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Digital In Arbeit

Neue Bruchlinien

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Der Wohlfahrtsstaat muß reformiert werden. Das geht aber nur mit der Hilfe starker Gewerkschaften, die den Ernst der Lage auch klar machen.

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Der Wohlfahrtsstaat muß reformiert werden. Das geht aber nur mit der Hilfe starker Gewerkschaften, die den Ernst der Lage auch klar machen.

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Auch die Gewerkschaften haben sich am Ende dieses Jahrhunderts neuen Herausforderungen zu stellen, die sich aus veränderten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ergeben. Sie stehen vor Aufgaben, die mit den tradierten Vorstellungen und Verhaltensmustern kaum zu bewältigen sind. Dabei spielen von der Vergangenheit abweichende Lebensbedingungen, Vorstellungen und Intentionen des modernen Menschen, Konsequenzen der internationalen Arbeitsteilung und die längst überschrittenen Grenzen vernünftiger staatlicher Ausgabenpolitik die ausschlaggebende Rolle.

Die alten Gegensätze zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer treten gegenüber neuentstandenen gesellschaftlichen Bruchlinien in den Hintergrund: Sie verlaufen zwischen dem geschützten und ungeschützten Sek1 tor (dem Beamten in einer Landesregierung und dem Ingenieur einer vom Weltmarkt abhängigen Papierfabrik), zwischen jung und alt, zwischen dem gutverdienenden Fixangestellten und dem schwer vermittelbaren Arbeitslosen, zwischen dem umweltgeschädigten Bürger und dem Arbeiter, der sein Brot in einem die Umwelt schädigenden, kaum mehr wettbewerbsfähigen Betrieb verdient. Auf welche Seite sollen sich die Gewerkschaften stellen?

Die Liberalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen (unverzichtbare Voraussetzung für den Wohlstand in unserem Land) und die Spezialisierung der Arbeit (unvermeidbare Folge der technischen Entwicklung) haben die Gewerkschaften in eine schwierige Position geführt.

Auf der einen Seite wird die Bewegungsfreiheit zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Anliegen in den führenden Industrienationen angesichts der wachsenden Konkurrenz aus den Reformstaaten Mittelosteuropas, den fernöstlichen Schwellenländern und auch durch drohendes Sozialdumping aus den Niedriglohnländern der EU zusehends geringer. Dadurch geraten die Gewerkschaften in den wirtschaftlich besser gestellten Ländern in die Defensive. Sie haben sich jetzt in Deutschland und anderswo - abgesehen von der erwarteten Zurückhaltung bei Lohnforderungen ~ mit einer Verlängerung der täglichen Arbeitszeit und damit mit dem Wegfall von Überstundenzuschlägen, der Einrechnung von Kuraufenthalten in den Urlaub, strengeren Bestimmungen für Arbeitslose, der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten und der Abschaffung bezahlter Feiertage auseinanderzusetzen.

Es mag für viele europäische Ohren unsympathisch, ja provokant klingen, wenn bei Gewerkschaftskongressen in den Ländern des Fernen Ostens wie Singapur weniger von den Rechten der Arbeitnehmer und mehr von der Notwendigkeit von guten Leistungen, konkurrenzfähigen Preisen, Produktivitätszuwachs und Senkung von Lohnkosten gesprochen wird. Maßgebend ist, daß Europa mit dem Angebot aus diesen Ländern in einem weltweiten Wettbewerb steht.

Auf der anderen Seite wird der Gewerkschaftseinfluß durch geringere Durchsetzungsmöglichkeiten gegen -über internationalen Konzernen geschwächt, die bei Schwierigkeiten an andere Standorte ausweichen können. Bei mittelständischen Unternehmen, die zu Hause bleiben müssen, ist dagegen der Organisationsgrad der Arbeitnehmer traditionell geringer.

Auch der Trend zu Schreibtischberufen, die gewerkschaftlichen Anliegen im allgemeinen weniger aufgeschlossen gegenüberstehen als Arbeiter an der Werkbank, muß berücksichtigt werden. Schließlich fördert der rasche wirtschaftliche Wandel die Dezentralisierung bei Kollektivverhandlungen, da der Konzessionsspielraum der Unternehmer von Branche zu Branche und von Betrieb zu Betrieb immer unterschiedlicher wird. Während beispielsweise die deutsche IG-Metall noch für drei Millionen Beschäftigte spricht, ist etwa in Schweden, Australien, Frankreich, Italien und Neuseeland eine deutliche Tendenz zu getrennten Verhandlungen stark aufgegliederter Fachgewerkschaften festzustellen.

Von ganz entscheidender Bedeutung für die Stellung der Gewerkschaften ist die Erkenntnis, daß der Anspruchs- und Versorgungsstaat durch die ihm inhärente Eigendynamik in eine Sackgasse führt. Es liegt auf der Hand, daß eine Sozialreform nur von starken Gewerkschaften mitgetragen werden kann, die es verstehen, ihren Mitgliedern den Ernst der Lage klarzumachen, wie auch den Kontrahenten in Regierung und Sozialpartnerschaft das gerade noch Mögliche abzuringen. Die Gesprächspartner der Arbeitnehmer sind deshalb gut beraten, eine starke Gewerkschaft als wichtige Voraussetzung für sozialen Frieden und eine erfolgversprechende Wirtschaftspolitik zu sehen.

Angesichts der aufgezeigten Entwicklungen müssen die Gewerkschaften manche ihrer Positionen überdenken. Allerdings ist hier die Versuchung groß, sich im Bewußtsein ihrer historischen Stärke („Alle Räder stehen still...”) gegen die normative Kraft des Faktischen zu stellen.

Sicherlich wäre es zunächst bequemer, zur starren Verteidigung „wohlerworbener Rechte” Emotionen zu schüren und sich dadurch vermeintliche Rückenstärkung zu verschaffen. Die Rechnung für eine solche- zweifellos kurzsichtige - Vorgangsweise würde allerdings spätestens dann präsentiert werden, wenn die der eigenen Anhängerschaft als verteidigbar bezeichneten und durch forsche Erklärungen in der Öffentlichkeit zementierten Positionen infolge wirtschaftlicher Sachzwänge nicht mehr gehalten werden können.

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