber staatlichen Regelungen. Auch Sozialleistungsan-sprüche, die auf die jeweiligen Lebensverhältnisse zugeschnitten sind, werden demzufolge nach nationalen Begelungen bemessen.

Ein weiterer, dritter Grundsatz europäischer Sozialpolitik ist das Konzept verbindlicher sozialer „Mindeststandards”. Diese sind nicht am unteren Ende des Möglichen angesiedelt. Sie sollen die Ärmeren nicht überfordern, es aber leistungsfähigen Volkswirtschaften auch erlauben, höhere Sozialleistungsniveaus beizubehalten. Solche Mindeststandards sollen verhindern, daß einzelne Länder über die Verschlechterung von sozialen Errungenschaften Wettbewerbsvorteile herausschlagen.

Hinter den Bemühungen der EU um die „soziale Dimension” steht aber auch Grundsätzlicheres, nämlich das Ringen zwischen „Wettbewerbs”- und „Harmonisierungmodell”. Im Grunde geht es darum, eine ordnungspolitische Entscheidung, die ursprünglich für den direkten Wirtschaftsverkehr galt, auch auf die Sozialpolitik zu übertragen.

„Harmonisierung” heißt: es werden einheitliche Richtlinien vorgesehen, zum Beispiel für die Qualität der Waren, die im Binnenmarkt vertrieben werden dürfen.

„Wettbewerb” heißt: Jeder Staat trägt selbst die Veranwortung dafür, was an Waren auf den Markt gebracht werden kann. Und was in einem Land angeboten werden darf, kann auch in den anderen Ländern angeboten werden. Es ist dann letztlich Sache des Käufers, sich Qualitätsstandards zurechtzulegen. Er kauft, oder er kauft nicht.

In ganz Europa findet also ein „Wettbewerb” zwischen verschiedenen Konzeptionen der Qualitätssicherung statt. Begrenzt wird er nur durch zwingende Bedingungen wie Gesundheits- und Umweltschutz.

Verschiedene Akzente

In die Sozialpolitik übersetzt heißt das: Entweder man legt den Akzent auf gemeinschaftsweit verbindliche Standards, die in Brüssel festgelegt werden. Dann verhindert man zwar Wettbewerbsverzerrungen, die entstehen, wenn ein Land beispielsweise seine Sozialstandards aufweicht, um damit Betriebe anzulocken. Der Nachteil dabei: wenn diese Standards hoch liegen, kommen einerseits schwächere Volkswirtschaften unter die Bäder, andererseits verlieren in „fortschrittlicheren” Ländern die Bürger soziale Errungenschaften.

Oder man läßt den Staaten die Freiheit, ihre Sozialsysteme zu gestalten. Das bedeutet mehr Verschiedenartigkeit, weniger „Zentralismus”, aber die Staaten könnten dann sozialpolitische Knausrigkeit als Waffe im Wettbewerb einsetzen („Sozialdumping”).

Integration ist also, wie man sieht, kein Patentrezept. Sie kann so oder so betrieben werden. Sie macht auch politische Verantwortung nicht überflüssig, sondern stellt Politik und Bürger immer wieder vor die Entscheidung: nach welchen Vorstellungen soll das Verhältnis von Wirtschaft und Politik, von Solidariät und Subsidiarität, von Freiheit und Gemeinsinn geordnet werden.

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